In der Debatte um ein neues Orientierungsverfahren am Ende der Grundschule betont das Schulministerium die Verantwortung der Eltern. Aber ist das pädagogisch sinnvoll?

Immer Ärger um die Orientierung

d'Lëtzebuerger Land du 24.07.2015

Wenn es nach ihnen ginge, wäre die Sache schnell geklärt: Eltern fordern schon seit Jahren, dass sie darüber (mit)entscheiden sollen, welche Schule ihr Kind nach sechs Jahren in der Grundschule besuchen soll. Dementsprechend freudig begrüßte der Elterndachverband Fapel die Pläne von Erziehungsminister Claude Meisch (DP), das Orientierungsverfahren am Ende der Grundschule zu überdenken und insbesondere die Eltern stärker einzubinden.

Am vergangenen Montag – so mancher Lehrer war da schon in den Sommerurlaub gedüst – stellte Meisch die Eckpunkte seiner Reform des so genannten Passage primaire post-primaire vor: Demnach sollen Eltern künftig gemeinsam mit dem Klassenlehrer und dem betreuenden Lehrerteam entscheiden, welcher Sekundarschulzweig für ihr Kind am Ende des Zyklus 4.2. am geeignetsten erscheint. Nur im Konfliktfall, also wenn sich Eltern und Lehrer nicht einig werden, soll eine speziell eingesetzte Kommission über die Orientierung entscheiden.

Zudem sollen Mütter und Väter anstatt wie bisher nur im letzten Schuljahr der Grundschule bereits zu Beginn des vierten Zyklus über die Stärken und Schwächen ihres Kindes informiert werden, so dass sie eine Vorstellung davon bekommen, welcher Schulzweig – Enseignement secondaire, also Classique, Enseignement secondaire technique oder Régime préparatoire – sich am besten für ihren Sohn oder ihre Tochter eignet. Ziel sei es, diese Zeit für „Kurskorrekturen“ zu nutzen, um Defizite der Kinder gezielt aufzufangen, so Claude Meisch, der auch den Förderunterricht (Appui) verbessern will. Wie das neue Verfahren aussehen soll, wollte der Minister am Montag nicht verraten. Er will sich im Herbst mit den Schulpartnern zusammensetzen und beraten. Für 2016/2017 soll die neue Prozedur stehen.

Doch der SNE meldete sich jetzt schon mit einer empörten Pressemitteilung zu Wort: Mit der geplanten Regelung liege die „Hauptlast der Entscheidung beim Lehrerteam im Allgemeinen und beim Klassenlehrer im Besonderen“, so die Grundschullehrervertretung, die sich sorgt, dass im Konfliktfall der Lehrer „zum Sündenbock“ der Eltern werde und die Grundschullehrer einem „enormen Erwartungsdruck ausgesetzt“ würden. Eine Reform der bestehenden Prozedur sei unnötig, da sie „zur Zufriedenheit der meisten Grundschullehrer“ verlaufe, so der SNE weiter, schließlich hätten sich 2014 in einer Mitgliederumfrage 89 Prozent der befragten Grundschullehrer für die bestehende Prozedur ausgesprochen.

Der SEW äußerte sich bisher nicht zu den Grundzügen, allerdings hatte sich die Gewerkschaft in der Vergangenheit stets kritisch über den selektiven Charakter der Orientierung geäußert – zuletzt im Kontext der „School-Leaks“-Affäre. Auch eine Entscheidung durch die Eltern hatte der SEW eine Zeit lang befürwortet. Beim „School-Leak“ hatten zwei Lehrerinnen unrechtmäßig vertrauliche Prüfungsfragen der so genannten Épreuves communes veröffentlicht und an Schüler zum Üben ausgehändigt – offenbar als eine Form des Protests, weil diese Fragen ohnehin kursieren würden. Das Ministerium entschied daraufhin, die Lehrerinnen zu suspendieren und die Prüfungen wiederholen zu lassen.

Die öffentliche Entrüstung über die Affäre und die Entscheidung des Schulministers zeigte vor allem eines: Dass die Épreuves communes längst nicht mehr nur ein Element im Orientierungsverfahren sind, um den Leistungsstand eines Schülers für die Sekundarstufe zu ermitteln. Vielmehr werden sie in der Öffentlichkeit als eine Art Abschlussprüfung gesehen, die Aufschluss darüber geben soll, wohin ein Schüler orientiert wird. Auch wenn das vom Gesetzgeber ursprünglich so nicht gedacht war.

Eigentlich sind die Tests im Orientierungsverfahren wie es heute noch existiert, nur ein Element von mehreren: Bislang entscheidet ein Gremium, der Conseil d’orientation, aus Inspektor, Grundschul- und Klassenlehrer sowie Sekundarschullehrer anhand der Noten am Ende der Grundschule, den Resultaten der Épreuves communes und des individuellen Lernprozesses und der Motivation über den Werdegang eines Schülers. Wenn Eltern dies wünschen, kann ein Psychologe hinzugezogen werden, um die Intelligenz und das kognitive Potenzial ihres Kindes besser einzuschätzen.

Mit dem 1996/1997 eingeführten Orientierungsrat, der das alte Zulassungsexamen ablöste, sollte die Orientierung transparenter und nachvollziehbarer werden, so die Hoffnung. Dass das nicht wirklich eintraf, zeigte eine Untersuchung aus dem Jahr 2006. Demnach war man von dem eigentlichen Ziel, die Stärken und Schwächen der Schüler mit den beruflichen Wünschen zu verbinden und ihnen einen passenden schulischen Weg dorthin aufzuzeigen, noch „sehr weit entfernt“, hieß es damals selbstkritisch.

Die Eltern hatten und haben in dem Verfahren außer einer schriftlichen Stellungnahme ansonsten kaum etwas zu sagen. Sie sind Zaungast eines Verfahrens, das sich in ihren Augen teils wie ein Blackbox darstellen muss. Sind sie mit der Empfehlung nicht einverstanden, bleibt ihnen nur, ihr Kind durch ein Examen zu schicken, damit es doch noch das begehrte Eintrittsticket in die gewünschte Schulform erhält. Viele Eltern, so die Fapel in ihrer jüngsten Stellungnahme, verzichteten aber auf den Schritt, weil sie „ihrem Kind den zusätzlichen Stress ersparen“ wollen. Oder sie ziehen vors Gericht. In rund 14 Prozent der Fälle im vergangenen Jahr wich die Einschätzung des Lehrpersonal und der Eltern voneinander ab; meistens handelte es sich dabei um Eltern, die für ihr Kind den Besuch eines höheren Schulzweigs, Classique oder Technique, wünschten. Indem Eltern nun ein Jahr vor dem Wechsel eine prognostische Empfehlung bekommen, hofft das Ministerium, den Schülern wie den Eltern böse Überraschungen zu ersparen.

Die Rechnung zumindest könnte aufgehen. Studien aus dem Ausland zur zweijährigen Orientierungsstufe, wie sie in verschiedenen Bundesländern in Deutschland existiert, zeigen, dass mit der Orientierungsstufe die Entschlossenheit der Eltern abnimmt, eine Übertrittsempfehlung anzufechten. So heißt es in dem Gutachten zur niedersächsischen Orientierungsstufe des Deutschen Instituts für internationale pädagogische Forschung vom Oktober 2001, dass „die Häufigkeit des Abiturwunsches sinkt und die Bereitschaft, einen Hauptschulabschluss zu akzeptieren, zunimmt“. Die Forscher beschreiben dies als „Desillusionierungseffekt der Orientierungsstufe“.

Dabei ist ein kritischer Blick auf Eignungsempfehlungen dringend geboten: Schulerfolg und Empfehlung fallen oft auseinander. Im Jahr 2004 sorgte die Iglu-Grundschulstudie in Deutschland für Aufsehen: Nicht nur, dass Kinder aus Migrantenfamilien und aus sozial schwachen Familien deutlich schlechter bei den Lesetests abschnitten. Sie sind es auch, die bei den Übergangsempfehlungen am Ende der vierten Klasse systematisch benachteiligt werden. Der Sohn einer Chefärtzin hat dreimal höhere Chancen ein Gymnasium zu besuchen als die Tochter eines Arbeiters, selbst wenn sie dieselben Leistungen zeigen. Insgesamt erhielt fast die Hälfte aller untersuchten Schülerinnen und Schüler falsche Schulempfehlungen.

Eine vergleichende Analyse aus Hamburg von 2011 fand heraus: Ein Drittel der dortigen Realschulabschlüsse wurde an Hauptschulen erreicht, und rund 13 Prozent des Altersjahrgangs verließen im Untersuchungszeitraum die Realschule mit dem Erweiterten Sekundarschulabschluss. Obwohl rund 40 Prozent der Schüler aus Haupt- und Realschule am Ende der Sekundarstufe 1 in die gymnasiale Oberstufe hätten wechseln können, betrug die tatsächliche Quote nur 28 Prozent. Viel Bildungspotenzial, das ungenutzt brachliegt.

In Frankreich werden Schüler erst nach dem vierten Sekundarschuljahr entweder in einen allgemeinen oder technischen Zweig oder einen professionellen Zweig orientiert. Forscher der Universität Aix-en-Provence wiesen in qualitativen Befragungen nach, dass auch die spätere verbindliche Orientierung durch die Lehrer beeinflusst ist von sozialen Annahmen und Vorurteilen und dass Schüler mit Migrationshintergrund oder von sozial schwächeren Familien öfters in den Professionnelle orientiert werden.

In Luxemburg kam eine Studie der Uni Luxemburg von 2013, die Übergangsentscheidungen des Jahrgangs 2008/2009 unter die Lupe nahm, zu dem Schluss: Die Schüler verblieben mehrheitlich auf den ihnen angeratenen Schulstufen. Doch als die Forscher ihre Leistungen in der 9e überprüften, wurde deutlich, dass die Leistungen zwischen EST- und ES-Schülern sich teilweise überlappen. Anders ausgedrückt: Sie wurden in einem Schulzweig unterrichtet, der nicht ihren Kompetenzen entsprach, aber weil Versetzungen insbesondere auf eine höhere Schule in Luxemburg selten sind, verharren sie auf dem einmal angeratenen Niveau. Die Autoren kommen zum Schluss, dass „Fehlklassifikationen von Schülerinnen und Schülern aufgrund der Sekundarschulempfehlung durch Klassenwiederholungen kompensiert“ zu werden scheinen.

Einer weiteren qualitativen Untersuchung derselben Autoren zufolge wurden Lehrer in ihrem Urteil gerechter und ließen sich weniger von sozialen Vorurteilen leiten, wenn sie ausdrücklich im Vorfeld auf die Bedeutung der Orientierung und ihre Verantwortung hingewiesen wurden.

Doch trotz der gravierenden Mängel der aktuellen Prozedur bleibt zu beweisen, ob eine größere Verantwortung der Eltern die Probleme beheben würde. Eltern hören dies nicht gerne, aber Untersuchungen ergeben, dass wenn Eltern über den Bildungsweg ihrer Kinder allein entscheiden, dies die soziale Schieflage meistens verschärft. In Nordrhein-Westfalen gab es 2006 durch den Wechsel der Landesregierung eine Reform von freien Elternentscheidungen zu bindenden Übergangsempfehlungen. Eine Analyse der Uni Mannheim vor und nach der Reform zeigte, dass bei freiem Elternwillen insbesondere Eltern mit Abitur ihr Kind trotz schlechter schulischer Leistungen aufs Gymnasium schickten. Durch die Einführung verbindlicher Empfehlungen verringerte sich dieser soziale Effekt.

Und auch eine zweijährige Orientierungsphase, das zeigen Erfahrungen mit der 2003 in Niedersachsen abgeschafften Orientierungsstufe, führt alle hehren Ansprüchen zum Trotz nicht automatisch zur besseren Förderung lernschwacher Schüler. Im Gegenteil: Lehrer scheinen die Erwartungen der jeweiligen Schulstufe zu antizipieren; der Unterricht ist auf der Orientierungsstufe eher lehrer- als schülerzentriert, was insbesondere für schwächere Schüler problematisch sein kann. Sie sind es auch, die häufiger von gestiegenem Konkurrenzdenken, Leistungsdruck und Versagensängsten berichten.

„Wir kennen die Studien. Uns geht es darum, die Eltern früher aufzuklären. Heute stehen viele Eltern einem Schulsystem gegenüber, das ihnen oft unbekannt ist“, sagt Luc Weis vom Erziehungsministerium und nennt als Beispiel die Allet-Klassen, für Schüler mit einer Schwäche im Deutschen, die vor über zehn Jahren mit 150 Schülern startete und dieses Jahr von nur rund 140 Schülern besucht werde. „Eigentlich müssten tausend Kinder das Angebot nutzen“, so Weis, der die Reform der Eignungsprozedur koordiniert. Ziel der Änderungen sei es daher, Informationen über die Orientierung, Schulangebote und Lernanforderungen „breiter zu streuen“ Dann könnten auch bildungsferne Eltern höhere Aspirationen für ihre Kinder hegen, glaubt Weis.

Es gibt in der Tat gute Gründe, das erst 2012 geänderte Verfahren zu hinterfragen, nicht nur wegen der Kritik von Eltern: Seit Jahren nimmt die Zahl der Schüler ab, die in den Classique orientiert werden. Und während der Technique stabil bleibt, wächst zugleich der Anteil der Schüler, die in den Régime préparatoire orientiert werden. Jüngsten Zahlen zufolge landen nunmehr fast 17 Prozent der Schüler im Modulaire, weil sie erhebliche Sprach- oder Rechenschwächen haben oder aus anderen Gründen dem Unterrichtsstoff des Technique nicht folgen können. Wer aber einmal im Préparatoire landet, für den sinken die Chancen, die Schule mit einem guten Abschluss zu verlassen.

Schuld daran ist nicht nur ein undurchsichtiges Orientierungsverfahren, die Probleme reichen tiefer: nämlich bei den Lernanforderungen und den Lehrern selbst. „Der Knackpunkt liegt bei einer ungenügenden Diagnostik und einer unzureichenden Förderung“, ist Romain Martin, Bildungsforscher an der Uni Luxemburg, überzeugt. Schulminister Meisch hat angekündigt, die Programme in der Grundschule besser mit den Leistungsanforderungen der Sekundarschule abzustimmen.

Wesentliche Rolle beim Schulversagen spielen die hohen Sprachanforderungen auf der Sekundarstufe. Das ist beileibe keine neue Erkenntnis. Doch während in der Grundschule diverse Projekte laufen, den Sprachenunterricht zu überdenken, ist in der Sekundarschulunterricht nicht viel davon zu sehen. Die Sekundarschulreform, die eigentlich genau da ansetzen sollte, steckt fest und bisher ist nicht abzusehen, wann der Minister sie in Angriff nehmen wird. Oder ob überhaupt, denn es gibt Stimmen, die munkeln, die Reform solle ganz aufs Eis gelegt werden, um stattdessen lediglich die – weniger umstrittene – Autonomie der Schulen auszubauen.

„Schüler scheitern wegen der Sprachprobleme, obwohl sie das kognitive Potenzial haben, bessere Resultate zu erzielen. Dies wird von vielen Lehrern wegen der Sprachlastigkeit unseres Schulsystems nicht erkannt“, beschreibt Romain Martin das Problem. Er plädiert dafür, das Schulangebot stärker zu differenzieren und Angebote an diejenigen Schülern zu machen, die „sprachlich vielleicht nicht so gut, aber dafür mathematisch und naturwissenschaftlich begabt sind“.

Doch so richtig es ist, das Schulangebot auszuweiten (die Orientierung erst nach der 9e vorzunehmen, wird gar nicht diskutiert, so tabuisiert ist der Tronc commun inzwischen), so wichtig wäre es, genauer auf die Arbeit der Lehrer zu schauen. Während Jahr um Jahr Schülerleistungen und Schulversagen akribisch gemessen werden, gibt es erstaunlich wenig Untersuchungen darüber, welchen Anteil die Unterrichtsqualität und die Lehrerausbildung an der Leistung eines Schülers hat. Wie viele Lehrer bieten ihren Schülern einen auf sie abgestimmten Lehrplan, wie viele wissen zu differenzieren – und tun dies auch? Wie werden sie in ihren Bemühungen unterstützt? Welche erfolgversprechenden Förderansätze gibt es? Wie viele Lehrer sind in der Lage, präzise Diagnosen über die kognitiven Potenziale ihrer Schüler abzugeben? „Die Lehrer müssen die Augen aufmachen für andere Kompetenzen“, fordert Romain Martin von der Uni Luxemburg.

Genau das könnte die Schwachstelle auch der neuen Prozedur werden: Wenn wie bisher am hohen Stellenwert der Hauptfächer Deutsch, Französisch und Mathematik bei der Versetzung festgehalten wird, wenn andere Kompetenzen, das Arbeitsverhalten, die Lernmotivation wenig zählen, wenn die individuelle Förderung nicht deutlich verbessert wird, gerade für diejenigen, die zuhause nicht auf Hilfe hoffen können, wenn lieber mal eine Klassenwiederholung angeordnet wird statt methodisch-didaktisch umzudenken und Schulen weiterhin nach oben starr und nahezu undurchlässig bleiben, dann dürfte das neue Verfahren kaum bessere Resultate erzielen als das aktuelle. Nur dass anstelle der Lehrer nun die Eltern die Zufriedenen wären. Aber ist die Schule nicht für die Schüler da?

Ines Kurschat
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