Es scheint ungemein viel Fantasie nötig, um sich eine ganz andere Verfassung vorzustellen

Die Alternative

d'Lëtzebuerger Land du 09.09.2016

Was aus der ersten Gesamtrevision der Verfassung wird, die François Biltgen (CSV) einst ein unverantwortliches „Abenteuer“ und Jean-Claude Juncker (CSV) ein „Jahrhundertwerk“ genannt hatte, ist, wie so oft, seit die Idee 1984 in Umlauf gesetzt wurde, wieder schwer abzusehen: Der Staatsrat will in den nächsten Monaten ein Gutachten über die neusten Änderungsanträge vorlegen, die vor allem auf seine eigenen Vorschläge zurückgehen, und die CSV versucht möglichst unauffällig, ein Referendum über die Revision zu verhindern, so lange sie in der Opposition ist.

So ist das Interesse am neuen Verfassungstext längst erlahmt und das kann nicht überraschen. Weil die Verfassung einen Konsens über die Grundregeln der Gesellschaft festhalten soll, sie aber seit jeher unter Ausschluss der Öffentlichkeit verfasst und verändert wurde, hat sie, mit Ausnahme einiger Politiker und Juristen, niemand gelesen und interessiert sie niemand. Der Revisionsentwurf wurde schon 2009 hinterlegt und auch er ist weniger das Summum der Erkenntnis, als ein Kompromiss, den die Parteien unter Ausschluss der Öffentlichkeit im parlamentarischen Ausschuss der Institutionen und der Verfassungsrevision ausgehandelt haben.

Entsprechend begrenzt sind die Ambitionen der geplanten großen Revision: Bisher gefiel es den regierenden CSV-Premierministern, die aus dem Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhundert stammende Verfassung wie das Alte Testament nach Gutdünken metaphorisch zu interpretieren. Doch seit es allerlei europäische Gerichtsinstanzen und ein Verfassungsgericht gibt, das die Verfassung liest wie die Zeugen Jehovas die Bibel, soll der Text modernisiert werden. Nicht zuletzt weil der Anschein einer Operettenmonarchie dem Standort schaden kann.

Kein Wunder, dass die überraschendsten Beiträge zur Verfassungsdiskussion von außen kommen. Unter dem Schock des Referendums vom vergangenen Jahr hatte das Parlament im letzten Augenblick einen öffentlichen Aufruf gemacht, um Vorschläge zur Verfassungsrevision auf seiner Internet-Seite zu sammeln. Bezeichnenderweise verlangten die rund 100 Teilnehmer vor allem, zusätzliche Rechte in die Verfassung zu schreiben, die über die als negative Rechte gegenüber dem Staat verfassten bürgerlichen Freiheiten hinausgehen.

Dies ist eine implizite Kritik daran, dass der parlamentarische Ausschuss sich während Jahrzehnten mit der Gewährung positiver Rechte der zweiten und dritten Generation, vom Sozial­staat bis zum Umweltschutz, schwertat, weil dies gegen den liberalen Grundkonsens verstieß und die Angst vorherrschte, dass solche Rechte einmal vor Gericht einklagbar würden. Auch bei der nun vorbereiteten Revision hieß es bald, eine Verfassung dürfe nicht zu einer Art Wahlprogramm ausarten, bald, dass solche Rechte bereits in internationalen Konventionen enthalten seien, die als Rechtsnorm über der Verfassung stünden. Leider reichte die Fantasie der Autoren auf der Internet-Seite des Parlaments selten aus, um sich unter neuen Rechten mehr als der Schutz der Pelztiere und der Luxemburger Sprache vorzustellen.

Der bisher mit Abstand kohärenteste Versuch einer Alternative zur bestehenden Verfassung und zum Kompromissentwurf des parlamentarischen Ausschusses stammt aber von déi Lénk, ein im Februar von dem ehemaligen Abgeordneten Serge Urbany hinterlegter Revisionsvorschlag als „Ergebnis einer langen gemeinsamen Arbeit“, deren „Hauptverdienst“ dem ehemaligen Abgeordneten und Philosophielehrer André Hoffmann zukomme. Denn die 203 Artikel lange Fleißarbeit ist nichts Anderes als der Versuch eines vollständigen Gegenentwurfs zu allen Texten, eine gemäßigt linke, humanistische Gegenverfassung, partizipativ, sozial, gender-betont und umweltbewusst. Der Textvorschlag inspiriert sich unter anderem an rezenteren europäischen Verfassungen sowie dem Entwurf einer neuen Verfassung, der nach dem Schock der Finanzkrise in Island ausgearbeitet, aber dann nie in Kraft gesetzt wurde.

Fast 100 Jahre nachdem der 72-jährige Emile Servais für einen Tag zum ersten Präsidenten der Republik Luxemburg ausgerufen worden war, eröffnet der Verfassungsvorschlag von déi Lénk mit einem Paukenschlag: „Art. 1er. Le Luxembourg est un État de droit démocratique, social, laïque, indépendant, indivisible, fondé sur le pouvoir des citoyennes et des citoyens, la séparation des pouvoirs législatif, exécutif et judiciaire, la protection des droits et libertés fondamentaux, l’égalité. Il porte la dénomination: ‚République du Luxembourg’.“

Das Staatsoberhaupt, abwechselnd ein Präsident und eine Präsidentin, soll eine rein symbolische Funktion erfüllen und deshalb nur indirekt, vom Parlament, für ein einmaliges Mandat von sechs Jahren gewählt werden (Artikel 157). Die Kammerwahlen sollen laut Artikel 88 und 90 in einem einzigen, landesweiten Wahlbezirk nach einem strengen Verhältniswahlrecht erfolgen. Vorgesehen sind auch gesetzgeberische Ini­tiativen von Bürgerkomitees, wenn sie die Unterschriften von 0,5 Prozent beziehungsweise 2,5 Prozent der Wahlberechtigten versammeln können. Der Entwurf macht einen Unterschied zwischen der für die politische Mitentscheidung wichtigen Staatsbürgerschaft und der Nationalität. Die Staatsbürgerschaft soll laut Artikel 11 jeder bekommen, der die Luxemburger Nationalität hat oder seit fünf Jahren im Land wohnt.

Anders als die bestehende Verfassung und der Revisionsentwurf, die der Regierung freie Hand lassen wollen, hält sich die linke Gegenverfassung nicht mit politischen Aufträgen zurück: Der Staat soll etwa zur Auflösung der Militärblöcke und zur Vertiefung der europäischen Staatsbürgerschaft beitragen (Artikel 8 und 9). In Artikel  7 wird die Nachhaltigkeit zum übergeordneten Staatsziel erklärt, sowohl wirtschaftlich wie sozial, ökologisch und kulturell, was immer das auch konkret heißen mag.

Vor allem aber beschäftigt sich der Revisionsvorschlag in mehr als anderthalb Dutzend Artikeln mit dem Sozialstaat, von der Arbeitszeit über den Mindestlohn und den Kündigungsschutz bis zum Recht auf Wohnen, auf eine Pflegeversicherung und laut Artikel 66 auf einen gerechten Anteil am produzierten Reichtum, um in Würde zu leben. Was ein gerechter Anteil ist, ist eine, je nach Wertlehre, politisch wie ökonomisch vertrackte Frage, die auch nicht im Artikelkommentar beantwortet wird und hoffentlich nicht einem Gericht überlassen werden soll. Artikel 71 beschränkt den Schutz des Eigentums nicht nur auf das Privateigentum, sondern weitet ihn auch auf das gesellschaftliche und genossenschaftliche aus, um so beispielsweise die Privatisierung öffentlichen Eigentums zu verhindern.

Die anfangs als korporatistischer Angriff auf die Gewerkschaften verschrienen Berufskammern sollen beibehalten werden. Mit Artikel 181 soll sogar als „Comité de développement“ die längst vom Koordinationsausschuss verdrängte Ple­narversammlung der Tripartite verewigt werden, wenn auch um das Parlament und die Zivilgesellschaft erweitert, damit sie mittel- und langfristig die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung koordiniert.

Die kleine Partei links der LSAP ist sichtlich bemüht, die Errungenschaften des Sozialstaats und der Sozialpartnerschaft gegen die neoliberale Offensive der vergangenen Jahrzehnte und die vierte Industrielle Revolution von morgen zu verteidigen. Weil sie offenbar daran zweifelt, dass dieser Kampf auf der Straße erfolgreich sein wird, will sie – mit Ausnahme der automatischen Indexanpassungen – zur Sicherheit möglichst viele Errungenschaften in den Marmor der Verfassung meißeln.

Ein Kapitel über die Staatsfinanzen unterstreicht die soziale Umverteilungsfunktion der Steuern, (Artikel 181), verbietet aber nicht das Souveränitätsgeschäft auf Kosten ausländischer Steuerämter. Der Entwurf stellt auch der EU-Politik, die einer Defizitbremse und der institu­tionalisierten Austeritätspolitik Verfassungsrang einräumen will, keine gezielten Regeln entgegen.

Der alternative Verfassungsvorschlag von déi Lénk ist umso mutiger, als ihm eine linke Staatstheorie fehlt. Aber sowieso ist eine fortschrittliche Verfassung vielleicht ein Oxymoron. Denn eine Verfassung ist als Heilige Schrift des säkularen Staats ein konservatives Regelwerk, das dem Staat, dem Gesetzgeber und den gesellschaftlichen Gruppen aus der Erfahrung der Vergangenheit heraus Grenzen möglicher Veränderungen für die Zukunft setzt. Auch wenn das in der Praxis dazu führen kann, dass einzelne Artikel der Verfassung während der vergangenen Jahrzehnte im Jahresrhythmus und öfters geändert wurden.

Deshalb lieferte die Regierung einen unerwarteten Beitrag zur Debatte über die Revision der Verfassung, als sie nach den Terroranschlägen in Paris überstürzt dem Vorschlag des Staatsrats nachkommen wollte, die in Artikel 32.4 der Verfassung vorgesehene Möglichkeit des Ausnahmezustands bei internationalen Krisen und einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung auch auf nationale Krisen auszuweiten. Bei einer Podiumsdebatte im Mai hatte der Verfassungsrechtler Luc Heuschling daraufhin die Verfassung so radikal wie kein anderer in Frage gestellt, als er den Revisionsvorschlag mit spitzen Fingern in die Höhe hielt und fragte: „Wenn Cattenom explodiert, rettet uns dann dieser Text?“ Eine Frage, die nicht nur für nukleare, sondern auch für politische und gesellschaftliche Explosionen gilt. Louis Michael Seidman, einer der führenden Verfassungsrechtler der USA, geht in seinem Buch On constitu­tional disobedience sogar so weit, nicht nur das oft sehr konservative Verfassungsgericht der USA, sondern die Verfassung als solche zu verwerfen. Denn eine Verfassung habe in Krisenzeiten selten die bürgerlichen Freiheiten geschützt und messe ein Gesetz nicht an seinem aktuellen Verdienst, sondern daran, was Verfassungsväter vor zwei Jahrhunderten für ziemlich hielten.

Romain Hilgert
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