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d'Lëtzebuerger Land du 17.06.2022

Tradition und Weltruhm sind keine Überlebensgarantie: stirbt das bayerische Wirtshaus aus?

Flaschen und Stühle fliegen den Besuchern entgegen, ein Bild von König Ludwig II., Nudelhölzer, Wolpertinger, Sportpokale, eine Kloschüssel, Musikinstrumente, Leberkäse-Formen, aber auch Aktenordner voller Vorschriften. „Das bayerische Wirtshaus explodiert!“, sagt Friedrich Pürstinger. Der Gestalter hat in Regensburg über 400 Fundstücke aus ehemaligen Gasthäusern zu einer Installation vereint. Rund um diesen spektakulären Ausbruch beleuchtet eine Ausstellung im Haus der Bayerischen Geschichte den Aufstieg und Niedergang des Wirtshauses, aber auch Initiativen für eine Wiedergeburt.

Bier, Blasmusik, Brotzeit – was könnte bayerischer sein? „Oktoberfeste“ sind von Oslo bis Osaka ein Exportschlager. Die Stammtisch-Heimat aber siecht. Um 1960 gab es in Bayern noch 23 000 Schankwirtschaften. Im Jahr 2020 waren es rund 3 700 – wobei noch nicht alle Betriebsaufgaben im Gefolge von Corona erfasst sind. Bereits ein Viertel aller Gemeinden hat kein Gasthaus mehr. Nach Kirche, Rathaus, Schule und Post haben viele Dörfer damit ihren letzten Treffpunkt verloren; kleine Brauer, Bäcker und andere Lieferanten müssen ebenfalls zusperren.

Im Freistaat werde die Krise „ganz besonders gespürt“, meint Museumsdirektor Richard Loibl, selbst Spross einer Metzgerfamilie: „Wenn nach stundenlangem Austausch von Fachmeinungen der Status kollektiver Übereinstimmung erreicht wurde und die Stammtischler in ihre Gläser schweigen – da hält das Universum die Zeit an. Im Wirtshaus schlägt das Herz Bayerns.“ Die Ausstellung soll „Lust auf eine Erneuerung des Wirtshauslebens machen“. In einem Dokumentarfilm dazu betont auch der Kabarettist Gerhard Polt die kulturelle Bedeutung der Kneipe: „Der Mensch, der keine Stammtisch-Erfahrung hat, der hat vom Leben fast nichts gelernt.“

Dabei ist die Bierseligkeit weder besonders alt noch bajuwarisch. Wie die „Schwarzwälder Kuckucksuhr“ ist auch die „bayerische Gemütlichkeit“ eine neuzeitliche Marketing-Erfindung: Mit der Gewerbefreiheit verschärfte sich vor 150 Jahren die Konkurrenz der Wirte, gleichzeitig zog es immer mehr Touristen zu Schuhplattler-Schautänzen. In München bauten Brauereien deshalb Bierpaläste mit bis zu 6 000 Sitzplätzen. Herzerl-Stühle, Holzvertäfelungen, Butzenscheiben, Kachelöfen, Hirschgeweihe und andere Zutaten für den „Heimatstil“ wurden industriell gefertigt – und bald per Versandkatalog übers ganze Land verbreitet.

Ein Begründer der Event-Gastronomie war Georg Lang aus Nürnberg. Der Wirt umging mit Strohmännern anno 1898 die Vorschriften fürs Oktoberfest: Er stammte nicht aus München, bewirtschaftete seinen Ausschank nicht selbst und errichtete eine Bierhalle auf der Fläche von fünf herkömmlichen Buden. Als Frosch verkleidet, dirigierte Lang die allererste Festzelt-Kapelle, 40-Mann stark: Militärmusik und Schlager. Zum Mitgrölen verteilte er gratis 50 000 Liederhefte: „Ein Prosit der Gemütlichkeit.“ Danach ging sein Festzelt auf Tournee. Bereits um 1900 boten in Paris mehr als 100 Restaurants bayerisches Bier an; auch New York und andere Metropolen legten sich pseudorustikale Schenken zu.

Vor allem Weltausstellungen machten die neu-alte Wirtshauskultur weltberühmt. Eigentlich sollten diese Leistungsschauen technische Innovationen propagieren, zum Beispiel die Brüsseler Expo 1958 die Atomkraft. Großbrauer aus Franken und München erkannten aber, was wirklich Millionen begeistert: Biergärten mit Alpenkulisse aus Gips, dralle Dirndl, imposante Brauerei-Rösser – und Bier in Strömen.

Für die Getränkewerbung wurden führende Künstler verpflichtet. Das Parade-Exponat der Regensburger Ausstellung ist ein Originalplakat des Münchner Malerfürsten Kaulbach: Fast fünf Meter hoch tänzelt die „Schützenliesl“ mit Armen voller Bierkrügen auf einem Bierfass. Dass Kellnerin in Wirklichkeit einer der härtesten Berufe war und ist, wird dabei nicht verschwiegen. Auch andere Schattenseiten nicht, etwa Alkoholsucht oder zuweilen fragwürdige Hygiene. Oder dass im Dunst der Bierkeller einst Hitler und seine SA-Schläger groß wurden.

Traditionelle Wirtschaften müssen seit mittlerweile rund 60 Jahren gegen geballte Niedertracht kämpfen: Fernsehen und Umgehungsstraßen, Rauchverbot und immer mehr Auflagen, Kantinen in Vereinsheimen und Möbelhäusern, Personalmangel, steigende Mieten, Fast-Food. Wer überleben will, muss sich etwas einfallen lassen: Der Kirchenwirt in Anzing hat einen Drive-In-Schalter eröffnet und eine Boutique für einheimische Mode. Geratskirchen hat über Youtube einen neuen Dorfwirt gefunden. Mancherorts übernehmen Gäste ihr Stammlokal kurzerhand selbst. In der Oberpfalz wird das Zoiglbier wiederbelebt: gemeinschaftlich gebraut, zu Hause vergärt.

Vielleicht wird die Tradition aber auch wieder einmal in der Großstadt neu erfunden: Weil es in München „alles andere schon gab“, verkaufen Hamed Ghahremani und Deniz Sevengül jetzt in ihrem holzvertäfelten Schnellimbiss „Bazi’s Schlemmerkuchel“ bayerische Boxen und Wraps. Mit Franchise-Filialen wollen sie groß rauskommen: Schweinebraten und Knödel to go.

Ausstellung und Film Wirtshaussterben? Wirtshausleben! sind noch bis 11. Dezember im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen. hdbg.de

Martin Ebner
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