Leitartikel

Wir gehen über Leichen

d'Lëtzebuerger Land du 21.02.2020

Steuerbemessungsgrundlagen anderer Länder anzuzapfen, dient auch dazu, im sehr geschäftsfreundlichen Luxemburg die Illusion eines sozialdemokratisch orientierten Sozialstaats zu pflegen. Vor 18 Jahren beschrieb das der damalige Fedil-Direktor Nicolas Soisson gegenüber dieser Zeitung so: „Wenn wir in der Tripartite zusammensaßen und über Beschäftigungs- und Sozialmaßnahmen sprachen und deren Finanzierung sprachen, haben wir oft entschieden, den Preis für Benzin oder Diesel um einige Centimes zu erhöhen. Ich denke, von diesem Punkt gibt es keinen Weg zurück. Jedenfalls keinen einfachen“ (d’Land, 11.04.2002).

Als die Tripartite noch soviel Spielraum hatte, gab es die EU-Richtlinie über die Mindestbesteuerung von Energieprodukten noch nicht; die kam erst ein Jahr später heraus und gestand Luxemburg großzügige Übergangsphasen zu. Damals war das Spritakzisen-Dumping gegenüber den Nachbarländern noch ausgeprägter. Heute sorgen schon ein paar Cent mehr gegenüber Belgien für Aufregung in der Petrolbranche, weil es um Einnahmen aus LKW-Diesel geht. Dass die Illusion eines sozialdemokratisch orientierten Sozialstaats dennoch weitergepflegt werden kann, sogar, wenn wegen des Klimaschutzes demnächst auf einen guten Teil der Dieselverkäufe und die Steuereinnahmen daraus verzichtet werden muss, liegt unter daran, dass Luxemburg auch Tabaksteuer-Dumping betreibt. Es exportiert nicht nur CO2 und erhält das immerhin angerechnet, Luxemburg exportiert auch Lungenkrebs, erhält das aber nicht angerechnet. Dass jemand wie der französische Medizinprofessor Bertrand Dautzenberg diese Woche darauf hinwies, war durchaus zu erwarten: Ab 1. März kostet in Frankreich eine Packung Zigaretten zehn Euro, rund doppelt so viel wie hier. In Belgien sind die Preise nicht ganz so hoch, aber hoch genug, dass belgische Raucher sich gern in Luxemburg eindecken. Wenn sie beim Einkauf noch volltanken, ist das hier natürlich willkommen.

Dass laut Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) die Regierung „noch nicht darüber diskutiert“ hat, die Tabaksteuern anzuheben, überrascht nicht. Erhöhte sie Sprit- und Tabakakzisen stark, bräche das Tankstellengeschäft ein. Vermutlich auch die Umsätze der Firma Heintz van Landewyck, die Wert darauf legt, dass die Steuern niedrig genug bleiben, um HvL-Zigaretten den Vorteil im Endpreis gegenüber Deutschland zu sichern. Wie offen das Finanzministerium dafür ist, zeigt, dass die Zollverwaltung die Preisentwicklung im Ausland mit der einer Packung Maryland vergleicht. So simpel kann Steuerpolitik begründet werden. Das muss aufhören. Die Tankstellennische muss weg. Steuer-Dumping passt generell nicht zum Standort für Hightech und grüne Finanzen, zu dem Luxemburg sich entwickeln soll. Vor allem aber können wir nicht über Leichen gehen. Tun wir aber.

Natürlich fragt sich, wie der Einnahmenausfall in der Staatskasse zu kompensieren wäre. Der Spritverkauf bringt über eine Milliarde Euro ein, der Tabakverkauf rund 700 Millionen. Nimmt man 70 Prozent „Exportanteil“ an, würden 1,2 Milliarden fehlen. Und das zu einer Zeit, da der Wohnungsbauminister „richtig viel Geld in die Hand nehmen“ will, um öffentliche Wohnungen zu bauen, der Finanzminister Steuererleichterungen und die Einheits-Steuerklasse für natürliche Personen verspricht. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Eigentlich wäre die Steuerreform die beste Gelegenheit, mit einer der letzten schmutzigen Nischen zu brechen. Die Frage wäre dann die, wie der Sozialstaat von einer beträchtlich frendfinanzierten Illusion in eine Realität herübergeholt würde, die wir selber verantworten. Solidarität müsste dann von Großverdienern, Erben, Besitzern von Kapital, Grundstücken und Autos mit viel PS verlangt werden – wenn Kleinverdienern sogar ein paar Cent mehr pro Liter Sprit nicht zugemutet werden können, wäre das der logische Schluss.

Peter Feist
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