In Zeiten von Post-Covid-19 sind Online-Datings über Plattformen wie Tinder zur neuen Realität geworden. Mit einem Klick oder Wisch und per Selbstbeschreibung in Emojis wählen sich Millenials den passenden Partner und bleiben dabei meist doch unter sich. Angeblich haben „wir“ in unseren liberalen Gesellschaften mehr denn je die Möglichkeit, unsere Partner „frei zu wählen“. Doch spätestens seit Soziologiedoyen Pierre Bourdieu ist evident, dass die soziale Stellung nicht nur die Auswahl der Alkoholflasche, sondern auch die Partnerwahl mitbestimmt.
Ödön von Horváth setzt in seinem Volksstück Kasimir und Karoline hier an. Das zentrale Thema seiner Stücke ist der aussichtslose Kampf des Individuums gegen eine Gesellschaft von Spießbürgern. Bevor er mit 36 Jahren (auf der Flucht vor den Nationalsozialisten) auf den Champs-Elysées von einem Ast erschlagen wurde, hinterließ er mehr als ein Dutzend Stücke, in denen er die Stimmung des Faschismus der 1930-er Jahre klarsichtig einfing. Die Parallelen zum Erstarken der Rechten in Europa heute liegen auf der Hand.
Kasimir und Karoline, das vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und der rasant zunehmenden Arbeitslosigkeit spielt, behandelt die Auswirkungen wirtschaftlicher Not auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Als Ballade von stiller Trauer, gemildert durch Humor, bezeichnete Horváth einst das Volksstück, das – neben seinen Geschichten aus dem Wiener Wald – zu seinen meistgespielten Stücken zählt.
Die Bühne im Kapuzinertheater zeigt eine peppige Szenerie (Anouk Schiltz). Von der Decke hängen Schaukeln und ein Eiswagen herab. Stofftiere baumeln am seitlichen Bühnenrand wie bei den Gewinnständen auf der Schueberfouer.
Chauffeur Kasimir ist mit seiner Verlobten Karoline auf dem Münchner Oktoberfest. Sie will sich amüsieren, Kasimir ist jedoch verstört, denn soeben wurde er „abgebaut“, sprich: gefeuert. Es ist nicht nur (s)ein gesellschaftlicher Statusverlust, der Abbau bestimmt fortan das gesamte Sein Kasimirs. Die Düpierung strahlt er aus jeder Pore aus. Bedröppelt sitzt Konstantin Rommelfangen in der Rolle des Kasimir am Boden und starrt beklemmt ins Leere. Kein Wunder, dass Karoline (Laura Laufenberg) mit einem Mal meint, sie beide seien „zu schwer füreinander“. Sinnlich Eis lutschend will sie auf dem Volksfest nur Spaß haben...
So kommt es zum Streit, und obwohl Karoline stets beteuert, ihn gerade jetzt unterstützen zu wollen („Man muss das immer trennen – die allgemeine Krise und das Private“), gehen sie fortan unterschiedliche Wege.
An einem Eisstand lernt Karoline den schlaksigen Zuschneider Schürzinger (Tobias Artner) kennen, der ein Auge auf sie geworfen hat und sie schlumpfblaue Zuckerwatte mümmelnd ungelenk, doch mit schlauen Sätzen bezirzt: „Die Menschen sind eigentlich böse – allerdings werden sie durch unser Wirtschaftssystem gezwungen, noch egoistischer zu sein.“ Laura Laufenberg erweist sich als exzellente Besetzung. Sie flirtet ungeniert und gibt lasziv an der Zuckerwatte zupfend das naive Mädchen.
Als der Kommerzienrat Rauch (Schürzingers Vorgesetzter, den Horváth förmlich als Parodie eines Kapitalisten angelegt hat) mit dem Landgerichtsdirektor Speer auf die Bühne platzt und sie Karoline anbaggern, ist der Klassenaufstieg zum Greifen nah – und fällt in Form einer Schaukel von der Decke. So kann sie hoch hinausfliegen, während der gedemütigte Kasimir in Selbstmitleid versinkt, über Weiber als „minderwertige Geschöpfe“ lamentiert und auf „das Luder Karoline“ schimpft. Schon Horváth wusste, wie Männer auf Demütigungen von oben reagieren. Rommelfangen spielt den doppelt Düpierten überzeugend, wenngleich sich sein verbitterter Gesichtsausdruck in 80 Minuten kaum (ver-)ändern wird.
Regisseur Moritz Franz Beichl findet ausdrucksstarke Bilder, um den Auf- und Abstieg von Kasimir und Karoline auf dem Volksfest zu veranschaulichen. Die Musik von Philipp Auer, die zwischen schenkelklopfenden Volksschlagern („Heute sauf ich wie ein Schwein!“), Techno-Beats und Balladen changiert, trägt das Stück.
Zu ausgelassenem Gezappel blasen die Figuren Luftballons auf, witzeln, frotzeln. Derber Hosenstallhumor regiert die Bühne, wenn die Männer betrunken um Karoline buhlen. Allein Erna (Jeanne Werner) weiß den chauvinistischen Sprüchen der Herren Paroli zu bieten und versucht sie auszubremsen. Sie träumt von „gerechten Verhältnissen.“ Und weiß: „Aber die Menschen wären doch gar nicht schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät.“
Rasch wird sich Karoline breitschlagen lassen, mit dem Kommerzienrat in dessen Wagen nach Altötting abzuzischen. Ein Notfall bringt den Zukunftstraum von Altötting zum Zerbersten. Und da seinem Kumpel Speer auch noch der Kiefer gebrochen wurde, lässt Rauch Karoline fallen.
Wenn Kasimir und Erna gemeinsam auf einer Parkbank zurückbleiben und feststellen, dass sie „verwandte Naturen“ sind, droht das Ende der wie im Jahrmarktsrausch verfliegenden Inszenierung Beichls, der die Urfassung gestrafft hat, kurz zu kippen, um nach nur eineinhalb Stunden auf den Punkt zu landen.
Als Karoline zu Kasimir zurückwill, ist es zu spät. Wer zu hoch fliegt, landet am Boden, oder wie Horváth es Karoline in den Mund legt: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“
Das gemischte Ensemble erweist sich als Glücksfall und Moritz Franz Beichl findet mit seiner Inszenierung die richtige Bühnensprache, um die Kernaussagen des Stücks humorvoll zu vermitteln. Seine Kasimir und Karoline-Inszenierung ist eine sinnliche Achterbahnfahrt, wenngleich mit vorhersehbarem Ausgang und Kollateralschäden mündend in Horváths vielleicht etwas pädagogisch vermittelter alltäglicher Erkenntnis: „Sterben müssen wir alle!“