Über die deutsche Autoindustrie walzt eine Entlassungswelle.
Sie startete bereits vor Corona. Schneller als grüne Ideen
krempelt die Digitalisierung die Branche um

Untergang mit Ansage

d'Lëtzebuerger Land du 23.10.2020

Tausende Explosionen in der Minute, vibrationsfrei gebändigtes Feuer: Deutsche Autos sind Wunder der Technik und Verbrennungsmotoren die seit mehr als 130 Jahren perfektionierte Kernkompetenz deutscher Ingenieurskunst. Eigentlich schade, dass die bald niemand mehr braucht. Wenn Batterien an die Stelle von Benzin und Diesel treten, wenn Car-Sharing-Apps das Automieten vereinfachen, dann werden viel weniger Arbeitskräfte benötigt – und die verbleibende Belegschaft muss andere Qualifikationen haben. Nach Landwirtschaft, Kohle und Banken trifft der Strukturwandel jetzt auch die einst so mächtige Autoindustrie.

Strömungsphysiker und andere Techniker sind beleidigt, denn Elektroautos sind banal: Billige Elektromotoren in einer billigen Kiste, dazu Räder, eine Bremse, Sitze und eine Klimaanlage. Nicht trivial sind bloß die Batterie und die Software. Dafür hätte man allerdings Chemie oder Informatik studieren müssen. Ehrwürdige Lehrstühle für Verbrennungskraftmaschinen, zum Beispiel in Aachen, Kaiserslautern oder München, sind da kaum hilfreich.

Von den über 44 Millionen Beschäftigten in Deutschland arbeiteten im Jahr 2018 rund 4,5 Millionen im Mobilitätssektor, also inklusive Bahn, Schiff- und Luftfahrt, Infrastruktur und Versicherungen. Das Statistische Bundesamt rechnete 834 000 Angestellte direkt der Automobilindustrie zu, die einen Umsatz von 425 Milliarden Euro erwirtschaftete. Werden 620 000 Beschäftigte von Werkstätten, Tankstellen und Autohandel dazugezählt, werkte jeder dreißigste Einwohner in dieser Branche. Vom Auto hängt damit zwar nicht „jeder siebte Arbeitsplatz in Deutschland“ ab, wie Lobbyisten gern behaupten, aber eine Schlüsselindustrie ist der Automobilbau allemal.

E-Autos benötigen nicht nur keine Sounddesigner für Auspuffanlagen. Die Auswirkungen der Elektrifizierung sind tiefgreifend: Während ein Verbrennungsmotor rund 2 500 Teile hat, braucht ein Elektromotor vielleicht 250. Bei E-Fahrzeugen verrostet auch eher die Karosserie als dass der Motor einmal repariert werden müsste. Im Jahr 2017 waren aber in Deutschland noch rund 210 000 Menschen allein mit der Produktion von Antriebssträngen beschäftigt, das heißt mit Motoren, Kupplungen, Getrieben, Antriebswellen und Achsdifferentialen.

Forscher des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart schätzen, dass selbst ohne Elektrifizierung bis zum Jahr 2030 rund 27 Prozent dieser Motor-Jobs gestrichen würden, einfach aufgrund der Produktivitätssteigerung, etwa durch Roboter. Bei einem Anteil von 25 Prozent E-Fahrzeugen rechnen sie mit bis zu 80 000 Jobs, bei 80 Prozent E-Fahrzeugen könnten bis zu 125 000 Arbeitsplätze wegfallen. Die indirekten Folgen für Händler und Werkstätten könnten sogar „um ein Mehrfaches größer sein“. Gleichzeitig ändern sich die Anforderungen: weniger Metall und Mechanik, mehr Elektrik und Elektronik; weniger Facharbeiter in der Produktion, mehr in Informationstechnik und Dienstleistungen. Fazit: „Die Auswirkungen auf die Beschäftigung werden erheblich sein.“

Kaum beschäftigt haben sich die Fraunhofer-Forscher dabei mit der Frage, ob künftig überhaupt noch Millionen Antriebsstränge aus Deutschland benötigt werden. In großen Teilen der Welt ist das Auto zwar als Statussymbol noch unangefochten, Chinesen und Inder bauen sich ihre Träume aber lieber selbst. Zu Hause lässt sich eine gewisse Sättigung nicht leugnen: In Deutschland stieg in den letzten zehn Jahren der Anteil der 18- bis 24-Jährigen, die keinen Führerschein haben, von 14 auf über 20 Prozent.

Schneller als von grünen Ideen und Kulturwandel wird die Autoindustrie von der Digitalisierung umgekrempelt. „Bald sind 40 Prozent der Jobs weg; das ist richtig viel!“, unkt Gunter Dueck. Der ehemalige Chef-Tüftler von IBM tingelt schon seit Jahren durch Deutschland und rechnet vor, dass heute ein Auto im Schnitt nur 13 500 Kilometer im Jahr fährt – eine Auslastung von vier Prozent. Wenn selbstfahrende Taxis die Auslastung nur geringfügig steigern, vielleicht auf 30 Prozent, bräuchte es bloß noch ein Zehntel der heutigen Autos. Und pro Fahrzeug nur ein Drittel des Materials: „Wenn es viel weniger Unfälle gibt und die Sicherheit in der Software steckt, kann die Karosserie auch aus Pappe sein.“ Airbags, Stoßstangen, Rückspiegel – bald ebenso überflüssig wie Lenkräder. Das Publikum nickt dann immer höflich und denkt: „So schlimm wird es schon nicht werden.“ Oder: „Das kommt erst, wenn ich in Rente bin.“ Oder auch: „Google kann gar keine Autos bauen.“ Was man halt so denkt, wenn man nicht glauben will, dass der eigene Job auf der Abschussliste steht.

Und jetzt ist die Zukunft plötzlich da. Bereits vor Corona startete eine Entlassungswelle in der deutschen Autoindustrie; der Absatz- und Gewinn-Einbruch in Folge des Lockdown wirkt nun lediglich als Brandbeschleuniger. Kleinere Zulieferer, die sich oft auf einzelne Teile spezialisiert haben, schlittern bereits reihenweise in die Insolvenz. Ganz schlechte Aussichten haben Diesel-Standorte: Beim LKW- und Bus-Hersteller MAN sollen allein in München und Nürnberg 4 000 Stellen wegfallen. Gleichzeitig geht die Verlagerung in Niedriglohnländer weiter: Bosch-Lenksäulen zum Beispiel werden künftig in Ungarn gefertigt, wo Bosch bereits heute der größte industrielle Arbeitgeber ist. Continental schließt das Reifenwerk in Aachen, obwohl Autos auch künftig Räder haben. Für den VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh ist die Pandemie ohnehin nur ein Vorwand für „Tarif- und Standortflucht“.

Die Wucht des Kahlschlags wird sich erst in einigen Jahren genauer beziffern lassen. Noch haben viele deutsche Standorte „Beschäftigungsgarantien“, und die Gewerkschaften verhandeln über die Modalitäten der „strategischen Umstrukturierung“. BMW zum Beispiel möchte 6 000 Stellen ohne betriebsbedingte Kündigungen abbauen. Bei Bosch in Stuttgart wurden nach dem Ende der Corona-Kurzarbeit im August für 35 000 Beschäftigte vorerst lediglich die Arbeitszeit und die Gehälter um zehn Prozent gekürzt. ZF Friedrichshafen entwickelt keine Komponenten für Verbrennungsmotoren mehr und will allein in Deutschland über 7 000 Stellen abbauen. Bis Ende 2022 sollen aber keine Standorte geschlossen werden – dafür die Arbeitszeiten um bis zu 20 Prozent gekürzt.

Autohersteller und Zulieferer kämpfen um E-Antriebe und Software, die Jobs der Zukunft. Daimler etwa will die Fertigung der elektrischen Antriebsstränge selbst übernehmen. Im Stammwerk Untertürkheim entstehen deshalb 350 neue Arbeitsplätze. Dagegen sollen dort von den 19 000 heutigen Stellen rund 4 000 gestrichen werden. Die VW-Tochter Audi will 9 500 Stellen abbauen, gleichzeitig aber 2 000 Spezialisten für E-Mobilität und Digitalisierung einstellen.

Netto wird in Deutschlands Autobranche bis 2040 ein Viertel bis die Hälfte aller Jobs verloren gehen, schätzt eine im Juni veröffentlichte Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums. Panisch eilen Politiker von einem „Autogipfel“ zum nächsten. CSU-Chef Markus Söder fordert Kaufprämien auch für Benzin- und Diesel-Autos, weil „ohne eine solche Brücke unzählige Arbeitsplätze gerade in Bayern gefährdet“ seien.

Börsianer wetten nicht auf die Rettung der Dinosaurier: Der US-Winzling Tesla, der im vergangenen Jahr gerade einmal 368 000 E-Autos fertigte, wird derzeit mit einem Wert von über 330 Milliarden Euro gehandelt – 100 Milliarden mehr als alle großen, börsennotierten Autohersteller aus Deutschland zusammen. Deutsche Ingenieure sind aber überzeugt, dass diese „Spekulationsblase“ bald platzen wird: Tesla-Modelle haben oft so einen unschönen Spalt bei der Fahrertür.

Die Slums von Detroit lassen grüßen

Bereits vor Corona lief die Autoindustrie nicht mehr rund. Laut der internationalen Organisation der Motorfahrzeughersteller (Oica) wurden 2017 weltweit 97,3 Millionen Autos und Nutzfahrzeuge produziert – 2019 waren es 91,7 Millionen. Nur wenige Länder mit relativ unbedeutenden oder neuen Fabriken verzeichneten noch Wachstum; am stärksten war es in Usbekistan, Portugal und Österreich.

Die Fahrzeugproduktion einzelnen Ländern zuzuordnen, ist fragwürdig. Fast die Hälfte aller „britischen“ Autos wird von den japanischen Firmen Nissan, Toyota und Honda gefertigt, die vom Vereinigten Königreich aus den EU-Markt beliefern. Beziehungsweise bis zum Brexit beliefert haben. Osteuropa dient als Werkbank für „deutsche“ Konzerne, die internationalen Investoren gehören. Die Oica veröffentlicht trotzdem Statistiken für einzelne Länder.

Die Rangfolge bleibt schon seit Jahren weitgehend gleich. An erster Stelle kommt China: In der Volksrepublik wurden im vergangenen Jahr 25,7 Millionen Fahrzeuge produziert (–7,5%) . Dahinter folgten die USA (10,88 Mio.; –3,7%) und Japan (9,68 Mio.; –0,5%). Auf den vierten Platz kam Deutschland mit 4,66 Millionen Fahrzeugen (–9%) – allerdings nur, weil Indien auf den fünften Platz abrutschte. Die indische Produktion ging um 12 Prozent von 5,17 auf 4,51 Millionen zurück.

Nach Mexiko, Südafrika und Brasilien kam Spanien mit 2,82 Millionen Fahrzeugen (+0,1%) auf den neunten Rang, gefolgt von Frankreich (2,2 Mio.; –2,9%). Großbritannien wurde von der Türkei und Tschechien überholt: 1,38 Millionen Fahrzeuge (–13,9%) – das reichte noch für den Welt-Rang 16. Hinter der Slowakei balgte sich Italien mit Polen um den 19. Platz: 0,91 Millionen Fahrzeuge (–13,8%).

Derzeit gibt es bereits 1,3 Milliarden Kraftfahrzeuge. Ob es da noch Millionen neuer Autos braucht, ob man den Verkehr nicht intelligenter organisieren und Fabriken zu Lofts umbauen könnte – darauf geben die Industriestatistiken keine Antwort: www.oica.net/production-statistics • me

Martin Ebner
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