Wiederauferstanden

Der linke Flügel der LSAP

d'Lëtzebuerger Land du 19.05.2011

„Die LSAP ist eine große Volkspartei mit unterschiedlichen Tendenzen“, meinte die sozialistische Abgeordnete Vera Spautz. „Einige – dazu gehöre ich – haben, schon bevor die Partei in die Koalition eingetreten ist, davor gewarnt, die Hosen zu weit herunterzulassen.“ Und die Escher Schöffin versicherte der Revue: „Ich werde auf jeden Fall in dieser Sache weitermachen. Den Mund lasse ich mir nicht verbieten.“ Das war 2005, ein halbes Jahr vor den Gemeindewahlen.

In weniger als einem halben Jahr sind die nächsten Gemeindewahlen, und Vera Spautz warnt erneut lautstark, dass „die LSAP sich so zu einem überflüssigen, austauschbaren Anhängsel der CSV entwickelt“. Deshalb plädiert sie im Tageblatt „Für eine Neuorientierung der LSAP-Politik“ und verspricht den kritischen Sozialisten: „Ich werde an deren Seite diese parteiinternen Auseinandersetzungen führen und werde aber auch in meinen öffentlichen Funktionen gegen die Aushöhlung des Sozialstaates kämpfen.“

Es wäre aber falsch, die derzeitigen internen Kritiken an der LSAP-Politik auf den pünktlichen Profilierungsversuch einiger Kandidaten bei den Gemeindewahlen zu reduzieren. Schließlich war keine Partei bei dem Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag 2005 so massiv von ihren Wählern desavouiert worden wie die LSAP. Und seit etwas mehr als einem Jahr gibt es in der sozialistischen Partei etwas, das seit 20 Jahren verschwunden war: einen linken Flügel.

Wenn die LSAP in der Opposition ist, rückt sie meist ein Stück nach links. Wenn sie in der Regierung ist, rückt nur ein Teil von ihr nach links. Das geht meist gut. Doch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse radikalisieren, kann es sie zerreißen – wie 1905, 1921, 1924, 1970. In der Vergangenheit hatten die Jungsozialisten oft die Rolle eines linken Parteiflügels übernommen, doch beschäftigen sie sich inzwischen lieber mit „weichen“ gesellschaftspolitischen Themen, erklären bald dem Großherzog, bald der katholischen Kirche oder der Homophobie den Krieg. Seit den Neunzigerjahren und selbst nach einer historisch einmaligen 15-jährigen Koalition war, dank hohen Wirtschaftswachstums und der Krise der Linke nach dem Ende des Kalten Kriegs, linke Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf den Parteitagen oft nur von zwei einsamen Rufern in der Wüste zu hören: dem ehemaligen FNCTTFEL-Präsidenten Nico Wennmacher und dem unwürdig geendeten Präsident der Briefträgergewerkschaft, Jos Nickts. Meinungsverschiedenheiten gab es mehrere Legislaturperioden lang nur um die Wahl der Spitzenkandidaten.

Der linke Flügel war vor über einem Jahr wiederauferstanden, als es Delegierten von Bezirks- und Nationalkongressen, darunter vor allem dem Monnericher Bürgermeister Dan Kersch, gelungen war, die Idee eines außerordentlichen Parteitags mehrheitsfähig zu machen, der das Ergebnis der laufenden Tripartite-Verhandlungen ratifizieren sollte. Seinen einstweiligen Höhepunkt erlebte der linke Flügel am 30. April, als ein Kongress über die Tripartite und das Sparpaket der Regierung diskutierte. Heftige Kritik und Misstrauensbekundungen gegenüber der Parteiführung kamen vor allem von OGB-L-nahen und Escher Delegierten, wie Dan Kersch, Vera Spautz, Nando Pasqualoni, René Pizzaferri und Henri Hinterscheid. Die linken Delegierten sprachen sich ab, wie sie sich gegen­über dem Resolutionsentwurf der Parteiführung verhalten sollten und ließen Dan Kersch in ihrem Namen Gegenvorschläge machen. So strich der Kongress auf Druck der Parteilinken die Bewertung des Sparpakets der Regierung als „sozial verträglich und ausgeglichen“ aus der Resolu­tion, und die zahlreichen Änderungen am Sparpaket während des vergangenen Herbstes sollten ihm Recht geben. Dass die Parteiführung nicht völlig desavouiert wurde, war vielleicht bloß dem Zustand zuzuschreiben, dass der Kongress Minister Nicolas Schmit, der das Sparpaket kritisiert hatte, überschwänglich als neuen Che Guevara der Partei feierte.

Das Entstehen eines linken Flügels in der LSAP hat aber nicht bloß damit zu tun, dass die Sozialisten wieder in einer Koalition mit der CSV sind und deshalb öfters links blinken und rechts abbiegen müssen. Ausschlaggebend war die Radikalisierung der Gewerkschaften nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008. Wenige Woche vor den Parlamentswahlen 2009 waren erstmals seit Jahren sämtliche Gewerkschaften gemeinsam auf die Straße gegangen. Und die Tripartite-Verhandlungen vergangenes Jahr hatte der OGB-L gesprengt, als er die Sparvorschläge der Regierung öffentlich machte.

Auslöser der derzeitigen Kontroverse ist, neben parteiinternen Gerüchten über neue Index-Absprachen, OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding. Reding, selbst LSAP-Mitglied, hatte während der Mai-Vorfeier in Wiltz mit einer eher beiläufigen Bemerkung in einer langen Rede nur wiederholt, was er schon zuvor bei anderen Gelegenheiten gemeint hatte: Die sozialistischen Parteien in Europa müssten „zeigen, dass mit ihnen kein Sozialabbau zu machen ist. Sie müssen aufhören, sich damit zu entschuldigen, dass es ohne sie noch schlimmer käme oder gekommen wäre. Wir kennen die­se Erklärungen auch hier in Luxemburg. Sie bringen den Sozialisten auch hier nichts, im Gegenteil!“

Redings Warnung wurde umgehend von den bekanntesten Protagonisten des linken Flügels aufgegriffen, Dan Kersch und Vera Spautz. Beide waren bei der Spaltung der Kommunistischen Partei Anfang der Neunzigerjahre LSAP-Mitglieder geworden. Der heutige Monnericher Bürgermeister und Syvicol-Präsident Kersch war lange Zeit Schützling des ehemaligen Bettemburger Bürgermeisters und LSAP-Generalsekretärs Lucien Lux. Die Südabgeordnete und Escher Schöffin Spautz hatte es zu Zeiten von John Castegnaro im OGB-L bis zur Vizepräsidentin gebracht. Inzwischen erhielten sie öffentlich Unterstützung von Mike Hansen und Stéphanie Biwer, Escher Juso- und Sektionssekretäre, die ihnen anerkennend „la responsabilité de grouper les membres d’une ‚gauche déçue’“ bescheinigen.

Obwohl die aktuelle Parteilinke verhältnismäßig jung ist, sind ihre Kritiken an der Politik der Parteiführung fast so alt wie die Partei. Nämlich dass die Parteiführung ihre Seele an die CSV verkauft hat: „Die Phalanx der Ja-Sager zur CSV-Politik wird die LSAP in die Tiefe reißen.“ (Kersch) „Die Handlungsziele der Regierung werden auf den Klausurtagungen im Senninger Schloss für die CSV berechenbar gemacht.“ (Spautz)

Dass die LSAP deshalb ihre Identität verliert: „Für wen steht die LSAP? Für schönes Wetter?“ Sie trete „ihr Identifikationsbild der Verteidigung des sozialen Besitzstandes weiter mit Füßen“ und opfere „ihr anderes Label, das des gesellschaftlichen Fortschritts“ der Koalition mit der CSV (Kersch). „Ein klares, eigenes sozialistisches Profil auf Regierungsebene ist kaum mehr erkennbar.“ (Spautz)

Dass die LSAP sich des Sozialabbaus mitschuldig mache: Die CSV/LSAP-Koalition übernehme „Elemente einer salariatsfeindlichen Politik, von Merkel und Sarkozy diktiert“ (Kersch). „Die luxemburgische Regierungspolitik orientiert sich treu und brav an der neoliberalen Ausrichtung der europäischen Politik.“ (Spautz)

Solche Kritiken zeugen vielleicht von einem etwas idealisierten Bild der Partei, doch heißt das nicht, dass sie alle unberechtigt sind. Auch wenn darin altbewährte linke Vorurteile wiederkehren, der rousseauistische Widerspruch zwischen einer heimtückischen und bestechlichen Parteiführung und einer edlen und unschuldigen Parteibasis oder die antijesuitischen Komplotttheorien eines übermächtigen, monolithischen und hinterlistigen CSV-Blocks.

Weniger geläufig ist, dass Vera Spautz zwischen den sozialistischen Ministern differenziert: „In Luxemburg ist der Lautsprecher dieser Linie der Budgetminister Luc Frieden. Er wird aber loyal sekundiert von Wirtschaftsminister Jeannot Krecké“, und: „Die LSAP-Regierungsmannschaft (mit einer Ausnahme und der bekam dafür dann auch seine Quittung) machte eher den Eindruck, als würde sie den Entwicklungen hinterherhecheln.“ Auffällig ist auch, dass keiner der Kritiker die geplante Kürzung der Anfangsgehälter im öffentlichen Dienst beanstandet.

Um die Wähler und vor allem auch die eigenen Parteimitglieder zu beruhigen, warben inzwischen Mitglieder der Parteispitze in Presse, Funk und Fernsehen wieder für die Theorie des kleineren Übels: dass ohne sozialistische Regierungsbeteiligung nicht nur für den Index alles viel schlimmer gekommen wäre. Dabei hatten die LSAP-Minister den Eindruck, dass sie in der Koalitionskrise vor einem Jahr eine sogar sie selbst überraschende Standfestigkeit gezeigt hatten. Gar nicht davon zu reden, dass die LSAP im Vergleich zu ihren Schwesterparteien in der restlichen EU eine geradezu gute Figur macht. Auch wenn ihr nicht wohl beim Gedanken ist, dass das Tageblatt in einem Monat seine nächsten Wählerumfragen veröffentlicht, und sie fürchtet, wenn nicht bei den nächsten Gemeindewahlen im Oktober, so doch bei den nächsten Kammerwahlen 2014 die Zeche für das Spar- und Steuerpaket der Regierung zahlen zu müssen.

Fraktionssprecher Lucien Lux fragte sich, wo die LSAP „den Masochismus hernimmt, um öffentlich derart brachiale Kritik von sich zu geben“. Asselborn warnte Spautz und Kersch über RTL, man werde „nicht Abgeordnete ohne die Partei, nicht Präsident des Syvicol ohne die Partei“. Sie machten sich eines Verstoßes „gegen alle Regeln der Solidarität“ schuldig, „solche Töne können nicht einfach hingenommen werden“.

Aber die Parteiführung weiß, dass sie nicht viel gegen ihre Kritiker ausrichten kann, weil sie mächtige Unterstützung genießen: des OGB-L, dessen Linie sie vertreten, und des Tageblatts, das nach Meinung der Parteiführung keine Gelegenheit verpasst, um die Partei zu demontieren.

Tatsächlich beschränken sich die etwas vagen Alternativen der LSAP-Linken derzeit auf die Bündnispolitik, worunter weniger die Zusammenarbeit mit anderen Parteien, als die uralte „Gewerkschaftsfrage“, das Einschwenken auf die Linie des OGB-L, verstanden wird. Dan Kersch beklagt, „dass das Verhältnis zu den natürlichen Bündnispartnern immer mehr belastet wird. Liegt dies wirklich nur an den Gewerkschaften, oder nicht doch vielleicht auch an uns?“ Und Vera Spautz fragt ihren Fraktionssprecher Lucien Lux: „Sind etwa gewerkschaftliche Positionen innerhalb der LSAP krankhafter Masochismus?“ Mike Hansen und Stéphanie Biwer verlangen im perfekten PS-Jargon „une réelle réflexion sur une refondation à gauche“, um zu „rassembler au-delà de la gauche socaliste“, und nicht dem Dialog mit den Unternehmern den Dialog mit der Parteibasis und den traditionellen Verbündeten zu opfern.

Statt der sich in dieser Frage lieber zurückhaltenden Mandatsträger musste nun Parteifunktionär Alex Fohl die LSAP-Linke und damit den OGB-L im Tageblatt zurückweisen: „Der freiwillige Rückzug der LSAP in die Opposi­tion mag vom strategischen Standpunkt einer Gewerkschaft, die mit Maximalforderungen punkten und ihre Mitglieder so bei der Stange halten will, eine Option sein.“

Romain Hilgert
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