Die Krise in China wird den langsamen Aufschwung in Europa nicht stoppen, sagt Yves Nosbusch

Nicht dramatisch

d'Lëtzebuerger Land du 28.08.2015

Herr Nosbusch, es ist August und an den Börsen ist der Teufel los. Am Montag haben Dow Jones Industrial Index 4,8 Prozent, der Eurostoxx 50 4,2 Prozent und der FTSE 100 4,7 Prozent verloren. Es war ein „schwarzer Montag“, auch wenn sich die europäischen und die amerikanischen Börsen am Dienstag wieder erholt haben. Ursache waren die Kursverluste in China, der Shanghai Component Index verlor 8,5 Prozent. Was ist passiert?

Auslöser der Reaktion an den Börsen war die Entscheidung der chinesischen Autoritäten, ihre Währung abzuwerten. Das war eine Überraschung für viele Marktteilnehmer.

Weshalb hat China abgewertet?

Das weiß man außerhalb Chinas nicht sicher. Es gibt verschiedene Hypothesen. Langfristig betrachtet, ist es ein Schritt in Richtung einer flexibleren Währung, die sich an den Marktbedingungen orientiert. Das wäre die Voraussetzung dafür, dass die chinesische Währung in den Korb der Währungen aufgenommen wird, aus denen sich die Special drawing rights, die Währung des Internationalen Währungsfonds, zusammensetzt. Davon abgesehen, war die chinesische Währung im Vergleich zu anderen asiatischen Währungen lange Zeit überbewertet, wenn man die wirtschaftliche Lage betrachtet. Deshalb ergibt eine Abwertung durchaus einen Sinn.

Sie sehen das, anders als die Börsenhändler, nicht besonders dramatisch.

Die Abwertung ist nicht dramatisch, nicht in ihrem Ausmaß (die Bandbreite, in dem sich der Renminbi im Verhältnis zum Dollar bewegen kann, wurde um 1,9 Prozent gesenkt, Anmerkung der Redaktion). Überraschend ist es eher, weil die Entscheidung historisch abweicht von der Art, mit der die chinesischen Behörden das Problem bisher angegingen. Die Herangehensweise ist neu. Aber das war eine punktuelle Entscheidung.

Weshalb dann die panikartige Reaktion an den Börsen?

Man muss das im Kontext der Entwicklung sehen, die sich in den vergangenen Monaten abgezeichnet hat. Da gab es Anzeichen, dass die chinesische Wirtschaft weniger schnell wächst, als erhofft. Das Phänomen ist nicht neu. Zwar sind die offiziellen Wachstumszahlen immer noch relativ gut, aber die Industrieproduktion ist signifikativ zurückgegangen. Die Frage ist, wie weit geht das Wachstum zurück und was heißt das für andere Länder? Aber die Frage stellt sich schon seit Monaten.

Was am Montag passiert ist, war der stärkste Rückgang der Börsen binnen eines Tages seit der Finanzkrise – manche Kommentatoren warnen davor, dies sei der Beginn einer neuen Krise ähnlichen Ausmaßes. Wie ist denn das zu erklären, wenn sich seit Monaten abzeichnet, dass die chinesische Wirtschaft langsamer wächst?

Ein Faktor, den man nicht vergessen darf, ist, dass im August viele Marktteilnehmer im Urlaub sind und nicht am Handel teilnehmen. Deshalb ist die Liquidität nicht so groß und deshalb gibt es im August mehr Volatilität. Dennoch sind viele Beobachter beunruhigt über die Entwicklung in den Schwellenländern – das ist wiederum nicht neu. Die Rohstoffpreise sind sehr stark gefallen, nicht nur die Erdölpreise, auch die Preise anderer Rohstoffe. Das hat sicherlich damit zu tun, dass aufgrund der schwächeren Industrieproduktion die Nachfrage nach diesen Rohstoffen in China zurückgegangen ist. Das hat direkte Folgen für viele Schwellenländer, weil ihre Wirtschaft und die staatlichen Einnahmen stark von ihren Rohstoffexporten abhängig sind. Erschwerend kommt für die Schwellenländer hinzu, dass der Dollar über die letzten Monate betrachtet teurer geworden ist. Deshalb kann man davon ausgehen, dass das Wachstum in diesem Teil der Welt in den kommenden Monaten schwächer ist. Die Frage ist, welche Folgen das auf die Nachfrage weltweit hat und ob die Börsen nicht überreagiert haben.

Eben – wo ist der direkte Zusammenhang zwischen dem nachlassenden Wachstum in den Schwellenländern und dem Kurscrash an den europäischen Börsen? Schließlich war die ganze Bandbreite von Aktien betroffen.

Genau. Natürlich sind Unternehmen, die viel in diese Länder exportieren, betroffen. Aber das gilt sicherlich nicht in gleichem Maß für alle Unternehmen in Europa oder Nordamerika.

Sie gehen also nicht davon aus, dass der Börsenkrach in China und das langsamere Wirtschaftswachstum dort den Aufschwung in Europa oder Nordamerika in Frage stellt?

Nein, auf gesamtwirtschaftlicher Ebene müsste der Impakt limitiert sein. Deshalb sieht unser Basisszenario immer noch vor, dass sich die Wirtschaft in Europa und Nordamerika langsam erholt, auch wenn für einzelne Firmen und einzelne Länder der Schaden größer ist.

Manche Kommentatoren sehen in den Kurskorrekturen an den Börsen die Folgen der zu großzügigen Geldpolitik in den USA. Teilen Sie deren Meinung?

Es kann immer Korrekturen in einzelnen Marktsegmenten geben, aber man kann das nicht pauschal sehen. Interessant ist allerdings, was diese Ereignisse an Folgen für die amerikanische Zinspolitik haben. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Federal Reserve Bank (Fed) ihre Zinsen bereits im September erhöht, wie das die Märkte bis jetzt erwartet haben. Jetzt gehen die meisten Marktteilnehmer davon aus, dass die Erhöhung erst im Dezember kommt, und ich halte das für plausibel.

Warum spielt das so eine große Rolle, ob die Zins-Hausse im September oder drei Monate später erfolgt?

Für die Fed besteht die Herausforderung darin, jetzt keinen Fehler zu begehen. Wenn sie die Zinsen zu früh anhebt, läuft sie Gefahr, den Aufschwung im Keim zu ersticken. In den USA und andernorts. Das will sie auf jeden Fall verhindern. Es ist nicht so wichtig, welchen Monat genau sie die Zinsen anhebt. Aber wenn sie das tut, ist es der Anfang eines Zyklus höherer Zinsen. Die erste Hausse ist nur das Signal an die Märkte, dass die Zinsen nun progressiv steigen werden. Dies fließt dann direkt in die Erwartungen der Marktteilnehmer ein und hat einen großen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen. Deshalb ist wichtig, den Anfang des Zyklus richtig zu timen. Wenn Sie zu lange wartet, steigt die Gefahr, zu viel Inflation zu generieren. Sie muss deshalb die beiden Risiken – Ausbremsen des Aufschwungs und Inflation – gegeneinander aufwiegen und entscheiden, was im aktuellen Kontext wichtiger ist.

Wie hoch ist denn das Inflationsrisiko angesichts der gefallenen Rohstoff- und insbesondere der gefallenen Erdölpreise?

Die niedrigeren Erdölpreise führen mechanisch zu einer niedrigeren Inflationsrate. Die Fed hat jedoch, anders als die Europäische Zentralbank, deren Mandat sich auf ihr Inflationsziel beschränkt, ein Doppelmandat. Sie achtet auf die Preisentwicklung und die Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Wenn sie die Zinsen anheben würde, würde sie das tun, weil die Inflation zu schnell steigt, was angesichts der gefallenen Rohstoffpreise nun eher nicht der Fall ist.

Dieser mechanische Effekt wird sich auch in der Eurozone einstellen, wobei es hier ohnehin kaum Inflation gibt und die Zinsen auf historischem Tiefstand sind. Wie beurteilen Sie die Lage in der Währungsunion?

Man muss wiederum alle Faktoren in Betracht ziehen. Die niedrigen Rohstoffpreise haben ja nicht nur eine Wirkung auf die Inflationsrate. Viel wichtiger ist, dass dadurch die Kaufkraft der Konsumenten steigt und die Produktionskosten der Unternehmen sinken. Die Eurozone ist Netto-Importeur fast aller wichtiger Rohstoffe, wenn also die Preise fallen, ist das eine gute Nachricht für Verbraucher und Wirtschaft. Außerdem hat die EZB alle ihr möglichen Schritte eingeleitet, um das Deflationsrisiko zu bekämpfen. Ich bin daher der Meinung, dass die Gefahr, in eine deflationäre Phase zu geraten, viel geringer ist, als noch vor einem Jahr.

Yves Nosbusch ist Chefvolkswirt der BGL BNP Parisbas und unterrichtet an der London School of Economics
Michèle Sinner
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