Rinaldetti, Léon: Wenn morgens die Kellerassel

Froschperspektive

d'Lëtzebuerger Land du 23.09.2016

Als Zeichen ihrer Kunstfertigkeit malten die alten Meister manchmal Fliegen auf ihre Werke, die zum Beispiel täuschend echt im Kopfputz einer edlen Dame klebten oder über den Kopf des Jesuskindes krabbelten. Dieser optische Trick war ein Mittel zur Perspektivierung; er stellte den Charakter des Gemäldes als etwas Gemachtes heraus, als eine Wirklichkeitsebene, die von der des Betrachters verschieden ist. Ein Symbol der Vergänglichkeit: Die auf dem Bild festgefrorene leibliche Hülle muss vergehen, während die Kunst sie in einem Jetztzustand konserviert.

Eine ähnliche Rolle nehmen in Léon Rinaldettis Haikusammlung Wenn morgens die Kellerassel Insekten, Kröten und Spinnen ein, auch Krähen und Spatzen, ein dahergelaufener Hund – das ganze Getier, mit dem der Mensch seine Alltagswelt teilt, auch wenn er es meist nur am Rande wahrnimmt. Leicht lassen sich die vom Autor umrissenen Bilder als Metaphern für Vergänglichkeit und Tod lesen. Krähen räubern in Mülltonnen, ein Marienkäfer wird zertreten, eine im Bernstein eingeschlossene Mücke sieht dem Wolkenzug zu und der Raubvogel späht nach Nagern: „Der Bussard über dem Feld/ mäuschenstill/ neigen sich die Ähren.“ Nicht fehlen darf in dieser Reihe der Frosch aus dem berühmten Haiku Bashos („Der alte Teich/ Ein Frosch springt hinein – / das Geräusch des Wassers.“), den Rinaldetti über die Jahre immer wieder aufgreift und variiert. Dabei können auch leise kritische und ironische Untertöne einfließen: „Im Abwasserteich der Bashô-Frosch/ stumm. Die Kirche zu-/ gemauert. Wie spät es denn schon ist?“

Rinaldetti umkreist in seinen Haiku gleichbleibende Themen und entwickelt, wie sich dank der chronologischen Ordnung der Texte feststellen lässt, im Lauf der Zeit ein allgemein verständliches Vokabular von Symbolen, mit dem ein über die reine Bildebene hinausgehender Bedeutungsumfang auch von Lesern erschlossen werden kann, die mit der Tradition des Haiku weniger vertraut sind. Der auf Beute lauernde Bussard über einem Feld, das kurz vor der Mahd steht, ist so als Vorausdeutung lesbar, als über dem Leben drohend schwebender Tod, der gleichzeitig in einen Kreislauf von Entstehen und Vergehen eingebettet ist. Als Symbole von Vergänglichkeit können ebenfalls vom Wind verwehte Blätter oder Kirschblüten gelten.

Sicher ist es von Gewinn, sich vor der Lektüre des Bandes kurz mit der Textgattung auseinanderzusetzen, um weitere Verweise erkennen und die Machart besser schätzen zu können. Das liegt umso näher, als der Autor sich in manchen Haiku ausdrücklich mit der Textgattung auseinandersetzt. Das gelehrte Vorwort von Daniela Lieb bietet neben einer kritischen Erläuterung der Merkmale des traditionellen Haiku unter anderem eine kurze Synopsis über seine Entstehung und Verbreitung in den westlichen Literaturen. Rinaldetti folgt der Tradition, indem er häufig Jahreszeiten anzeigt (etwa die sich neigenden Ähren), variiert aber das traditionelle 5-7-5-Schema ab. Ein schöner Effekt, wo sich die Silbenzählung mit dem Inhalt des Gedichts überschneidet: „Mit fetten Würmern im Dreckschnabel/ sitzt die Amsel auf der Gartenbank –/ wo Mutter nie mehr sitzen wird.“ – Der Vers, der das Fehlen der Mutter sagt, ist um eine Silbe kürzer. Wo der Autor seine distanzierte Haltung durchlässig macht und, wie hier, neben der Vergänglichkeit den Verlust ins Spiel bringt, gelingen ihm Haiku von besonderer Prägnanz. „Krähen im Geäst./ Schlange stehen./ Kondolieren.“ – gleichsam ein Zoom von der Naturbeschreibung auf die Situation des Sprechers, die Andeutung des äußeren Vorgangs, die eine emotionale Beteiligung gar nicht mehr auszuführen braucht.

Es liegt, wenn man dem Vorwort folgt, im Wesen des Haiku, dass das Ich mit seinen Belangen größtenteils zurückgehalten wird und die Beschreibung des Moments sich vor allem auf die Natur – Wetter, Gestirne, Pflanzen und Tiere – konzentriert. Die Einsamkeit des individuellen Standpunkts und ihren Einklang mit der Natur hervorzuheben, liegt bei einer solchen Gedichtart nahe. In einer nicht sehr menschenfreundlichen Art, die zuweilen an den von Rinaldetti zitierten Botho Strauß erinnert, beschreibt der Zusammenhang der Gedichte eine nahezu entvölkerte Welt, in der die Menschen, die sie durchkreuzen, wie Störfaktoren wirken: „Schon wieder misst sich/ Nachbars Sirene/ mit dem Belcanto der Amsel.“ Oder: „Kabrio. Ray-Ban./ Enfin arriviert! –/ Die Eintagsfliege.“ Niemand wird bestreiten, dass Amselgezwitscher hübscher ist als das Getute einer Warnanlage und dass die Welt neureiches Gehabe nicht braucht. Die souveräne Sachlichkeit, die die meisten von Rinaldettis Texten kennzeichnet, kippt in diesen Momenten jedoch in eine distanzlose Genervtheit um, die zum polemischen Xenion besser passt als zum Haiku. „Basho’s Haibun/ in der einen Hand – in der anderen/ den Steuerbescheid.“ – Was man lieber lesen möchte, ist eigentlich klar.

Léon Rinaldetti: Wenn morgens die Kellerassel. Haiku. Mit einem Vorwort von Daniela Lieb. 112 S. Éditions Phi, Esch-sur-Alzette 2016. ISBN 978-99959-37-20-1. 15 Euro.
Elise Schmit
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