Schicksalswahl. Richtungswahl. Pseudowahl. Der Europawahl am Sonntag hängen viele Etiketten an. Je nachdem wie man zum Kontinent, dessen Staatenbund und seinen politischen Gremien eingestellt ist. Dass es eine wichtige Wahl ist, versteht sich von selbst, und immer dann, wenn der Souverän um sein Votum gefordert wird, über den Weg zu entscheiden, den Europa in den kommenden fünf Jahren beschreiten wird. Doch die maximale Entfernung zu Brüssel und Straßburg zeigt, wie wenig sich die Wählerinnen und Wähler der Europäischen Union verbunden fühlen. Emotional wie auch politisch, wo sich vor allen Dingen die Entfremdung zwischen Bürger und EU zeigt. Diese ist so groß, dass zu befürchten ist, dass diejenigen politischen Parteien am Sonntag an Mandat und Macht gewinnen werden, die sich vehement für eine Abschaffung der Europäischen Union einsetzen.
Die pro-europäischen Parteien wollten oder konnten diesen in ihren Kampagnen nichts entgegensetzen, als einfach nur für Europa zu sein. Dabei haben es Wahlkämpfe so an sich, dass Politikerinnen und Politiker durch die Lande reisen, um mit vollmundigen Versprechen um Aufmerksamkeit zu buhlen. Dies gilt insbesondere für Europawahlen, die von jeher mit einer eher mäßigen Wahlbeteiligung zu kämpfen haben und Politiker auf prall gefüllte europäische Geldtöpfe verweisen können. Da verspricht es sich leicht und gerne. Ob dem Versprechen denn auch Taten folgen, lässt sich selten feststellen, denn die Verwaltung der EU ist groß und fern. Doch in diesem Jahr ist alles ganz anders, denn die Kandidaten müssen ihren Wählern vor allen Dingen versprechen, Europa, so wie es ist, nicht ändern zu wollen, um gegen den Populismus bestehen zu können. Obwohl das Europa, so wie es ist, keinen Fortbestand hat, wenn es sich nicht reformiert oder vertieft, solidarisiert oder entwickelt. Aber genau das versprechen auch die Parteien an den populistischen wie extremistischen Rändern des politischen Spektrums. Europa ist nötig, Europa ist wichtig, Europa muss sich ändern, aber nur keinen Vorschlag unterbreiten, wie sich denn die EU verändern soll.
Gerade hier haben die Rechten schnell gelernt: Nach dem Chaos um den Brexit, den Überdruss der Kontinentaleuropäer ob des Themas, strichen sie den „Dexit“, „Frexit“, „Lexit“ ganz schnell von ihren Wahlplakaten und bedienten stattdessen die Vorurteile und Vorbehalte gegenüber der Europäischen Union, um mit einfachen Bildern ihre Botschaften zu setzen. Die lautet: Reform. Mit dem Ziel: „Damit in Brüssel wieder mehr gearbeitet wird.“ „Damit Europa nicht zu Eurabien wird.“ „Damit keine Messermänner das Land übernehmen.“ So die Botschaften der Alternative für Deutschland (AfD) und der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD).
Die übrigen Parteien Deutschlands lavierten sich durch den Wahlkampf. Sie hatten es aber auch schwer gegen eine CDU/CSU zu bestehen, deren Spitzenkandidat Manfred Weber ganz Großes in Brüssel vorhat. Er möchte Nachfolger von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker werden. Gelingt ihm das, dann wäre er der erste Deutsche auf dem Brüsseler Chefposten seit einem halben Jahrhundert. Gegen so viel nationales Sendungsbewusstsein hatte selbst die AfD es schwer anzukommen. Ganz zu schweigen von Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD und bislang Bundesjustizministerin in Berlin, und Nicola Beer, Herausforderin der FDP und deren geschasste Generalsekretärin. Erster wollte nicht unbedingt nach Brüssel, letztere hatte keine andere Wahl.
Ob dem nationalen Pathos konnte sich Weber erlauben durch den Wahlkampf zu dümpeln. Er ist ohnehin kein großer Rhetoriker, eher ein Mann des Hinterzimmers und der männerbündlerischen Treue und Strippenzieherei. Jedoch im Gegensatz zum früheren SPD-Heiland Martin Schulz, der vor fünf Jahren Kommissionspräsident werden wollte, tingelte Weber nicht zu den Stammtischen, um die Vereinigten Staaten von Europa zu propagieren. Es ist nämlich sehr kontraproduktiv, die EU mit Erwartungen und Anforderungen zu überfrachten, die sie ohnehin nicht erfüllen kann. Schon allein die wirtschaftlichen Nachteile, die durch den Brexit bereits jetzt für Großbritannien sichtbar werden und sich auf das Alltagsleben niederschlagen, dürfte die Bürger vom Sinn und Zweck der EU überzeugen. Weber beschied sich in den vergangenen Wochen mit der Ausarbeitung eines europäischen Masterplans zur Krebsbekämpfung oder der Formulierung anderer Wunschvorstellungen, die einem Praxistest zunächst einmal standhalten müssten. Dies gilt insbesondere für seinen Plan, fünf Millionen neue Arbeitsplätze für Jugendliche in der EU zu schaffen oder die europäische Polizeibehörde Europol in ein EU-FBI umzuwandeln. Dass Weber es aber mit dem Chefposten in Brüssel ernst meint, zeigt seine deutliche Ablehnung der Gaspipeline Nord Stream 2, obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel diese unterstützt. Das dürfte ihm vor allem in Osteuropa Stimmen bringen.
Katarina Barley hingegen streifte sich einen blauen Kapuzenpulli über und lächelt tapfer von den Plakaten. In Erinnerung bleiben, dass sie als Parteilinke bislang die EU verteufelte als Hort des Wirtschaftsliberalismus, dann die Forderung, dass die „Große Koalition“ in Straßburg – zwischen den europäischen Sozialdemokraten mit den Konservativen in der EVP – aufgekündigt werden müsse. Zum einen hätte sie sich für diese Forderung gerne einmal in Berlin stark machen können, zum anderen werden beide Fraktionen im Europaparlament – ob des Erstarkens des Populismus – künftig einander mehr denn je brauchen. Man nennt eine solche Forderung deshalb gerne auch Eigentor. Gleiches bei der FDP. Deren Spitzenkandidatin Nicola Beer versprach, Europa „so zu verändern, dass es wieder leuchtet“. In ihrem Wahlprogramm hingegen fordern die Liberalen, dass sich die EU auf grenzüberschreitende Fragen beschränkt, vor der Errichtung einer „Transferunion“ ebenso warnt wie vor der Schaffung eines europäischen Asylsystems.
Vor allem aber ist man in Deutschland gespannt, welche innenpolitischen Auswirkungen die Europawahl haben wird. Den Umfragen zufolge wird die SPD deutlich an Zuspruch verlieren, was Parteichefin Andreas Nahles das Amt kosten könnte, wenn auch die zeitgleiche Bürgerschaftswahl in Bremen verloren geht. In Österreich wird sich zeigen, ob die Ibiza-Affäre um den ehemaligen FPÖ-Vorsitzenden Hans-Christian Straché den Rechtspopulismus bremsen kann.