Großbritanniens Europa-Skeptiker im Aufwind

Inseldenken

d'Lëtzebuerger Land du 20.06.2014

David Cameron hat es geschafft: Zum ersten Mal seiner Amtszeit konnte er seine Partei, den Koalitionspartner und sogar die Opposition einen. „Alle großen britischen Parteien sind sich nun in einem Punkt einig: Jean-Claude Juncker soll nicht Präsident der Europäischen Kommission werden,“ tweetete er am 9. Juni. Der britische Premier will verhindern, dass Luxemburgs ehemaliger Premier, den man in Großbritannien als EU-Urgestein und gefürchteter Föderalist sieht, an der Spitze der Kommission kurzen Prozess mit britischen Forderungen machen wird.

Denn Juncker will mehr Europa, Cameron jedoch weniger. Der britische Premier wünscht sich deshalb einen Kommissionspräsidenten, der verstehe, „dass die Dinge in Europa manchmal am besten auf nationaler Ebene geregelt werden,“ argumentierte er in einem Gastbeitrag in einigen europäischen Zeitungen.

Um seine Wahl an den europäischen Bürger zu bringen, gibt sich Cameron sogar als Hüter der EU-Verträge. Er betont, dass die Regierungschefs den Kommissionspräsidenten vorschlagen und dabei die Ergebnisse der Europawahlen berücksichtigen müssen. Von den vorgeschlagenen Kandidaten wählen die Abgeordneten des Europäischen Parlaments dann einen Kommissionspräsidenten. „Das ist der Prozess, der im Vertrag von Lissabon nach langwierigen Verhandlungen über die richtige Balance zwischen den Nationalstaaten und dem EU-Parlament verankert wurde“, sagte Cameron der Süddeutschen Zeitung. „Die Bürger, die zur Wahl gingen, wollten ihren Europaabgeordneten wählen, nicht den Kommissionspräsidenten. Juncker kandidierte nirgendwo und wurde von niemandem gewählt“, fügte er hinzu.

Das Theater um den Spitzenkandidaten haben sich die Pro-Europäer selbst zuzuschreiben. In Großbritannien kannte vor der Wahl kaum jemand Martin Schulz oder Juncker, teils auch weil deren Kampagnen – man denke an Junckers Bustour – einen großen Bogen um die Insel machten. Angela Merkels plötzliche Meinungsänderung über ihren bevorzugten Spitzenkandidaten brachte das Fass dann zum Überlaufen: Während die meisten Wähler in Großbritannien nach der Wahl das erste Mal von Spitzenkandidaten hörten, gaben führende Politiker den Eindruck, dass sie entweder selbst vom Wahlprozess überrascht waren, oder, schlimmer noch, sowieso alles hinter geschlossenen Türen ausmachten, Spitzenkandidat hin oder her.

Dies alles ist ein gefundenes Fressen für die Europa-Skeptiker. Camerons Anti-Juncker-Kampagne trägt Früchte – im Inland: Sun-Leser glauben, Junckers Familie und deren angeblichen „Nazi-Verbindungen“ zu kennen. Den früheren Premier nennt das Blatt nun den „gefährlichsten Mann Europas.“ Weniger populistisch, aber bissig berichtet das Satireblatt Private Eye. In der aktuellen Ausgabe steht, Luxemburg habe die ökonomischen Freiheiten der EU unter Juncker ausgenutzt. Dies etablierte das Großherzogtum zum Steuerparadies, das Nachbarländern folglich Steuereinnahmen in Milliardenhöhe wegschnappt. Private Eye untersuchte auch Junckers aggressive Deregulierung im Bereich der Fondsverwaltung. „Mit Qualifikationen wie diesen, wer könnte gegen Junckers Nominierung als oberster Eurokrat sein?“, fragt das Blatt zynisch, ohne freilich auf die britische Klientelpolitik für die eigene Finanzindustrie einzugehen.

Cameron, der die Insel hinter sich wähnt, agierte kühn. Dem Magazin Spiegel zufolge soll er erklärt haben, dass er den Verbleib seines Landes in der Union nicht mehr garantieren könne, falls Juncker den Top-Posten erhält. Dass er im Namen der britischen Wähler ein Erpressungsversuch startet (und das vor dem geplanten EU-Referendum, das in Großbritannien vor 2017 stattfinden soll), ist ironisch, da Cameron selbst für „demokratische Legitimation“ plädiert. Zuhause wird der Premier deswegen jedoch kaum kritisiert. Auch Labour will Reformen in Europa, und „Mr Junckers Bilanz zeigt, dass er diese Reformen schwieriger machen wird“, so die Partei. Die Liberaldemokraten, die europafreundlichste aller britischen Parteien, distanziert sich ebenfalls von der EU. „Wir haben es unseren Gegnern erlaubt, zu suggerieren, wir wären mit dem Status Quo in Brüssel einverstanden – doch das sind wir nicht,“ betonte der Liberalen-Chef Nick Clegg.

Camerons härtere Gangart in Sachen EU und der Opportunismus von Labour und Liberaldemokraten sind eng mit der innenpolitischen Situation verknüpft. Denn für die Volksparteien ist die UK Independence Party (Ukip), die sich bei den EU-Wahlen 27 Prozent der Stimmen sichern konnte, bedrohlicher für die eigene Existenz als die EU mit allen ihren Bürokraten. Ukip, eine populistische Anti-EU-Partei, die auf Flugzetteln Großbritanniens Beziehung zur EU gerne einmal mit dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, war klarer Gewinner der EU-Wahlen. Cameron, der vielen EU-skeptischen Tories nicht skeptisch genug ist, hat viele Stimmen an Ukip verloren. Das Referendum über die EU-Mitgliedschaft, das Cameron versprach unter Bedingung seiner Wiederwahl, durchschauten die Europaskeptiker als pures Taktieren. Diese Lesart, die zunächst nur in informierten Kreisen vorherrschte, wurde nun von der Bevölkerung bestätigt. Die anti-europäischen Töne schlägt Cameron an, um einen Ukip-Erfolg bei den Nationalwahlen nächstes Jahr zu verhindern. Wobei ein Sieg der Nationalisten eher unwahrscheinlich ist, die großen Parteien wollen nur nichts riskieren. Sie versuchen deshalb so europakritisch wie möglich zu wirken, auch wenn sie eigentlich gegen einen EU-Austritt sind und viele die zunehmende Isolierung Großbritanniens vom europäischen Kontinent mit Sorge sehen.

Am Tag, an dem Cameron seinen Anti-Juncker-Tweet in die Welt schickte, saß Cameron zusammen mit Angela Merkel und zwei weiteren Juncker-Kritikern, den schwedischen Premier Fredrik Reinfeldt und seinen niederländischen Homolog Mark Rutte, im schwedischen Harpsund um einen Tisch. Merkel jedoch stellte bei dem Mini-Treffen klar, dass Camerons Austrittsdrohungen nicht im europäischen Geist seien. Kann schon sein, dass sich da jemand am Ende mächtig verkalkuliert.

Claire Barthelemy
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