Pflegeversicherung und Zukunftspak

Eine Art Nullsummenspiel

d'Lëtzebuerger Land du 24.07.2015

Das sah gut aus für Sozialminister Romain Schneider (LSAP), nachdem er sich am Dienstagvormittag zu einer Pflege-Tripartite mit dem Dienstleisterverband Copas und den Gewerkschaften OGBL und LCGB getroffen hatte. Über die Auswirkungen des Zukunftspak auf die Pflegebetriebe war diskutiert worden. Das RTL-Fernsehen meldete abends: „Fleegesecteur: Stëmmong berouegt sech“. Die Zeitungen schrieben am anderen Tag überwiegend positiv. Würden vielleicht die von vier Alten- und Pflegeheimen angekündigten Preiserhöhungen schon bald wieder zurückgenommen werden?

Sicher ist das nicht. „Ruhig“ scheint die Lage in der Pflegebranche vor allem, weil die Urlaubszeit angebrochen ist; hinter den Kulissen ist sie nicht einfacher geworden.

Zukunftspak-Maßnahme Nummer 257 sei gar nicht so schlimm, ließ Schneider sich am Dienstag verstehen. Der Branchenverband Copas hatte vor drei Wochen Alarm geschlagen: Seinen Schätzungen zufolge seien dem stationären Pflegebereich (Alten- und Pflegeheimen) im ersten Halbjahr Einbußen von acht Prozent entstanden, dem mobilen Bereich (mit den Netzen Hëllef doheem und Help an der Spitze) bis zu 15 Prozent. „Informell“ wollte Copas-Präsident Marc Fischbach von der CNS, die die Pflegekasse verwaltet, erfahren haben, dass diese Schätzung nicht ganz falsch sei.

Der Minister zog am Dienstag anhand einer CNS-Studie einen anderen Schluss. Dass Pflegeleistungen seit Anfang des Jahres restriktiver vergeben werden, führe in der gesamten Branche zu Einbußen von 2,4 Prozent. Doch weil die Zahl der Pflegebedürftigen wächst, wirke das den Einbußen zu zwei Prozent entgegen, sodass man beinah von einem „Nullsummenspiel“ sprechen könne. So sei das im Zukunftspak auch gedacht gewesen.

Das ist ziemlich erstaunlich. Denn im Zukunftspak steht nicht etwa nur, dass die Pflegeausgaben nicht steigen sollen, weil die Staatskasse laut Pflegegesetz 40 Prozent davon übernimmt, sondern ein klarer Einsparpfad: Im laufenden Jahr soll die Staatskasse um 17 Millionen Euro Pflegekassen-Zuschuss entlastet werden, anschließend Jahr für Jahr um immer mehr und 2018 um 39 Millionen. Nach einem Nullsummenspiel sieht das nicht aus.

Doch wie das so ist bei mathematischen Modellbildungen, hängt das Endresultat davon ab, welche Anfangsannahmen man traf. Die Schätzung der Copas hatte vor drei Wochen die seit Anfang Januar restriktivere Pflegeleistungsverschreibung auf alle der über 13 000 Pflegebedürftigen hochgerechnet. Die CNS hat das ebenfalls getan – und für die Heime nicht nur acht, sondern sogar 19 Prozent Verlust ermittelt und für die mobilen Dienste nicht nur 15 Prozent wie der Branchenverband, sondern 17 Prozent. Entsprechend konsterniert nahmen die Copas-Vertreter am Dienstag diese Zahlen zur Kenntnis.

Eine Art „Nullsummenspiel“ wird daraus in zwei Schritten. Im ersten hat die CNS berücksichtigt, dass bei der Pflegekasse nicht immer all das in Rechnung gestellt wird, was ein Pflegebedürftiger an Leistungen verschrieben erhielt. Hat etwa ein Heimbewohner keine Lust auf eine Gruppenaktivität, kann sie nicht abgerechnet werden. In der mobilen Pflege kommt dergleichen ebenfalls vor. Die Pflegenetze stellen im Schnitt nur 64 Prozent des Verschriebenen bei der Kasse in Rechnung, die Heime 89 Prozent.

Im zweiten Schritt hat die CNS berücksichtigt, dass seit Januar natürlich nicht alle der über 13 000 Pflegepläne revidiert worden sind, um an ihnen zu sparen. Sondern es wurden 125 Pläne neu in die Pflegeversicherung aufgenommener und in Heimen betreuter Personen neu aufgestellt, sowie 245 Pflegepläne von neu zuhause Versorgten. Deshalb könne man davon ausgehen, dass sich die Ausgaben über eine ganze Laufdauer eines Pflegeplans verteilen. Bei der stationären Pflege sind das dreieinhalb Jahre – solange bleiben laut Statistik im Heim Betreute im Schnitt in der Pflege, ehe sie sterben.

Nach den beiden Korrekturübungen reduziert sich die Einbuße der Heime auf 2,7 Prozent. Gleichzeitig nehme, wird unterstellt, die Kundenzahl um 2,1 Prozent zu – und es blieben 0,6 Prozent, die ein Heim vielleicht zu viel an Personal beschäftigen könnte. Für die Pflegenetze fällt das Szenario noch freundlicher aus. Für sie ergibt sich eine Einbuße von 1,6 Prozent, der jedoch ein Kundenzuwachs um 4,1 Prozent entgegenwirke. Sodass für die verbleibenden 2,5 Prozent zum Beispiel zusätzliches Personal eingestellt werden könnte. Und dennoch blieben der Staatskasse Pflegekassenzuschüsse im zweistelligen Millionenbereich erspart.

Der Sozialminister hat ausdrücklich erklärt, diese „Durchschnitte“ müssten selbstverständlich nicht für jeden Pflegebetrieb richtig sein. Darüber könne man reden; die Rechnung sei eine Diskussionsgrundlage, auf die er Ende September, Anfang Oktober zurückkommen werde und zu der er bis Mitte September Einwände erwarte. Die dürfte er auch erhalten.

Denn hinter der Durchschnitts-Rechnerei steckt die politische Hoffnung, man könne einen Konsens finden, der durch Stellschrauben-Drehungen erlaubt, die Pflegeversicherung großzügig zu halten, ohne dass die Ausgaben aus dem Ruder laufen. Und dass sich in Abstimmung mit Copas und Gewerkschaften eine Reform aufstellen lässt, die möglichst wenig „liberal“ ausfällt und der LSAP und ihrem populären Nordpolitiker Romain Schneider nicht übelgenommen wird.

Strukturell besteht das Problem der Pflegeversicherung à la luxembourgeoise darin, dass Pflege-Marktfreiheit gilt, aber bei vollständig öffentlicher Finanzierung. Damit das nicht zu teuer wird, wurde ein Durchschnitt schon immer gebildet: Den mittleren Geldwert für Pflegeleistungen in vier Kategorien, darunter eine für sämtliche Pflegenetze und eine für die Heime, handeln Copas und CNS miteinander aus. Wer mit den Pflegepreisen aus dieser mittleren valeur monétaire nicht auskommt, muss sich anpassen. Bisher hat das weitgehend funktioniert, und seit 2012 ist die valeur monétaire auf Regierungsbeschluss hin eingefroren. Ende 2013 stellten Copas und CNS gemeinsam fest, zur Erhöhung gebe es zumindest 2014 keinen Grund. Ein Jahr später verordnete die Regierung im Zukunftspak eine Verlängerung bis Ende 2016. Danach soll die Reform wirken.

Wenn Schneider nun zeigen lässt, was sich ergibt, wenn die Pflegebetriebe nicht alles abrechnen, demonstriert er, dass offenbar nach wie vor Spielraum besteht beim Durchschnittspflegepreis. Ebenfalls interessant ist aber, wie die hohen Einbußen um theo-retisch 19 Prozent für die Heime und 17 Prozent in der mobilen Pflege zustandekommen: Seit Januar werden „unterstützende“ Pflegeleistungen nicht nur restriktiver, sondern zum Teil gar nicht mehr verschrieben. Für jenen Pflegeakt etwa, der fürs kollektive Einkaufengehen von Heimbewohnern unter Begleitung steht, verzeichnet die CNS einen Rückgang um 99,6 Prozent. Bei Gruppenaktivitäten in Heimen liegt er bei einem Viertel und bei betreuten Gängen zu Behörden oder zum Arzt, die mobile Dienste mit daheim Versorgten unternehmen, bei 70 Prozent.

Wenn dieser Leistungsabbau zu einem der Regierung willkommenen Nullsummenspiel führt, ist das auch eine Vorlage für die Pflegeversicherungsreform: Solche Art von Leistungen zählt zu dem seit jeher umstrittenen soutien, der „Restkapazitäten“ Pflegebedürftiger erhalten oder stimulieren soll, von dem jedoch niemand wirklich weiß, ob das klappt. Sicher ist: Er ist ein Stück Lebensqualität, kostet aber. Im Ausland zahlen Pflegebedürftige dafür selber. In Luxemburg machte der soutien 2013 fast 27 Prozent der Pflegeausgaben aus, Tendenz steigend.

Der Koalitionsvertrag von DP, LSAP und Grünen hält fest: Es sei „wichtig“, die Pflegeversicherung „auf ihre Basisprinzipien zu rezentrieren“: Hilfen bei der Nahrungsaufnahme, der Körperpflege und der Fortbewegung. Nimmt man das wörtlich, entstünden daraus eine Grundversorgung, die vermutlich klein genug ausfiele, dass die Staatskasse noch mehr spart, als im Zukunftspak gewünscht wird, und ein Markt für private Zusatzversicherungen. Das durchzusetzen, ist Schneider in der falschen Partei. Aber vielleicht gelingt es ja, hier und dort Hebel anzusetzen, auch mit Hilfe der Gewerkschaften. Beim OGBL wird schon erklärt, „wer selber laufen kann, muss nicht in den Cactus begleitet werden“, und mit Romain Schneider ist man sich einig, dass stundenlanges Fernsehen in der Gruppe keine Unterstützungs-Pflegeleistung in den Heimen sei. Was am Ende übrig bleibt, soll „Qualität“ heißen. Über die will Schneider Einigkeit, ehe von Geld die Rede sein soll. Danach würde entschieden, wie man diesen Konsens finanziert. Notfalls durch eine Beitragserhöhung, und wenn es gar nicht anders geht, auch durch Eigenbeteiligungen.

Peter Feist
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