Schlechte Schülerleistungen in Mathematik werfen Fragen zur Unterrichtsqualität, Sprachenpolitik und zum Lehrermangel auf

Mint gewinnt

d'Lëtzebuerger Land du 26.08.2016

Luxemburgs Sekundarschulen suchen händeringend Lehrer in den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften und Französisch. Von 27 freien Stellen für Mathematiklehrer laut Rekrutierungsplan der Regierung konnten im Schuljahr 2015/2016 lediglich zwölf besetzt werden, im Fach Chemie von zehn nur sechs, in der Physik von vier vakanten Stellen eine, von 20 Biologielehrerposten blieben sogar 14 unbesetzt. Und von 27 gesuchten Französischlehrern konnten nur zwölf rekrutiert werden. Das geht aus einer Antwort von Erziehungsminister Claude Meisch (DP) auf die parlamentarische Anfrage des Déi-Lénk-Abgeordneten David Wagner hervor.

Nun ist der Lehrermangel in der Mathematik und in den Naturwissenschaften nichts Neues. Er ist ein Dauerbrenner, der das Ministerium beziehungsweise die Schulen seit Jahren plagt. Schon unter Meischs Vorgängerin hatten Schulen wiederholt den Mangel beanstandet, daraufhin wurden mehr Stellen ausgeschrieben. Der Bedarf konnte trotzdem nicht gedeckt werden. Um dem schlimmsten Druck zu begegnen, setzte Mady Delvaux-Stehres (LSAP) damals ausnahmsweise auf Mathematiklehrer aus Belgien und Frankreich, obwohl das Beamtenrecht eigentlich vorschreibt, dass an öffentlichen Schulen nur Lehrer unterrichten dürfen, die alle drei Amtssprachen fließend können. Zwölf Lehrer wurden auf diesem Wege eingestellt, als Auflage bekamen sie, Luxemburgisch zu lernen. Was sie auch taten: Kürzlich wurden die letzten von ihnen in ihrem Amt bestätigt.

Zudem greift der Staat, das hat Tradition, auf Ersatzlehrer zurück, die Chargés d’éducation. 2014/2015 waren es insgesamt über 1 100 allein für die Sekundarstufe. In den Fächern Mathe stopften 51 Mathe-, 67 Bio-, 15 Geografie-, 21 Chemie- und 15 Physiklehrer/innen die dringlichsten Lücken. Nun plant die Regierung die Rekrutierung der Lehrbeauftragten (erneut) zu reformieren. Künftig soll es zwei Kategorien geben: Ersatzlehrer für kurzfristige Vertretungen mit befristetem Vertrag, beispielsweise, wenn ein Lehrer krank ausfällt, und längerfristiger Ersatz bei echter Personalnot mit unbegristeter Anstellung. Voraussetzung ist der Stage, bei dem die Chargés von einem Tutor, einem erfahrenen Lehrer, angeleitet werden. Allerdings soll dieser für diese Aufgabe nicht mehr freigestellt werden. Martine Hansen, bildungspolitische Sprecherin der CSV, kritisiert zudem, dass wegen des eng definierten Einsatzbereichs unerwartete Engpässe „noch schwerer“ aufgefangen werden könnten. Als ehemalige Direktorin der Ackerbauschule kennt sie die Tücken der Personalsuche gut.

Ersatzlehrer sind mehr als ein Notnagel und aus der Unterrichtsplanung nicht wegzudenken, ohne dass der Schulbetrieb ernsthaft Schaden nehmen würde. Und dennoch: Die strukturellen Ursachen hinter dem chronischen Lehrermangel können auch sie nicht lösen. „Nicht nur bei uns, sondern auch in den Nachbarländern und darüber hinaus fehlen Fachlehrer für Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächer“, bestätigt Michel Lanners, Regierungsberater und Chef der Generalkoordination im Erziehungsministerium. Die sogenannten Mint-Fächer (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) galten lange als nicht sehr attraktiv, was Auswirkungen auf die Studienfachwahl hatte. Derzeit sieht die Lage etwas hoffnungsvoller aus: Laut Cedies, Anlaufstelle für die Vergabe von Studentenbörsen, waren im Jahr 2015/2016 279 Studenten aus Luxemburg für Mathe, 600 für Informatik und 1 386 für Naturwissenschaften beim Cedies registriert. Über tausend waren überdies in ingenieurwissenschaftlichen Fächern eingeschrieben. Was nicht heißen muss, dass diese Lehrer werden. In der Privatwirtschaft werden Mathematiker, Informatiker und Naturwissenschaftler ebenfalls händeringend gesucht und teils mit attraktiven Einstiegsgehältern gelockt. Zudem besteht nicht jeder Kandidat, trotz absolviertem Hochschulstudium, das staatliche Aufnahmeexamen.

Die Regierung hat die Zugangsbedingungen erst kürzlich geändert, nachdem immer wieder Stellen unbesetzt bleiben mussten, weil die Kandidaten auch nach mehrfachem Anlauf scheiterten. Oft lag das an den Sprachanforderungen, aber nicht nur: Die inhaltlichen Fragen waren zu schwer, oder von zweifelhafter Relevanz für den Lehrerberuf. Denn es geht nicht nur um Fachwissen. Angehende Sekundarschullehrer, die im frankophonen Ausland Mathematik oder Naturwissenschaften studiert haben, sind oft fachlich hochqualifiziert: als Biologinnen, Physiker, Mathematiker, teils mit eigenem Spezialgebiet. Aber eben nicht als Lehrer. Die entwicklungspsychologischen, die methodisch-didaktischen Grundkenntnisse mussten sie in der Vergangenheit im von der Uni Luxemburg organisierten zweijährigen Stage nachträglich erwerben. Parallel dazu planten sie Unterrichtsstunden, korrigierten Klausuren, führten Klassen. Der Stage gab seit seiner Einführung viel Anlass zur Kritik. Zu verschult, nicht praxisnah genug, bemängelten Lehrervertretungen. Von Uniseite hieß es, zwei Jahre berufsbegleitendes Praktikum seien zu kurz, um aus Fachspezialisten methodisch versierte Lehrkräfte zu formen, die wissen, wie sie Kindern unterschiedlichen Niveaus und Lerntyps erfolgreich unterrichten. Schließlich wurde der Stage an das Lehrerweiterbildungsinstitut Ifen in Walferdingen abgegeben. Das Ifen bietet außerdem regelmäßig fachspezifische Weiterbildungen in Didaktik und Unterrichtsgestaltung, aber auch in Schülermotivation, Klassenklima und vieles mehr an.

Wie gut der Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften ist, ist schwer zu sagen: Luxemburg hat sich auf Druck der Gewerkschaften um internationale Untersuchungen oft herumgedrückt, die die Unterrichtsqualität und die Kompetenzen des Lehrer im Fokus hatten. Dabei wäre eine Analyse, wie die Coactiv-Mathestudie des Max-Planck-Bildungsinstituts, sicher aufschlussreich: Forscher hatten die professionellen Kompetenzen von Mathelehrern unterschiedlicher Schulstufen analysiert: Fachwissen, didaktisches Wissen, aber auch Kompetenzen in Beratung und Förderung, mit dem Ergebnis, dass die Qualität der Lehrer erheblich schwankte. Je mehr fachdidaktisches Wissen ein Lehrer hatte, desto besser war in der Regel sein Unterricht. Diese Lehrer legten mehr Wert auf Verständnisprozesse, gaben Schülern mehr persönliche Lernunterstützung. Die Coactiv-Resultate, ebenso wie die Ergebnisse einer Anschlussstudie zu Erstausbildung und Referendariat, waren Anlass dafür, die Mathelehrerausbildung in Deutschland komplett zu überdenken.

Minister Claude Meisch hat sich vorgenommen, hiesige Lehrpläne zu entrümpeln und besseres Lehrmaterial entwickeln zu lassen. Eine entsprechende Konvention hat der Minister mit der Uni Luxemburg unterschrieben. Allerdings nutzen entschlackte Programme und neue Bücher nicht viel, wenn nicht zugleich der Unterricht verbessert wird. Luxemburgs Schüler schnitten im Pisa-Test sowohl in der Mathematik als auch in den Naturwissenschaften schlecht ab. 24 Prozent, jeder vierte Schüler, erreichten die Mindestanforderungen in Mathe nicht. Während bei den Naturwissenschaften eine Erklärung für das miserable Abschneiden sicher die geringe Stundenzahl ist, die neben den Sprachfächern für diese Fächer übrigbleiben, gilt dies für Mathe nicht. Laut sagt das niemand, doch miese Schülerleistungen werfen auch die Frage nach der Qualität des Unterrichts und somit den Lehrerkompetenzen auf.

Projekte, wie Mathematics.lu, eine Mathe-Online-Lernplattform, die derzeit an Grundschulen getestet wird und 2018 auf die Sekundarschule ausgedehnt werden soll, sollen den Matheunterricht bereichern. Schüler lösen online Rechenaufgaben aus unterschiedlichen Themenbereichen. Parallel liefert das Programm dem Lehrer Daten zum Lernverhalten seiner Schüler, über Schwächen und Stärken in Echtzeit, denen er mit gezielten Fördermaßnahmen begegnen kann. Das funktioniert aber nur, wenn das Lehrpersonal geschult ist, um die Informationen richtig zu analysieren, wo Denkblockaden und Fehler genau auftauchen. Interessierte Lehrer werden in Weiterbildungen dazu geschult.

Mehr pädagogisch-didaktische und diagnostische Kompetenz aufzubauen, ist ein Ziel des neuen Master of Secondary Education an der Universität Luxemburg, der dieses Semester erstmals startet. Es gibt ihn in drei Disziplinen: Deutsch, Französisch und Mathematik. Bewerben kann sich, wer bereits einen Bachelor in Germanistik, Französisch, französischer Literatur oder Mathematik hat. Im Masterstudiengang sollen Lehreranwärter, neben entwicklungspsychologisches und pädagogisches Fachwissen, unterschiedliche Lehrmethoden lernen, darunter den Einsatz von Computer und Internet, sowie fachdidaktische Kenntnisse erwerben. Noch sind keine Einzelheiten zum Lehrplan bekannt, die Organisatoren waren bis zum Redaktionsschluss nicht zu erreichen. Die Einschreibefrist läuft bis zum 1. September, es soll bereits zahlreiche Anwärter geben.

Im Studium wird zudem ein wichtiger Aspekt näher beleuchtet: der Einfluss der hiesigen komplexen Sprachensituation auf die Bildung. Leistungstests der Uni Luxemburg in Grundschule und auf der Sekundarstufe zeigen, dass die Sprache beim Lösen von Rechen- oder Textaufgaben eine wichtige Rolle spielt. Der Anteil luxemburgischsprachiger Schüler sinkt kontinuierlich, die sprachliche Vielfalt in den Klassen nimmt indes zu. In der Regelschule lernen Schüler Rechnen auf Deutsch, der Sprache, in der sie alphabetisiert werden. Viele müssen die Sprache erst mühsam lernen. Auf der Sekundarstufe wird dann in die Unterrichtssprache Französisch gewechselt. Begründet wurde der Wechsel damit, Schüler könnten so ihre Französischkenntnisse vertiefen und festigen. Untersuchungen aber geben Anlass, diesen vermeintlichen „Selbstläufer“ zu hinterfragen. Die landesweiten Lernstandstests Épreuves standardisées legen nahe, dass der Einfluss der Erstunterrichtssprache Deutsch bei luxemburgischen Schülern auch nach dem Wechsel ins Französische „dominant bleibt“ und dass der Rückgriff auf Französisch „eine zusätzliche kognitive Belastung“ darstellt, wie es im Épstan-Abschlussbericht heißt. Das bedeutet, dass Schüler, die eigentlich die kognitiven Fähigkeiten haben, um anspruchsvolle Mathematikaufgaben zu lösen, wegen der Sprachbarriere ihr Potenzial nicht (vollständig) abrufen können. Die Vergeudung von Talent ist nicht nur ungerecht gegenüber den betroffenen Kindern. In einer Gesellschaft, die seit Jahren einem Fachkräftemangel in den Mint-Fächern gegenübersteht, deren Wirtschaftsmodell (Finanzen, Versicherungen, IT, Satelliten) just auf diesen Kompetenzen aufbaut, ist es zudem sehr fahrlässig.

Ministerium und Schulen haben den Fehler im System erkannt und versuchen gegenzusteuern: In den Lyzeen Redingen und Grevenmacher gibt es Mathe sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch im Angebot. „Die Diversifizierung des Schulangebots ist der Schlüssel für das Problem der großen Schülervielfalt“, sagt Michel Lanners und verweist auch auf Angebote auf Englisch in Differdingen und in Luxemburg-Stadt. Wie sehr Deutsch als kontinuierliche Unterrichtssprache hilft, Matheleistungen zu verbessern, soll eine Evaluation in Zusammenarbeit mit der Uni Luxemburg zeigen. Auf jeden Fall haben sich die Grevenmacher Schüler/innen und die des Atert-Lyzeum in Redingen beim landesweiten Mathewettbewerb Maach Mat(h) dieses Jahr super geschlagen: Sie landeten jeweils auf den vordersten Plätzen.

Ines Kurschat
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