Das Krisenmanagement der EU-Finanzpolitiker bleibt rätselhaft
Too big to fail, or too big to bail in?
d'Lëtzebuerger Land du 28.06.2013
Noch einmal sieben Stunden hatten die EU-Finanzminister in Brüssel verhandeln müssen, bevor sie sich am frühen Donnerstag auf einheitliche Regeln für die Abwicklung von Problembanken einigen konnten. Vergangenen Freitag war ihnen das auch nach 19 Stunden nicht gelungen. Allein das zeigt, wie schwierig die Krisenbewältigung in der EU immer noch ist. Die Abwicklungsrichtlinie, die das so genannte Bail-in beinhaltet, also die Reihenfolge festschreibt, nach der die verschiedenen Parteien zur Haftung herangezogen werden, ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur geplanten Bankenunion, die das Finanzsystem stabiler machen soll. Dabei ist sie nicht einmal ein Teil der Bankenunion – gemeinsame Bankenaufsicht durch die EZB, gemeinsame Abwicklungsmechanismen und Einlagensicherung –, sondern Vorbereitung dafür. Denn bevor die EZB die Aufsicht der Banken in der Eurozone übernimmt, soll ein weiterer Stresstest durchgeführt werden. Die Abwicklungsrichtlinie soll den Mitgliedstaaten das Werkzeug in die Hand geben, das sie im Umgang mit den Banken brauchen, die im Test durchfallen könnten, hatte Yves Mersch, EZB-Direktoriumsmitglied und einer der Hauptarchitekten der Bankenunion, vergangene Woche im Land-Interview betont. Sie soll der Altlastenbewältigung dienen, bevor die Bankenunion funktioniert und einheitliche Vorschriften, die von den Mitgliedstaaten jeweils in nationales Recht umgesetzt werden müssen, bevor mit der Union gemeinsame Mechanismen geschaffen werden. Demnach entsteht eine Art Haftungskaskade für Banken in Not, die vereinfacht wie folgt aussieht: Zuerst werden die Aktionäre in die Pflicht genommen, dann die Gläubiger, also die Besitzer von ungedeckten Anleihen der Problembank. Reicht das nicht aus, um eventuelle Verluste auszugleichen, werden auch die Bankkunden mit Einlagen über 100 000 Euro hinzugezogen. Dabei haben die Finanzminister ein Privileg für die Einlagen von Privatpersonen sowie die von kleinen und mittleren Unternehmen vorgesehen, die erst nach denen großer Unternehmen herangezogen werden. Die mühseligen Verhandlungen waren der Flexibilität geschuldet, die den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Haftungskaskade bleiben soll. Am liebsten keinen Spielraum wollten die EZB und Deutschland sehen. Frankreich und vor allem Nicht-Mitglieder der Währungsunion, die nicht auf die Bankenunion mit ihren gemeinsamen Instrumenten hinarbeiten, sondern die Abwicklung maroder Banken auch in Zukunft alleine schultern müssen, hätten die Regeln gerne individueller gestaltet. Ein Grund dafür ist, dass sie befürchten, die Finanzierungskosten für die Banken könnten steigen. Wer mag schon gerne Geld leihen, wenn es nicht sicher zurückkommt? So wurde eine Reihe von Verpflichtungen vollständig aus der Haftungskaskade ausgenommen, wie beispielsweise gedeckte Schuldverschreibungen. Und, aus Angst vor einer neuerlichen Kreditklemme: sehr kurzfristige Interbankkredite. Ob Europa vom too big to fail Richtung too big to bail in geht? Daneben haben die EU-Finanzminister und ihre Berater mit der ihnen eigenen Kreativität die „kontrollierte Flexibilität“ geschaffen. Demnach gibt es für die Mitgliedstaaten einen gewissen Ermessensspielraum, um verschiedene Parteien vom Bail-in auszunehmen, wenn es zum Beispiel ein Zeitproblem gibt, die Finanzstabilität an sich gefährdet würde oder das Ansteckungsrisiko für andere Marktteilnehmer steigen könnte. Unter Risiko für die Finanzstabilität könnte man zum Beispiel einen bank run verstehen, wenn also alle Kunden aus Angst um ihre Einlagen die Konten räumen. Das, so haben die Erfahrungen der letzten Krise gezeigt, geht im Zeitalter des Online-Banking sehr schnell. „Die Einigung ist ein Meilenstein in unseren Bemühungen, den Teufelskreis zwischen Banken und Staaten zu zerschlagen“, freute sich der irische Ratspräsident Michael Noonan am Donnerstagmorgen. Endlich würden die Steuerzahler entlastet, so der niederländische Eurogruppenvorsitzende Jeroen Dijsselbloem. In der Vergangenheit haben die Staaten mit Steuergeldern eingegriffen, um Banken zu retten, wenn ihre Insolvenz riskierte, das gesamte Finanzsystem und die Realwirtschaft in Mitleidenschaft zu ziehen. Dabei gibt es keine Gesetze, welche die Regierungen zwingen würden, einzugreifen, statt marode Banken einfach pleitegehen zu lassen. Nach der neuen Abwicklungsrichtlinie müssen acht Prozent der Passivposten einer Bank über die Haftungskaskade eingezogen werden, beziehungsweise 20 Prozent der risikogewichteten Aktiva – je nachdem viel früher –, dann können über die kontrollierte Flexibilität einzelne Gläubigergruppen von der Haftung befreit werden und die dafür eigens einzurichtende Abwicklungsfonds einspringen, den die Banken selbst finanzieren müssen. Der darf dann bis zu einer Höhe von fünf Prozent der Passiva eingreifen. Wenn das nicht reicht, nachdem alle ungedeckten Schuldverschreibungen und Guthaben ohne Privileg aufgebraucht sind, „kann die Abwicklungsbehörde Mittel bei alternativen Finanzierungsquellen suchen“. Mit alternativen Finanzierungsquellen ist in diesem Fall der Eurorettungsschirm ESM gemeint. Oder die Regierungen, die je nach eigener Finanz- und Interessenlage eingreifen könnten oder nicht, bevor es an die privilegierten Guthaben geht – wenn dies die EU-Kommission erlaubt. Diese Fragen sind auch für Luxemburg von großer Bedeutung. Als vor knapp drei Monaten Zypern vor der Staatspleite gerettet wurde und erstmals die Sparer zur Kasse gebeten wurden – in einem ersten Versuch alle, im zweiten Anlauf nur die mit Guthaben über 100 000 Euro – fanden auch Staatsminister Jean-Claude Juncker und Finanzminister Luc Frieden das eine denkbar schlechte Lösung, weil „überall in der Eurozone der Eindruck entstanden [ist], dass die europäische Einlagengarantie bis zu 100 000 Euro jederzeit in Frage gestellt werden kann“, wie Jean-Claude Juncker dem Bonner Generalanzeiger sagte. Zwar ist dies nun ausdrücklich ausgeschlossen, bis zu 100 000 Euro sind nun immer abgesichert – ein hoher Betrag, der erst 2008 auf dem akuten Höhepunkt der Bankkrise in einem Wettrennen der EU-Länder von 20 000 auf 100 000 erhöht wurde, während Bundeskanzlerin Angela Merkel die Kundenguthaben aller deutschen Banken für gesichert erklärte. Wenn also ein Finanzplatz wie Luxemburg versucht, im Privatkundengeschäft Ultra-Reiche als Ersatzkundschaft für die Normal-Reichen anzuwerben, die wegen des automatischen Informationsaustauschs abwandern, kann es nicht gleichgültig sein, was mit den Guthaben über 100 000 Euro passiert. Luxemburg hat sich in den Verhandlungen hinter die Haftungskaskade gestellt, welche die Einbeziehung solcher Guthaben vorsieht. Doch wie wichtig es ist, den Eindruck zu vermeiden, die Kundeneinlagen seien anderswo sicherer als hier, zeigen die Aussagen Luc Friedens nach der Zypern-Rettung gegenüber RTL: „Wir haben in der Vergangenheit bewiesen, dass wir auch die Einlagen über 100 000 Euro schützen, sonst hätten wir Fortis und Dexia damals nicht gerettet. Wir haben uns auch an der Rettungsaktion für Kaupthing beteiligt [...]. Das heißt, wir haben immer dafür gesorgt, dass auch die Guthaben über 100 000 Euro geschützt wurden. Es geht im Grunde darum, dass die Sparer Vertrauen in das Finanzsystem haben können.“ Doch pauschale Ansagen oder Eingriffe wie 2008 wird es mit der neuen Richtlinie nicht mehr geben. Erst im akuten Fall, wird sich klären, ob die Flexibilitätsbedingungen erfüllt und ein Eingriff der Kundenguthaben über 100 000 schützen würde, möglich sein wird Ob die EU-Bürger dem Krisenmanagement ihrer Finanzminister vertrauen können, bleibt fraglich. Denn die gehen auch im fünften Jahr der Finanz- beziehungsweise der Schuldenkrise immer noch vor, wie die Pilger bei der Echternacher Springprozession. Das wird deutlich, wenn man den Entstehungsprozess der Maßnahmen einmal zurückspult: Die Abwicklungsrichtlinie wird gebraucht, damit im Bankensystem der Eurozone reiner Tisch gemacht werden kann, bevor die EZB die Aufsicht der Banken übernimmt. Die EZB soll die Banken beaufsichtigen, weil die gemeinsame Aufsicht eine Vorbedingung (vor allem der Deutschen) dafür war, dass sich der Eurorettungsschirm ESM, statt nur Staaten zu helfen, direkt an Bankenrettungen beteiligen kann. Dadurch sollte der Teufelskreis zwischen Banken und Staaten gebrochen werden, also verhindert werden, dass sich Staaten verschulden, um Banken zu retten, um dann ihrerseits von den anderen Eurostaaten gerettet werden zu müssen. Doch wer eine gemeinsame Aufsicht einführt, braucht eine gemeinsame Abwicklung für den Fall, dass etwas schief geht. Doch im Hinblick darauf druckst Deutschland herum und vertritt die Ansicht, dass sie ohne Änderungen an den EU-Verträgen nicht möglich sei. Eine Aussage, die auf ein Todesurteil für den gemeinsamen Abwicklungsfonds hinauszulaufen droht. Wie wirr das EU-Krisenmanagement ist, zeigt sich auch daran, dass die Eurogruppe bereits vergangenen Donnerstag den Rahmen für die direkte Beteiligung des Eurorettungsschirms – im Jargon spricht man von ESM direct re-cap – an Bankenrettungen absteckte. Er sieht vor, dass die Mitgliedstaaten erst einmal selbst so viel Geld in die Problembanken injizieren müssen, bis sie wieder die Kapitalmindestanforderungen erfüllen, bevor der ESM aktiv wird. Was der dann noch groß darüber hinaus machen soll? Schließlich heißen die Mindeststandards so, weil eine Bank, die sie erfüllt, eigentlich problemlos funktionieren müsste. Ob man bei dieser Entscheidung den Teufelskreis zwischen Banken und Staatsschulden kurz aus den Augen verloren hatte? Ebenso wie man am Donnerstagmorgen den Blick auf den Kalender versäumt hatte: Die gemeinsame Aufsicht, der SSM, soll voraussichtlich im Herbst 2014 die Arbeit aufnehmen. Müssten davor Banken gestärkt oder abgewickelt werden, werden die Mitgliedstaaten dabei nicht auf die Bail-in-Regeln zurückgreifen können. Sie treten, wenn alles glatt läuft, frühestens 2018 in Kraft, um den Banken Zeit zu geben, ausreichend „Bail-In-Material“ aufzubauen. Fragt sich also, wer am Ende bezahlt, falls sich beim Stresstest Kapitalbedarf ergibt, der dringend gefüllt werden muss?
Michèle Sinner
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