Das Kino ist (vielleicht) tot. Es lebe das Kino

d'Lëtzebuerger Land du 20.11.2020

Die Entwicklung der Covid-Situation und ihre Handhabung seitens der politischen Entscheider halten das kulturelle Leben weiterhin fest im Griff. Seit dem Lockdown und der wochenlangen Schließung jeglicher Kunst- und Kulturinstitutionen im Frühjahr müssen die Verantwortlichen jederzeit bereit sein, ihr Angebot komplett umzudisponieren. Die darstellenden Künste trifft diese permanente Unsicherheit am härtesten. Auch das Kino und die Kinos. Die haben in den luxemburgischen Nachbarländern wieder wegen mehr oder weniger strengen zweiten Lockdowns geschlossen. Diese wiederholte Schließung wurde hierzulande bisweilen als nicht notwendig erklärt und trotzdem hat die Situation im Ausland Konsequenzen für Luxemburg. Vor allem was das Programm angeht.

Rund 85 Prozent der Filme, die Kinepolis Luxemburg ins Programm nimmt, kommen über belgische Verleiherwege. Der Rest kommt aus Frankreich und Deutschland. Für Pit Marmann, Programmkoordinator des CDAC, dem Centre de diffusion et d‘animation cinématographique, wird das Booking der regionalen Kinos in den kommenden Wochen einer Turnübung gleichkommen. Filme aus dem deutschsprachigen Raum erfreuen sich dort nämlich weitaus größerer Beliebtheit als bei den städtischen Kolleg/innen. Dieser Raum ist jedoch komplett geschlossen und die Vetreiber werden für Luxemburg nur wenige Ausnahmen machen. Bei Kinepolis sieht man die Situation entspannter, einer Herausforderung ähnlich. Der National Theatre Manager Christophe Eyssartier ist weiterhin überzeugt, ein attraktives Programm anbieten zu können. Die Multiplex-Kinos auf dem Kirchberg sowie in Belval hatten vergangene Woche jedoch keine neuen Sorties im Programm. Am Mittwoch fand in dieser Hinsicht ein Paradigmenwechsel statt. David Fincher‘s Netflix Film Mank, der Anfang Dezember auf der Streaming-Plattform landet, freut sich über eventuelle zwei Wochen auf dem grand écran. Für Marmann bleibt die Rechnung klar: Nur ein regelmäßiger Fluss an neuen Filme bindet ein Publikum, welches regelmäßig ins Kino kommt.

Das Ciné Utopia trocknete in dem Sinne noch nicht aus. Zwei Spielfilme starteten vergangenen Mittwoch, zwei weitere sind seit diesem Mittwoch neu im Programm. Das Kino in der Rue de la Faïencerie stemmt bei Weitem nicht Kinepolis in Luxemburg und stemmt sich nicht einmal selbst. Vor allem in diesem Jahr. Eyssartier bestätigt, dass die große Mehrheit der Zuschauer/innen für die amerikanischen Blockbuster Eintritt zahlt. Diese Blockbuster wurden nun alle – und die Nachricht fiel in den vergangenen Monaten immer wieder wie der berühmte Himmel auf den Kopf der Kinos, die auf diese Filme angewiesen sind – von den amerikanischen Studios verlegt. Sei es nun Marvel Superhelden, James Bond oder der neue Pixar-Film. Die Warner Bros waren im späten Sommer das einzige Studio, welches sehr prominent Christopher Nolans Tenet auf den klassischen Kinomarkt geworfen hat. In der englischen Presse wurde dafür Nolan als großer Retter und Messias der septième art hochgeschaukelt. Tatsache bleibt jedoch, dass der Film unabhängig von seinem relativ guten Einspielergebnis außerhalb der Vereinigten Staaten zwischen 100 und 150 Millionen Dollar Verluste verbuchen musste. Ein Blockbuster macht erst Profit, wenn das Doppelte am Budget eingespielt wird. Nolan rettete dieses Jahr also nichts, auch nicht in einem Nolanschen Paralelluniversum, sondern deckte vielleicht laufende Kosten. Laut dem Programmkoordinator des CDAC kann ein einziger Blockbuster auch nicht alleine das Kinojahr retten. Auch nicht in einem Viren-freien Jahr wie 2019. Das Remake von The Lion King verbuchte hierzulande weitaus höhere Zuschauerzahlen als Tenet, aber der Film alleine hätte die Kinos nicht aus den Miesen halten können.

Für die Studios war das Ergebnis des Experiments Tenet klar. Das Studio mit der Maus ist soweit gegangen, das Kino als Mittelsmenschen komplett zu übergehen und mit dem hauseigenen Streaming-Dienst auszutauschen. Filmbegeisterte gehen dieses Jahr jedenfalls nicht mehr ins Kino und das, obwohl die Kinobetreiber die von der Regierung erforderlichen Hygienemaßnahmen umgesetzt haben. Die mesures sanitaires in den Sälen sowie Theatern sind zum Beispiel strenger als im Horeca-Sektor. Die Einlasszahlen der Kultur- und Kunstorte sind lächerlich klein und haben sich als überdurchschnittlich sicher erwiesen. Die Regierung verpasste trotzdem wiederholt die Chance, dies in ihrer Kommunikation mitzuteilen. Resultat dieser Inkonsequenz und der Gier der Studios: Das CDAC verbuchte zum Beispiel bisweilen 55 Prozent weniger Eintritt dieses Jahr als zum gleichen Zeitpunkt vergangenes Jahr. Bei Kinepolis wird es ähnlich sein. Besucherzahlen sind in den Regionalkinos weniger imminent wichtig als bei Kinepolis, dank einer Konvention mit dem Kulturministerium. Nicht alle Kinos in der Region verfügen jedoch von zusätzlichen Gemeindehilfen und stecken ihr eigenes Geld und Energie in einen eh schon von Profit nicht sehr gesegneten Bereich.

Wie in vielen Bereichen dieses Jahr hat Covid im Kino eine vor sich hin kleckernde Tendenz verstärkt und ihre Grenzen offengelegt. Amerikanische Filmproduktion und vor allem die der Blockbuster haben gleich mehrere Monstren geboren: Produktionen auf einem solch hoch budgetisierten Level brachten Filme hervor, die dem Bankensprech ähnlich too big too fail sein müssten. Wenn die Studios jedoch aus Angst auf ihren Filmen sitzen bleiben und niemand ins Kino geht, dann fällt das jahrzehnte alte Kartenhaus in sich zusammen. Die Kinos siechen als erstes hin, wie Beispiele in Großbritannien und Frankreich jetzt schon zeigen. Die gleiche Produktionslandschaft hat den mittelhoch budgetisierten Film ausrotten lassen, und die Autor/innen dieser Filme produzieren nun mit carte blanche für Netflix. Von Amazon soll an dieser Stelle gar nicht die Rede sein. Der Teufelskreis für die Institution Kino ist perfekt.

Es wäre also höchste Eisenbahn, mit den veralteten Mustern aufzubrechen, ehe es zu spät ist. Tracts Gallimard publizierte kürzlichst Olivier Assayas Text Le temps présent du cinéma, in dessen Prolog er noch einmal ausdrücklich darauft hinweist, dass jetzt der Augenblick gekomment wäre, dank der im Vergleich ephemeren Pandemie die Kinokunst neu zu denken, zu hinterfragen und sogar zu erfinden. Nicht nur im Hinblick auf die Produktion, sondern auch auf dessen Rezeption. Diese Forderung scheint so selbstverständlich, dass Mensch sie aus den Augen verlieren kann. Regisseur Cédric Klapisch, Mitbegründer der VOD-Plattform La Cinetek, die seit Kurzem in Luxemburg funktionstüchtig ist, spricht sogar von einer Verantwortung von Regisseur/innen, Produzent/innen und Vertreiber/innen gegenüber dem kulturellen Pluralismus, der exception culturelle. Dieser Pluralismus stehe als Bastion reaktionärer und extremistischer Tendenzen in Gesellschaft und Politik gegenüber. Bilderziehung drch das Kino ist Bilderziehung auf die Welt. Diese éducation à l‘image kann aber nicht ausschließlich durch die Kunst als solches passieren, sondern auch über die Wege, wie Mensch zur Kunst gebracht wird. Agnès Salson, Ko-Autorin von Cinema Makers Le nouveau souffle des cinémas indépendants, geht von der These aus, dass sich Kinos von ihrem antiquierten Dasein als schwarze Kästen trennen müssten, um in Zeiten des tout numérique eine Daseinsberechtigung zu behalten. Kinos müssen Orte einer wirklichen Begegnung werden, in denen das Filme-Schauen nur einen Bruchteil einer kollektiven Erfahrung darstellt, um zu überleben. Kreation und Rezeption müssen sich die Klinke geben, um gemeinsam Lust auf Kino zu machen. Eine Lust, wie das Coronavirus verstärkt bewiesen hat, die Multiplex-Kinos oder das klassische Programmkino nicht mehr entfachen kann. Die Cinephilie ist kein Mittel zum Zweck und wird es nach Corona noch weniger sein. Ihr ist das veraltete Konzept vom Kino egal. Filme findet Mensch überall. Was am Ende des Tages zählt, ist was Mensch aus der Erfahrung Kino macht.

Nach diesem Kulturpessimismus kontert der Autor dieser Zeilen dieses Wochenende mit dem klassischen Kinobesuch. Auf dem Programm: der französische Film Garçon chiffon, Finchers Mank, The Perfect Candidate von Haifaa al-Mansour, Schwesterlein mit Nina Hoss und Lars Eidinger oder sogar ein restauriertes Total Recall des niederländischen Meisters Paul Verhoeven..

Tom Dockal
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