Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert: Nachdem die moderne Sparkoalition von DP, LSAP und Grünen vor sechs Monaten ihr bei den Koalitionsverhandlungen 2013 abgemachtes Ziel eines mittelfristigen Haushaltsüberschusses von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in ein Defizit von 0,5 Prozent umgekehrt hatte, verfügt Finanzminister Pierre Gramegna über einen ganz neuen Spielraum für die Wahljahre 2017 und 2018. Dabei nehmen die um ihre Wiederwahl besorgten Parteien sogar in Kauf, dass das Maastrichter Stabilitätsdiktat als Rechenakrobatik zur ökonomischen Disziplinierung der subalternen Klassen entlarvt wird.
Pierre Gramegna, bis zur Mitte der Legislaturperiode der von der Handelskammer ausgeliehene finanzpolitische Bußprediger und Sparapostel, der mit Zukunftspak, Kopernikanischer Wende und USB-Werbegeschenken Eindruck zu schaffen versuchte, findet sich so in der unbequemen Rolle seines christlich-sozialen Vorgängers Luc Frieden von 2012 wieder. Doch bei der Hinterlegung des Haushaltsentwurfs für 2017 am Mittwochmorgen in der Kammer zeigte er erneut, dass er als der bessere Liberale damit anpassungsfähiger umzugehen weiß. Selbst die bevorstehende Indextranche konnte ihn plötzlich freuen, weil sie die Kaufkraft stärke und „die Gehälterentwicklung in den letzten Jahren gemäßigt war“.
Nächstes Jahr soll der strukturelle Saldo von Staat, Sozialversicherung und Gemeinden auf 0,8 Prozent fallen und 2018 auf 0,2 Prozent, also unter das nun rechtzeitig aufgegebene mittelfristige Haushaltsziel von 0,5 Prozent. Wobei im Wahljahr 2018 der richtige, nominale Saldo unverändert bleiben und nur der aus ihm destillierte künstlich konjunkturbereinigte, strukturelle Saldo sinken soll.
Auf jeden Fall soll es weiterhin Jahr für Jahr bei einem Überschuss bleiben. So dass die Regierung sich seit Monaten fragen lassen muss, wieso sie plötzlich ein Defizit als mittelfristiges Haushaltsziel eingeplant hat und nicht den politischen Anstand besaß, wenigstens einen ausgeglichen Haushalt zu versprechen. Darauf antwortete der Finanzminister gestern vor dem Parlament, dass auf diese Weise Spielraum für unvorhergesehene Konjunktureinbrüche bleibe, so dass die Europäische Kommission dem Land nie vorwerfen werden könne, sein Haushaltsziel verfehlt zu haben. Aber ein Defizit ist auch das beste Mittel, um das so oft beklagte Anspruchsdenken des Wahlvolks zu zügeln. So musste Pierre Gramegna ständig in einem Atemzug wiederholen, dass die Lage blendend, aber finanzpolitische „Disziplin“ nötig sei.
Sowieso geht die Regierung für ihren Haushaltsentwurf 2017 von einer beeindruckenden Steigerung des Wirtschaftswachstums auf 4,6 Prozent aus, kaum weniger als die sechs Prozent in China. So dass sie sich bald Vorwürfen aussetzen könnte, dass ihre Steuerreform nicht weit genug geht. Schließlich waren die Steuerausfälle der Reformen von 1991 und 2001/2002 bei vergleichbarem Wirtschaftswachstum dreimal so hoch.
Doch während die Regierung ohne die Zwangsjacke des mittelfristigen Haushaltsüberschusses in Wahljahren von der guten Konjunktur profitieren kann, um die Wähler bei Laune zu halten, droht die CSV sich ins Abseits zu manövrieren. Statt, wie für Oppositionsparteien üblich, immer etwas mehr zu fordern, als die Regierung bieten will, will sich Spitzendkandidat Claude Wiseler lieber als strenger, aber gerechter Staatsmann darstellen und nennt die geplante Reform übertrieben. Der Aufforderung des Finanzministers, aufzuzählen, welche Steuerzahler seiner Meinung nach leer ausgehen sollen, kam er allerdings nicht nach. Dafür gab sich der Direktor der Handelskammer, Carlo Thelen, in ersten Kommentaren für die Presse erstaunlich nachsichtig gegenüber der Finanzpolitik seines Vorgängers. So als ob der von der CSV am Wochenende eingeleitete Wahlkampf zur Solidarität anregte.
Pierre Gramegna bekannte, er könne „damit leben, wenn wir denselben Saldo, den wir ohne Steuerreform schon 2017 hätten erreichen können, nun erst 2020 anpeilen“. Man ist ja nicht völlig bescheuert: Lieber vor den Wahlen selbst die Steuern senken, als die Voraussetzung zu schaffen, dass die CSV es nach den Wahlen tun kann.
Dass der Haushalt des Gesamtstaats nach der EU-Buchführung einen Überschuss aufweist, ist wie in den Vorjahren, darauf zurückzuführen, dass die Überschüsse der Sozialversicherung von 883,3 Millionen Euro und der Gemeinden von 253 Millionen das Defizit des Zentralstaats von 983,4 Millionen mehr als ausgleichen. Allerdings hat das mit den Transfers des Staats in die Sozialversicherung zu tun, die die Unternehmerbeiträge zur Kranken- und Rentenversicherung niedrig halten. Ohne diese Transfers würde nicht der Zentralstaat, sondern die Sozialversicherung das Defizit ausweisen, was zu Beitragserhöhung führte, ohne dass dies unter dem Strich etwas am Saldo des Gesamtstaats änderte.
Mit 983,4 Millionen Euro soll das Defizit des Zentralstaats nächstes Jahr einstweilen mehr als das Doppelte von 2016 ausmachen. Allerdings heißt es im Kommentar zum Haushaltsentwurf für 2017 (S. 21*), dass sich nach den gegenwärtigen Prognosen die Haushaltslage des Zentralstaats 2016 „sehr positiv entwickelt“, und der 2017-er Haushalt dürfte ebenfalls mit einem deutlich geringeren Fehlbetrag abschließen als nun veranschlagt.
Als Grund für das steigende Defizit führt die Regierung eine Drittel Milliarde Mindereinnahmen als Folge der Steuersenkungen an. Doch selbst nach diesen Steuersenkungen sollen die Einnahmen des Staats um 177,3 Millionen Euro steigen, die Erträge aus der Einkommen- und der Vermögensteuer zunehmen. Nur geringfügige Rückgänge um ein Prozent werden bei der Mehrwertsteuer erwartet, obwohl ab nächstem Jahr nur noch 15 statt bisher 30 Prozent der Mehrwertsteuer aus dem elektronischen Handel im Land bleiben dürfen. Um 6,7 Prozent sollen die Akziseneinnahmen zurückgehen, weil weniger getankt und geraucht wird. Von der ab nächstem Jahr abgeschafften Haushaltsausgleichsteuer soll nur noch ein Restbetrag von 15 Millionen eingetrieben werden.
Neben der Steuerreform tragen nach Meinung der Regierung die steigenden Investitionsausgaben die Schuld am Staatsdefizit. Sie sollen nächstes Jahr um 109,6 Millionen auf 2 368 Millionen Euro zunehmen, wobei als Investitionen auch Kapitaltransfers genannte Zuschüsse angesehen werden. Bemerkenswert daran ist vor allem, dass diese Investitionen weitgehend aus den laufenden Einnahmen gedeckt werden. „Wenn man die Analyse macht“, so Pierre Gramegna am Mittwoch, „dann stellt man fest, dass ungefähr drei Viertel der Investitionen mit laufenden Einnahmen bezahlt werden und nur ein Viertel auf Kredit.“ Dabei wäre Investitionen über Kredite zu finanzieren, insbesondere in Zeiten von Null- und Negativzinsen das Natürlichste der Welt, müssten Politiker am angeblich zweitgrößten Finanzplatz Europas Kredite nicht als unmoralisch darstellen. Leben nach der herrschenden Mär bei einer Schuldenaufnahme die Eltern auf Kosten der Kinder, müssten bei Investitionen aus den laufenden Einnahmen die Kinder auf Kosten der Eltern leben, weil sie die für sie errichteten Infrastrukturen nicht mitbezahlen.
Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 hat die Staatsschuld zugenommen, nicht zuletzt um die eine oder andere Bank zu retten. Das ist die „Schuldenspirale“, die die DP der CSV unermüdlich vorwirft und die der Finanzminister nun „gebrochen“ haben will. Mit konstant 23 bis 24 Prozent Staatsschuld im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt bis ins Jahr 2020 macht die Staatsschuld trotz aller Panik von CSV und ADR nicht einmal die Hälfte der 60 Prozent aus, die der Stabilitätspakt erlaubt.
Die Regierung soll nächstes Jahr die Erlaubnis erhalten, eine Anleihe von einer Milliarde auszugeben, von der 150 Millionen an den Straßenbaufonds und 200 Millionen an den Schienenfonds gehen sollen. Ob sie das Geld auch wirklich leihen wird, ist noch nicht entschieden. Seit 2014 wurden lediglich islamische Sukuk ausgegeben, bis Ende des Jahres folgt eine Obligation.
Entgegen allen großspurigen Ankündigungen des Finanzministers und der Sprecher der Mehrheitsfraktionen schreibt der Haushaltsentwurf auf der Ausgabenseite eher die bisherige Finanzpolitik der Regierung und selbst der CSV/LSAP-Koalition fort, als dass er bemerkenswerte Schwerpunkte aufwiese. Am auffälligsten ist, dass die Speisung des Beschäftigungsfonds drastisch um 68,4 Millionen auf 494,3 Millionen Euro gekürzt wird, weil „je weniger Leute arbeitslos sind, desto weniger der Staat Arbeitslosengeld zahlen muss“, so der Finanzminister.
Der Fonds communal de dotation financière soll dagegen im Gemeindewahljahr 75,7 Millionen Euro mehr erhalten, auch als Folge der geplanten Reform der Gemeindefinanzen, die ihn in Fonds de dotation globale des communes umtaufen soll. Die Mittel für Familienzulagen werden um 49 Millionen Euro erhöht, die für den gerade reformierten Elternurlaub um 42,8 Millionen Euro. Für die Beamtenpensionen werden 47,7 Millionen Euro und für die Beamtengehälter 44,6 Millionen Euro mehr bereitgestellt; das Haushaltsgesetz sieht die Einstellung von 500 zusätzlichen Beamten, 230 zusätzlichen Sekundar-, 209 zusätzlichen Grundschullehrern und 35 Reservelehrern vor.
Entsprechend der Beschäftigungsentwicklung steigen die Zuschüsse zur Renten- und Krankenversicherung um 39,8 und um 33,2 Millionen Euro, und für die Mutualité des employeurs um 32,4 Millionen Euro. Für Dienstleistungsschecks werden nach ihrer Zuerkennung an Grenzpendler 26,4 Millionen Euro mehr ausgegeben, für den Straßenbaufonds 25 Millionen Euro. Die angekündigte mehrsprachige Erziehung von Kleinkindern soll nächstes Jahr 22,6 Millionen Euro kosten, und die Entwicklungshilfe bekommt 22,5 Millionen Euro mehr. Für das garantierte Mindesteinkommen gibt der Staat 22,4 Millionen Euro mehr aus, ähnlich viel, 20 Millionen Euro, lässt er sich auch den Militärfonds zusätzlich kosten.