ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Neue Ära

d'Lëtzebuerger Land du 05.04.2024

Mitte März bestimmte der Regierungsrat eine neue Direktorin für den Service de renseignement de l’État. Der Posten war öffentlich ausgeschrieben. Verlangt wurden Kenntnisse der Gesetzgebung, der Sicherheitsarchitektur, der Tagesereignisse, der Geopolitik, der Amtssprachen und von Microsoft Office. Das war Tarnung.

Das Amt der obersten Staatsspionin ist prekär. Die letzten Direktoren erreichten das Rentenalter nicht im Amt. Sie wurden nicht von feindlichen Spionen umgebracht. Sie stolperten über die üblichen Geheimdienstskandale.

Der Spëtzeldéngscht soll die herrschenden Verhältnisse prophylaktisch sichern. Die Justiz geht von der Unschuldsvermutung aus. Prophylaxe ist die Schuldvermutung. Daher operiert der Dienst strukturell am Rand der Legalität. Spricht sich das herum, geht von einem Geheimdienstskandal die Rede. Dann wird der Dienst reformiert. Wie 2004 oder 2016: Er bekommt mehr Geld, mehr Spione, mehr Kontrolle. Bis zum nächsten Geheimdienstskandal.

Passende Direktoren zu finden ist nicht einfach: Sie müssen zum gerade aktuellen Ennemi passen. Sie müssen die Leichen im Keller des Vorgängers begraben.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde Marco Mille Direktor. Er fürchtete keine Elcom mehr, keine „éléments communistes“. Der Ennemi war nicht mehr der Russe, sondern der Terrorist. Die Zeiten waren neoliberal: Mille spielte den Manager und Technokraten. Seine Spione wurden Geschäftemacher. Er verriet seinen Dienstherrn. Jean-Claude Juncker wurde 2013 gestürzt. Mille blieb verschont. Die Staatsräson gewährte ihm unbezahlten Urlaub. Er wurde zu Siemens exfiltriert.

Milles Nachfolger Patrick Heck versprach rechtsstaatliche Prozeduren. Der Ennemi waren internationale Wettbewerber. Die politischen Parteien blieben misstrauisch. Sie wollten dem Dienst keine Sicherheitsüberprüfungen von Geheimnisträgern anvertrauen. Sie verwehrten ihm den Zugang zu Datenbanken von Justiz und Polizei. Heck wurde zur Armee exfiltriert.

Doris Woltz wurde Direktorin. Sie war Richterin. Sie sollte für die Gesetzestreue des Dienstes bürgen. 2016 brachte die Regierung einen Gesetzentwurf ein, um die Sicherheitsüberprüfungen zu reformieren. Acht Jahre später ist das Gesetz noch immer nicht in Kraft.

Nach fünf Jahren schrieb die Personalvertretung: „[À] partir de 2016, les conclusions des enquêtes de sécurité luxembourgeoises ne sont pas bien fondées.“ Dies belaste das Vertrauen ausländischer Geheimdienste. Doris Woltz feuerte den Sprecher der Personaldelegation.

Im Bommeleeërten-Prozess stellte Doris Woltz 2013 Justizminister Luc Frieden bloß: Er habe ihr nahegelegt, die Ermittlungen über die Sprengstoffanschläge einzustellen. Zwei Tage vor Friedens Vereidigung zum Premier wurde Doris Woltz in den Ruhestand exfiltriert.

Alles wird wie früher: Seit zwei Jahren ist der Russe wieder der Ennemi. Das Reich des Guten hat wieder ein Reich des Bösen. Mit Law and Order beginnen Luc Frieden und Léon Gloden eine neue Ära. Auch für den Nachrichtendienst. Er wird normalisiert. Ein rechtsstaatlicher Schein ist nützlich, keine Priorität. Die Staatsausgaben steigen dieses Jahr um 7,6 Prozent. Die Ausgaben für den Nachrichtendienst um 59 Prozent.

Die neue Direktorin muss keine Juristin sein. Vizedirektorin Jeanne Schumacher wird zur Direktorin befördert. Sie ist Analystin. Sie ordnet die anfallenden Erkenntnisse. Sie macht eine Erzählung daraus. Im Geheimen entziffert sie täglich das Welträtsel. Ihr Arbeitsinstrument ist das Misstrauen. Sie studierte Islamwissenschaften. Sie beschäftigt sich mit Terrorismus. Sie weiß, ihm einen kulturalistischen Sinn zu geben. Ein politischer brächte den Geheimdienst, die Regierung in eine Zwickmühle.

Romain Hilgert
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