Sich „autark“ mit Energie zu versorgen, ist nicht verboten. Vor allem die Selbstversorgung mit Strom ist aber nicht erwünscht. Noch nicht

Mikro-Netze lassen grüßen

d'Lëtzebuerger Land du 07.10.2016

Vor fünf Jahren erklärte eine deutsche Firma, sie habe „das erste energieautarke Einfamilienhaus Europas“ entwickelt. Nicht als Prototyp in einem Labor, nicht als Einzelstück für eine Öko-Messe, sondern als schlüsselfertig lieferbares Serienprodukt zum Preis von 363 000 Euro. Damit könne man, schrieb der Hersteller, „im Prinzip auf eine einsame Insel auswandern“. 2011 erhielt die Firma dafür den Deutschen Solarpreis.

Vor allem, weil Solarstrommodule immer billiger und effizienter werden, wird Selbstversorgung zum immer mehr diskutierten Thema. Hieße „autark“, unabhängig von Energieversorgern zu sein, dann ist ein Selbstversorger auch, wer sein Haus durch einen alten Ölbrenner beheizt und das Heizöl dafür anliefern lässt, während ein diesel- oder benzingetriebenes Notstromaggregat Elektrizität liefert. In Zeiten von Klimaschutz und boomenden erneuerbaren Energien ist das natürlich weder modern, noch politisch korrekt, noch wirtschaftlich attraktiv. Reizvoller ist der Gedanke, sich so preiswert wie möglich von der Sonne beliefern zu lassen, die der Erde innerhalb einer Stunde gratis mehr Energie zukommen lässt als die gesamte Menschheit in einem Jahr verbraucht. Noch schöner ist die Vorstellung, dass die Selbstversorgung weit genug reicht, um auch ein Elektro-Auto nachzuladen.

Doch obwohl die Technologie für energetisch autarke Häuser offenbar ausgereift ist und in der in Deutschland vor fünf Jahren preisgekrönten Lösung tatsächlich auch das Elektroauto-Nachladen inbegriffen war, scheint es hierzulande noch keinen Selbstversorger-Haushalt zu geben. „Dazu liegen uns keine Informationen vor“, sagt Tom Eischen, Leiter der Generaldirektion Energie im Wirtschaftsministerium. Im Ösling könnte es ein oder zwei solche Häuser geben, vermutet Guy Weiler, Sekretär der Vereinigung Eurosolar Luxemburg, ist sich aber nicht sicher. Wahrscheinlich gibt es keines. Denn auch bei Creos, dem größten Netzbetreiber im Land, weiß man nichts von Selbstversorgern. Die Netzbetreiber aber müssten es am ehesten wissen: Selbstversorger müssen das Netz verlassen.

Das ist weniger eine Frage der persönlichen Konsequenz als eine der geltenden Regeln. Wohlgemerkt: der für Strom. Ziemlich autark zu heizen, etwa mit Solarthermie-Modulen auf dem Dach und einer Holzheizung im Keller, ist längst üblich. Wer sich dagegen Fotovoltaik-Panele aufs Dach schraubt, von dem wird erwartet, einen Vertrag mit einem Stromnetzbetreiber einzugehen, der den Sonnenstrom dann komplett übernimmt. Für seine private Stromversorgung bleibt auch der Betreiber einer Solarstromanlage hundertprozentig auf einen Stromversorger angewiesen. Es sei denn, er verzichtet auf den Netzanschluss. „Die aktuellen Regeln lassen die Eigenstromversorgung zu“, erklärt Tom Eischen.

Doch dann ist man ganz auf sich gestellt und es fragt sich, ob das wirtschaftlich wäre. Wer bei Solarfirmen nachfragt, erfährt, dass es gar nicht selten vorkommt, dass Leute fragen, was wäre, wenn sie das Netz verließen. Die Antwort lautet: Wie die Energieversorgung mit ihren Regeln, Preisen und Zuschüssen gegenwärtig beschaffen ist, verlöre man ohne Netzanschluss Geld.

Denn nur für ins Netz eingespeisten „grünen“ Strom gibt es den 15 Jahre lang garantierten vergünstigten Einspeisepreis. Für Solarstromanlagen, die dieses Jahr ans Netz gehen, sind pro eingespeister Kilowattstunde 19,7 Cent garantiert. Um eine Kilowattstunde zu produzieren, ist ungefähr ein Kilowatt Anlagenleistung nötig. Zurzeit kostet das, Handwerkerleistungen und Steuern inklusive, an die 1 900 Euro. Weil mit einem Kilowatt Anlagenleistung pro Jahr im Schnitt tausend Kilowattstunden Strom produziert werden, hätte die Investition sich nach zehn Jahren amortisiert und in den verbleibenden fünf Jahren würde die Anlage Geld abwerfen. Da das Nachhaltigkeitsministerium die Investition in eine Solarstromanlage, sofern sie auf einem Dach montiert und höchstens 30 Kilowatt stark ist, zu 20 Prozent bezuschusst, verbessert sich die Rentabilität noch.

Und nach wie vor ist in Luxemburg Strom aus dem Netz billig. Das macht es attraktiv, Kunde bei einem Versorger zu bleiben. Im Schnitt kostete am 1. Januar 2016 die Kilowattstunde 17 Cent. Einen „Standardhaushalt“ aus vier Personen käme dessen Durchschnitts-Jahresverbrauch von 4 000 Kilowattstunden damit 680 Euro zu stehen. Wollte derselbe Haushalt sich autark aus Solarstrom versorgen, wären zur Deckung des Jahresverbrauchs vier Kilowatt Anlagenleistung zum Kostenpunkt von 7 600 Euro nötig. Der staatliche 20-Prozent-Zuschuss könnte ihn auf 6 080 Euro senken.

Weil die mittlere Lebensdauer einer Solarstrom-anlage nicht nur 15, sondern 30 Jahre beträgt, sieht das wie eine tolle Lösung aus, deren Investition sich nach ungefähr zehn Jahren bezahlt gemacht hätte und weitere zwei Jahrzehnte lang Jahresstromkosten von 680 Euro vermeiden würde. Doch eine wirklich autarke Anlage benötigt einen starken Akku als Speicher, um auch nach Sonnenuntergang und bei Schlechtwetter Strom zu liefern. Drei bis vier Kilowatt Akkuleistung wären das Mindeste, aber nur für ein bis zwei Tage ausreichend. Allerdings kostet schon so ein Akku an die 10 000 Euro und einen Zuschuss gibt es nicht. Außerdem ist nach zehn bis 15 Jahren ein Akkuwechsel fällig. Weshalb bei Eurosolar Luxemburg geschätzt wird, dass eine autarke Solarstromanlage für einen Standardhaushalt 30 000 bis 50 000 Euro kosten würde und 40 Jahre in Betrieb sein müsste, um rentabel zu sein.

Damit könnte die Diskussion um Autarkie sich erledigt haben – falls Solarstrommodule nicht noch billiger werden und der Strompreis nicht steigt. Denn in den Rechenbeispielen wurde unterstellt, er bliebe auf dem aktuellen Niveau. Billiger Strom ist bislang ein Politikziel. Erstens ist das ein Standortargument, und zweitens diente es noch jedem LSAP-Wirtschaftsminister als Ausdruck von Sozialdemokratie. Weil die Steuern und Abgaben niedrig gehalten werden, ist der Strompreis für Luxemburger Haushaltskunden neben dem in der Atomstromnation Frankreich der niedrigste in Westeuropa. Kaufkraftbereinigt ist er der niedrigste in der gesamten EU.

Allerdings sind die Preise für Dach-Solarstrom-anlagen zwischen 1990 und 2015 um 90 Prozent gesunken, wie das Fraunhofer Institut für Solarsysteme in Freiburg unlängst ermittelt hat. „Und alle Szenarien, die ich kenne, gehen für die vorhersehbare Zukunft von weiterem Preisverfall aus“, sagt Susanne Siebentritt, Chefin des Fotovoltaik-Labors an der Universität Luxemburg. Die von der EU vor drei Jahren eingeführten Schutzzölle auf Solarmodule aus China konnten den Preisverfall nur mildern, aber nicht aufhalten. Ohne die Zölle wären die aktuellen Modulpreise bereits um ein Fünftel kleiner, schätzte der Branchenverband Solar Alliance for Europe kürzlich. Diese Aussichten krempeln auch hierzulande die gewohnte Stromwelt und den Umgang mit „Selbstversorgung“ um – schon jetzt.

Wie die Zukunft aussehen könnte, zeigt ein Beispiel aus dem New Yorker Stadtbezirk Brooklyn. Dort haben Bürger in Solarpanele auf ihren Hausdächern investiert und eine „Mikro-Netzgesellschaft“ gegründet, über die sie seit einem halben Jahr sich selbst und ihre Nachbarn mit Strom versorgen. Gezählt und abgerechnet wird per Blockchain, einer kryptografisch abgesicherten Transaktionsliste, die bei jedem Kunden im Mikro-Netz auf einem Computer gespeichert ist, die bezogenen Strom-Einheiten zählt und sie abrechnet. Eine zentrale Autorität gibt es nicht. Die Software, die zum Einsatz kommt, sorgt dafür, dass die Computer im Mikro-Netz sich gegenseitig überwachen, damit keiner schummelt. In Australien nahm im Sommer eine ähnliche Bürger-Start-up den Betrieb auf. Ihre Gründer erklärten enthusiastisch, in ein paar Jahren werde es in Australien bestimmt hunderte Blockchain-Solarstromversorger wie sie geben.

Trends wie diese sind ein Grund, dass der Energiekonzern Enovos am Montag eine Pressekonferenz einberief, um nicht nur mitzuteilen, dass die Holdinggesellschaft über seine Versorgerfirmen und über die Creos-Netztöchter in Luxemburg und Deutschland soeben in „Encevo“ umbenannt wurde, sondern Encevo-Generaldirektor Jean Lucius noch versprach, „in 18 bis 24 Monaten“ wolle man so innovativ sein, dass man in der Großregion „Technologieführer“ sei. Dazu will Encevo nicht zuletzt Partnerschaften mit IT-Start-ups eingehen. Gerne mit solchen aus dem Silicon Valley, so Jean Lucius, „weil die noch ganz andere Ideen haben als Firmen in Europa“.

Begriffe wie „Mikro-Netze“ sind auch für die Luxemburger Energieversorger und die Netzbetreiber kein Fremdwort. Dass die Stromversorgung „dezentraler“ werde und man das nicht aufhalten könne, sagen große Versorger wie Enovos genauso wie kleine, etwa Eida aus Beckerich: „Wir können nicht dagegen sein, das kommt sowieso. Wir müssen einfach neue Ideen entwickeln“, meint Eida-CEO Paul Kauten.

Mikro-Netze, über die vielleicht ein Stadtteil mit Strom versorgt wird, sind allerdings etwas anderes als ein Haushalt, der sich autark versorgen will. Sofern man ihm unterstellt, dass er nur an sich denkt und mit dem „System“ rundherum nichts zu tun haben will. Doch das muss nicht sein. In Luxemburg ist es bisher einfach nicht erlaubt, sich aus einer Solarstromanlage zu versorgen, so weit es geht, und den Rest über das Netz von einem Versorger zu beziehen. Stattdessen gilt das Prinzip „alles oder nichts“, und dass totale Autarkie bei Abmeldung vom Netz nicht verboten ist, ist nicht einmal jedem leitenden Enovos-Manager bekannt. In vielen anderen europäischen Ländern dagegen ist teilweise Selbstversorgung nicht nur möglich, sondern wird sogar gefördert, weil sie das Netz zu stabilisieren hilft. In Deutschland werden deshalb auch Akkus als Speicher für private Solarstromanlagen bezuschusst. „Man kann es ja so sehen: Habe ich einen Akku und der ist voll, aber ich brauche den Strom nicht, dann kann der Netzbetreiber ihn entladen, um sein Netz auszugleichen“, sagt Guy Weiler von Eurosolar.

Eine Versorgung aus viel Sonnen-, aber auch Wind- und Bio-Strom, mit Verbrauchern, die auch Kleinproduzenten sind und Speicher auch für andere zur Verfügung stellen, geht in Richtung „intelligenter Netze“, wie schon die vorige Regierung sie in Luxemburg als Vorreiter-Infrastruktur aufzubauen versprach, um das Land als „Testfeld“ für innovative Firmen zu empfehlen. In Richtung der Sharing economy, über deren Perspektiven für Luxemburg Wirtschaftsministerium und Handelskammer bei dem US-Ökonomen Jeremy Rifkin einen Bericht bestellt haben, geht das auch. Weshalb über die „dezentralere“ Energieversorgung auch in Luxemburg getüftelt wird. „Wir sind dabei, die Hauptelemente für eine kohärente Lösung zu entwickeln“, erklärt Tom Eischen. Antworten seien „in den kommenden Monaten“ zu erwarten.

Allerdings geht es dabei nicht nur darum, sich eine völlig neue Landschaft aus Makro- und Mikro-Netzen technisch vorzustellen. Bereits das ist spannend: Zur Speicherung von Energie etwa werden nicht nur Akkus verschiedener Bauart genutzt, es kommen auch Druckluftbehälter und Schwungräder zu Ehren, und eines Tages vielleicht vor allem Wasserstofftanks. Und die Batterien von Elektro-Autos. Nutzbar wäre aber womöglich auch, denkt man Strom- und Wärmeversorgung zusammen, ein Schwimmbecken: Die Firma Eida untersucht zurzeit im Rahmen eines Interreg-Projekts, ob das Remicher Hallenbad sich als Speicher für ein lokales Nahwärmenetz eignen könnte, erzählt Paul Kauten. Die Idee ist Teil einer größeren Unternehmung, die die Stadtwerke Trier angestoßen haben: Überlegt wird, ob in der Großregion lokale kleine Netze, in denen nicht nur konsumiert, sondern auch produziert würde, einen sinnvollen Verbund bilden könnten.

Eine wichtige Frage ist auch die, wie so ein neues System reguliert und finanziert würde. Dass in Luxemburg jeder Solarstromanlagenbetreiber Kunde eines Versorgers bleiben muss – es sei denn, er geht ganz vom Netz –, schützt nicht nur die Versorger vor Kundenverlust, sondern auch die Netzbetreiber vor Einnahmenausfall: Im Kilowattstundenpreis für Haushaltskunden stecken 40 Prozent Netzkosten. Das ist ziemlich viel. Würde „Solarstrom-Prosumenten“ erlaubt, sich aus ihrer Anlage zu versorgen und nur einen Rest zuzukaufen, müsste entschieden werden, ob auch nur für den Rest Netzkosten zu zahlen wären. Falls ja, könnten die Kosten für denjenigen, der sich eine Solarstromanlage entweder nicht leisten kann, oder das nicht will, dessen Hausdach ungünstig liegt oder dessen Haus sich im „geschützten Sektor“ einer Gemeinde befindet, wo Solaranlagen nicht erlaubt sind, womöglich spürbar steigen. Das ist nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage, sondern auch eine der Finanzierung der Gehälter bei den Netzbetreibern. Die Energiewende à la luxembourgeoise könnte der Regierung auch ein politisches Problem eintragen – es sei denn, sie findet eine gewitzte Lösung für den Übergang, der, wie alle sich einig sind, irgendwie sowieso vonstatten gehen wird.

Peter Feist
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