EZB-Direktoriumsmitglied Yves Mersch über die Vorbereitungsarbeiten für die Bankenunion, Stresstests und die Bewältigung der Altlasten

„Niemand kauft die Katze im Sack“

d'Lëtzebuerger Land du 21.06.2013

d’Lëtzebuerger Land: Herr Mersch, als Termin für den Start der gemeinsamen Bankenaufsicht (SSM) wird derzeit Sommer 2014 angepeilt.

Yves Mersch: Wir haben immer noch keine abschließende Gewissheit darüber, wann die Vorlage zum SSM vom Europäischen Parlament angenommen wird. Der Deutsche Bundestag hat vergangene Woche darüber entschieden. Aber es sieht so aus, als ob der Bundesrat, die zweite deutsche Kammer, erst am 5. Juli abstimmt. Das wäre ein Tag nach dem geplanten Abstimmungstermin im Europaparlament. Vor dem EP-Votum müssen aber die nationalen Prozeduren abgeschlossen sein. Wenn das Europäische Parlament den Abstimmungstermin wegen der Sommerpause auf September verschiebt, können auch wir die Arbeit erst ein Jahr später, also frühestens im September 2014, effektiv aufnehmen.

Wie weit sind die Vorbereitungen fortgeschritten?

Die laufen – in Zusammenarbeit mit den nationalen Aufsichtsbehörden – auf Hochtouren. Das oberste Gremium, das die strategischen Vorgaben erarbeitet, ist die High-Level-Group unter dem Vorsitz von Mario Draghi. Hier kommen die obersten Vertreter der nationalen Aufsichtsinstanzen zusammen. Außerdem gibt es eine Task Force, die Hauptbereiche identifiziert hat und in Arbeitsgruppen arbeitet.

Welche sind das?

Diese technische Arbeit gliedert sich in fünf Bereiche. Schwerpunkte sind die Erstellung einer „Landkarte“ des Bankensystems des Euroraums. Sie versucht auszuloten, welche Banken wir überwachen werden. Es ist ja bekannt, dass, auch wenn wir für die Aufsicht aller 6 000 Banken der Eurozone zuständig sein werden, wir nicht alle direkt kontrollieren werden, sondern uns die Aufgabe mit den nationalen Aufsichtsbehörden teilen. Der SSM wird aber die wichtigsten Banken direkt beaufsichtigen, und das auf oberster Konsolidierungsebene, also bei der EZB. Die weiteren Gruppen erörtern rechtliche Fragen, entwickeln ein Aufsichtsmodell, koordinieren die umfassende Bewertung der Kreditinstitute (AQR) und bereiten die künftigen Vorlagen für die aufsichtliche Berichterstattung für den SSM vor.

Dies betrifft inhaltlich die Bereiche, für die der SSM zuständig ist, also Kapital- und Liquiditätsvorschriften.

Ja, der Verbraucherschutz, die Geldwäschebestimmungen, alles das bleibt in der Hand der nationalen Aufsichtsbehörden. Ich kann mir auch noch andere Bereiche vorstellen, in denen die nationalen Aufseher sogar noch aktiver werden können. Ich sehe zum Beispiel Spielraum, was den Bereich Shadow-Banking betrifft. In Luxemburg werden die Investmentfonds nur darauf geprüft, ob sie den europäischen Richtlinien entsprechen. Aber aus dem Verhältnis zwischen Fonds und Depotbank können sich eventuell Risiken für die Finanzstabilität entwickeln. Es ist nicht klar, ob dies Aufgabe des SSM oder der nationalen Aufsichtsgremien ist. Ich würde sagen, in einem ersten Stadium sollten wir das bei den nationalen Behörden lassen.

Ist denn die Liste der systemischen Banken fertig?

Wir arbeiten an der Kartografie. Es gibt verschiedene Kriterien: Aktiva, deren Gesamtwert über 30 Milliarden Euro liegt, Aktiva, deren Wert mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt, die drei bedeutendsten Banken pro Land, Banken, die ESM-Hilfen erhalten haben. Trotzdem bleibt Klärungsbedarf im Detail.

Offen ist derzeit aber nicht nur „wer“, sondern auch „wie“ direkt oder indirekt beaufsichtigt wird.

Damit beschäftigt sich die dritte Arbeitsgruppe: Wir müssen ein einheitliches Modell für Europa entwickeln. Bisher wurde aber in dem einen Land vielleicht verstärkt quantitativ vorgegangen, in einem anderem qualitativ. Es gibt Mitgliedstaaten, da geht nie jemand in eine Bank, in anderen sind die Aufseher zwölf Monate vor Ort. Wir müssen uns zusammenraufen, um die Banken überall auf die gleiche Art zu überwachen. Das einzige, was bisher klar ist, ist, dass wir dazu Joint supervisory teams (JST) einsetzen werden. Der Koordinator muss natürlich bei der EZB angesiedelt sein. Aber man kann sich auch in den Mitgliedstaaten Sub-Koordinatoren vorstellen? Vor zwei Wochen hatten wir hier eine Sitzung mit allen nationalen Behörden und Zentralbanken, um zu diskutieren, wie alle jeweils in der Praxis vorgehen, denn es gibt da sehr unterschiedliche Vorgehensweisen. Es gibt zum Beispiel Länder, die den externen Buchprüfern eine große Bedeutung zumessen. Andere überprüfen verstärkt die Prozesse oder die Methodologie. Dritte konzentrieren sich verstärkt auf die Kontrollen bestimmter Portfolios und Anlageklassen. Es ist sehr heterogen. Wir müssen ein Modell aufbauen, in dem sich jeder wiederfindet, und das zwei Prinzipien gerecht wird: erstens der Verhältnismäßigkeit und zweitens der Subsidiarität – in Luxemburg ist man ja immer auch davon überzeugt, dass die Nähe zu den Banken ein wichtiges Element in der Überwachung ist.

Wie sieht es mit der Berichterstattung an sich aus?

Damit befasst sich die vierte Arbeitsgruppe. Damit sich für die Banken ein Mehrwert ergibt, sollen sie in Zukunft nur einen Berichtsbogen anstatt 27 verschiedene ausfüllen. Außerdem planen wir die Details der Speicherung und Bereitstellung dieser Daten. Das sind IT-technisch aufwendige Projekte. Alle diese Arbeitsgruppen haben seit Anfang des Jahres äußerst konstruktive Beiträge geleistet.

Soweit zu den aufsichtsrechtlichen Fragen ...

... dann gibt es noch die logistischen Aspekte. Wir müssen wissen, wie viele Mitarbeiter wir brauchen. Was wiederum vom Modell abhängt, das wir wählen – eher zentral oder stärker dezentral. Wie viele es genau sein werden, steht also noch nicht fest. Aber so viel kann ich schon mal sagen: 2 000, wie mancherorts gemutmaßt wurde, werden es nicht sein. Dennoch müssen wir uns überlegen, wo wir sie unterbringen.

Kommen wir zu den Stresstests. Warum wird jetzt die Qualität der Bankanlagen geprüft?

Niemand kauft die Katze im Sack. Wenn wir heute die Aufsicht der Banken übernehmen und morgen sind sie insolvent, wird die Glaubwürdigkeit des gesamten Projekts leiden. Wir machen also eine Art due dilligence, prüfen die Wertanlagen der Banken. Diese Übung will gut vorbereitet sein. Sie ist aber nur ein Teil der im Reglement zur Bankenunion vorgesehenen Auswertung der Bilanzen insgesamt. Deswegen wird im Hintergrund auch ein Stresstest vorbereitet – um eine Einschätzung über den Kapital- und Rückstellungsbedarf zu erstellen, wenn sich das Umfeld deutlich verschlechtert. Für Stresstests ist aber laut europäischen Reglements auch die Europäische Bankenaufsicht EBA zuständig.

Die Glaubwürdigkeit der EBA-Stresstests wurde in der Vergangenheit stark in Zweifel gezogen.

Genau das ist der springende Punkt. Es ist nicht vorstellbar, dass wir uns in eine solche Aufgabe stürzen, wenn nicht sichergestellt ist, dass wir das mit der notwendigen Konsequenz und Transparenz machen. Deswegen sollen auch externe Prüfer mitarbeiten können und die anderen Länder miteinbezogen werden.

Was machen Sie mit den Banken, die durchfallen?

Es muss im Voraus glasklar festgelegt werden, dass notwendige Maßnahmen getroffen werden, falls sich beim Test ergibt, dass Kapitalbedarf besteht. Diese Klarstellung brauchen wir von den jeweiligen Staaten – es handelt sich hierbei schließlich um Altlasten. Bei den großen Ländern ist das kein Problem, was aber machen kleinere Länder mit großer Finanzdienstleistungsbranche? Wichtig ist, dass die Eurogruppe und die Länder, die mitmachen, klar und deutlich Stellung zu beziehen. Deswegen ist es auch wichtig, dass der gemeinsame Abwicklungsfonds nicht nur auf dem Papier existiert, Fonds und Abwicklungsbehörde zeitnah mit dem SSM die Arbeit aufnehmen. Sie decken zukünftige Fälle ab. Aber für die Altlasten brauchen wir unbedingt die Abwicklungsrichtlinie, die den Mitgliedstaaten das Werkzeug zur Bankenabwicklung zur Verfügung stellt, und die nicht zuletzt die Reihenfolge regelt, in der die verschiedenen Parteien beim Bail-In miteinbezogen werden.

Wie soll den die Reihenfolge Ihrer Meinung nach aussehen?

Es muss eine klare Hackordnung geben und wenig Spielraum für Ausnahmen in den Mitgliedstaaten. Sonst wird hier die Kirche ausgenommen, da die Pensionsfonds, und am Ende kommt gar kein Geld mehr zusammen. Einigkeit gibt es insofern, dass Aktionäre und die Halter nachrangiger Anleihen als Erste an der Reihe sind, und dass Kundeneinlagen unter 100 000 Euro unantastbar sind. Dazwischen gibt es die Halter vorrangiger Anleihen und Einlagen über 100 000.

Sind Sie denn der Ansicht, dass Einlagen über 100 000 Euro einbezogen werden sollten?

Die EZB plädiert dafür, dass die Kundeneinlagen Präferenz vor den Anleihen haben. Das heißt, dass Einlagen über 100 000 zuletzt hinzugezogen werden. Aus einem ganz einfachen Grund: Die Einlagen sind wertsicher und liquide wie bares Geld. Sie können problemlos an andere Banken weiterverkauft werden. In diesen Punkten ringen die Mitgliedstaaten aber noch miteinander wie mit einem Bären. Wenn das Ergebnis ist, dass nachher jeder macht, wie er will, besteht die Gefahr, dass bei eventuellen Bankenabwicklungen nicht genug Geld zusammenkommt. Umso größer wäre das Risiko, dass die noch vorhandenen nationalen Abwicklungsfonds, beziehungsweise die nationalen Einlagensicherungsfonds einspringen müssten. Das wäre politisch sehr viel schwieriger. Deshalb hoffe ich, dass Europa diesen Weg nicht einschlägt, nur um Zeit zu gewinnen. Wir brauchen also Sicherheit darüber, dass erstens die Abwicklungsrichtlinie und die darin vorgesehenen Instrumente bereitstehen. Und dass zweitens der Single Resolution Mechanism (SRM) mit einer zentralen Behörde die europäische Entscheidungen trifft – kein Koordinierungsmechanismus –, und einem europäischen Fonds, der durch Industriegebühren gefüttert wird, operativ sind. Die Kommission hat einen Entwurf vorgelegt, Frankreich und Deutschland einen anderen.

Damit der SSM an den Start gehen kann, brauchen Sie also die Abwicklungsrichtlinie und den SRM sowie den Abwicklungsfonds ...

Oder ein Engagement der Staaten, dass sie im Fall des Falles für die Kosten gerade stehen, oder dass sie dem ESM erlauben, eine Zwischenfinanzierung durchzuführen. Es gibt viele Möglichkeiten. Wichtig ist, dass wir den Märkten deutlich machen, dass wir eine Lösung parat haben, falls wir auf ein Problem stoßen.

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat kürzlich gemeint, Abwicklungsfonds und -behörde setzten Vertragsänderungen voraus. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die erwarteten Vorschläge der Kommission sind meines Erachtens rechtlich gangbar. Eine Vertragsänderung wäre dann nicht notwendig. Ob sie politisch gangbar sind, wird sich aber erst in den nächsten Wochen und Monaten zeigen.

Glauben Sie trotzdem daran, dass die Abwicklungsinstrumente, die Behörde und der Fonds rechtzeitig bereit sind?

Das soll alles für den 1. Januar 2015 bereit sein. Wenn wir in der zweiten Jahreshälfte 2014 die Arbeit aufnehmen, werden wir über ein paar Monate nicht stolpern. Falls es mehr werden, könnte man ins Schlittern kommen.

Sie reden kaum noch von der gemeinsamen Einlagensicherung, dem dritten Element der Bankenunion. Ist sie für Sie kein zentrales Element mehr?

Wenn alle anderen Elemente vorhanden sind, ist die Einlagensicherung viel weniger dringend, weil das Risiko deutlich sinkt, dass die nationalen Einlagensicherungen überhaupt einspringen müssen. Das kann dann auf der Zeitschiene behandelt werden. Was aber nicht heißen soll, dass die Mitgliedstaaten keine vorfinanzierte Einlagensicherung brauchen. In Luxemburg gibt es diese bekannterweise noch nicht.

Für Luxemburg ist auch von Bedeutung, wer über die Zulassung neuer Banken entscheidet.

Das wird ganz eindeutig hier in Frankfurt gemacht. Die Mitgliedstaaten bereiten sie vor, aber die gehen hier durch den Filter der gemeinsamen Aufsicht. Diese Entscheidung ist europäisch.

Die Frage der Gebühren treibt ebenfalls viele Bankiers um. Sie befürchten, dass multinationale Finanzinstitute ihre Präsenz auf wenige Standorte in der Aufsichtszone beschränken könnten, um Kosten zu sparen. Ist diese Befürchtung gerechtfertigt?

Die Kosten müssen ja von den Banken getragen werden. Auch hier stellt sich heraus, dass es in Europa große Unterschiede in der Methode zur Berechnung der Gebühren gibt, als auch, was die Höhe der Gebühren an sich betrifft. Es soll eigentlich nicht so sein, dass die Banken zweimal zur Kasse gebeten werden. Wir werden bei den Banken, die wir direkt beaufsichtigen, unsere Gebühren auf oberster Ebene bei den Mutterhäusern einfordern. Was die nationalen Behörden zusätzlich fordern, ist jeweils eine nationale Entscheidung, auf die wir keinen Einfluss haben. Man sollte aber nicht vergessen, dass die Banken unter unserer direkten Aufsicht nur noch an eine Stelle berichten, anstatt an 27, und dadurch Personal und Kosten sparen.

Werden die Banken dennoch ihren geografischen Fußabdruck an die neuen Aufsichtsgegebenheiten anpassen und deswegen beispielsweise Filialen in Luxemburg schließen?

Die Gegenfrage wäre: Warum waren sie dann in Luxemburg? Die Attraktivität eines Finanzstandorts kann sich nicht nur an der regulatorischen Arbitrage festmachen.

War dem denn in der Vergangenheit so?

Das will ich nicht behaupten. Zumindest meine Erfahrungen in Luxemburg sind deutlich differenzierter. Aber wir werden sehen, wie die Banken reagieren.

Michèle Sinner
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