Jacoby, Lex: Die Deponie

„Hier, Jetzt, das ist kein Niemandsland“

d'Lëtzebuerger Land du 29.06.2006

Wenn es gälte, für gestern, heute und wohl für länger den Luxemburger Schriftsteller mit dem originellsten, unverwechselbarsten, persönlichsten Sound zu benennen, die Wahl fiele auf keinen anderen als Lex Jacoby. Die Wahl wäre leicht mit einer reichen, jahrzehntelangen Latte an Haupt- und Nebenwerken zu bezeugen und haftet Jacoby-Lesern und -Liebhabern  spätestens seit dem Meisterwerk Logbuch der Arche (original bei Binsfeld, danach leider zu Als die Tiere an Bord gingen entstellt bei Bastei-Lübbe) in Hirn, Herz und Gehör. Mit dem Logbuch der Arche ebenso wie mit Nachts gehen die Fische an Land, Der fromme Staub der Feldwege, Wasserzeichen, Remis in der Provence, Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein sowie einer Aberzahl an Beiträgen zu Wochenzeitungen (u.a. im Land) und Festbroschüren usw. fiele es kritischeren Geistern gewiss leicht, zu belegen, Lex Jacoby sei, gemessen z.B. am Generationskollegen Manderscheid, erst recht am chronischen "angry young man" Guy Rewenig und an den Helminger [&] Co. ein unheilbarer Romantiker, ein unverbesserlicher Gutmensch unter Luxemburgs Literaten. Diesen Verdacht nährt bei oberflächlichen Beobachtern auch Die Deponie, der neue 300-Seiten-Roman (?), den die Éditions St. Paul (un)sinnigerweise (Symbolik! Symbolik!) auf grob recycelten Papier gedruckt haben. In der Tat, die Story ist um Die Deponie herum eher grobmaschig gestrickt, kommt recht schwerfällig in Erzählfahrt und wirkt im großen Ganzen ziemlich  konstruiert. Franz Leval, die Hauptfigur, phlegmatischer Junggeselle, Lektor im befremdlichen Verlag Heissbourg [&] de Waal wirkt, dem gesamten Romanpersonal verwandt, merkwürdig naiv, weltfremd, denkbar ungeschickt, von unverbesserlich gutmütigem Wesen und - so kauzig es sich lesen mag - ja: "donnerstaghörig", denn nur an Donnerstagen zieht es den liebenswürdigen Naturschwärmer und eingefleischten Dörfler Franz Leval an einem jüngst angelegten Golfplatz vorbei zu der rätselhafterweise tief im Annwerwald angelegten Titel-Deponie. Diese Deponie (nicht etwa Müllhalde!) wird von dem (wiederum) herzensguten, schon länger zugewanderten Portugiesen Ulyses (!) Viegas Carvalho aus Bolideira in Tras-os-Montes betreut, und mit diesem (Gast-)Arbeitertypus lässt sich der "Intellektuelle" Leval in seitenlange kurios harmonische Gespräche und einträchtige Diskurse über quasi Gott und die Welt verwickeln. Doch, wie gesagt, nur an Donnerstagen, denn die Deponie wird an bestimmten Dienstagen des Monats von der Firma Servilux mit so ausrangiertem wie exquisiten Werkzeug und Mobiliar beliefert; ja, es handelt sich bei dieser Anlage inmitten eines dichten Mischwaldes um eine echte Sonder-, geradezu Luxus-Deponie, das heißt eine Lagerhalle, deren Überdachung auf 64 Holzpfeilern ruht und vermutlich nur von Nostalgikern auf der Suche nach Raritäten für ihre Privatsammlungen, Folklore-Museen oder Flohmärkte angesteuert werden dürfte und deshalb in Jacobys Prosa seltsam verlassen, vereinsamt daläge. Wäre da nicht ab und an ein irgendwo auf der Deponie versteckter Trommler, der sich Holz auf Holz wiederholt vernehmen lässt, die Deponie gliche geradezu einem Idyll an Stille und Verlassenheit. Nur, der Trommler ist ausersehen, den Erzählbogen von Portugal über Luxemburg bis zur Brücke über die bosnische Neretwa zu schlagen. Zuvor hat die Figur, die sich als Flüchtlingsknabe Franjo (Stepanovic) entpuppt, aber noch die Rolle des vermeintlich diebischen Balkan-Volkes zu spielen: Der Junge greift sich nämlich so vergeblich wie reumütig aus ihrem Cabriolet die Tasche der Golferin Stéphanie. Gesellt man den Hauptrollen Leval und Carvalho die Chargen Franjo Stepanovic, seine triste Mutter Jana, Mari-Maria Carvalho samt Nachwuchs, Tante Annemie mit Gatte Martin, die unbürokratische Andrea Waradin vom Außenministerium, den hilfsbereiten Forstbeamten und die netten Golfer Stéphanie und Pierre hinzu, erhält man ein Rudel Gutmenschen, wie es so geballt nur in der Belletristik, das heißt in der schönen, der nur zu schönen Literatur vorkommt und Gefahr läuft, in Kitsch zu kippen. Es kann zwar kein Zweifel bestehen, dass 80.000 portugiesische MitbürgerInnen, dass vorübergehend tausende Balkanflüchtlinge und jede Menge afrikanischer Zuwanderer aus EU-assoziierten Staaten in Liliput-Luxemburg über eine äußerlich noch friedliche, harmonische multikulturelle Gesellschaft hinaus zahllose Probleme nach sich ziehen und schon mehrmals zu Spannungen und seitens der "Eingeborenen" zu äußerst hässlichen Abschiebeszenen geführt haben, so reibungslos wie - Friede, Freude Eierkuchen! - bei Lex Jacoby eine portugiesische Familie zwei Asylanten vom Balkan mittels Zuflucht in der lusitanischen Heimat vor der Zwangsrapatriierung rettet, löst sich diese Sorte menschlicher, politischer, sozialer und kultureller Probleme allenfalls am Schreibtisch eines Dichters. Denn Lex Jacoby ist der Dichter, der Lyriker unter Luxemburgs Prosaisten. So dass man Die Deponie, obwohl allenfalls Romankonstrukt, dennoch mit Lust und mit Gewinn weiter liest. Jacoby erkennt Probleme sehr wohl und blendet sie beileibe nicht aus, er taucht sie aber in eine deutsche, bisweilen "dialektierende" Sprache, die nicht nur in Luxemburgs Literatur nicht ihresgleichen hat und sich etwa über den Zeitungsleser Franz Leval so anhört: "Und auch Amokläufen las er: vom Amoklauf eines verwirrten Bürgers und vom Amoklauf eines verwirrten Staates, vom Amoklauf einer verwirrten Kleinmacht und vom Amoklauf einer verwirrten Großmacht, vom Irrlauf eines verwirrten Erdteils, vom Irrsinn einer verwirrten Welt. Von den Freveltaten der bösen Ungerechten las er und von den Präventiv- und Vergeltungsschlägen der guten Gerechten. So überzeugend wussten die guten Gerechten ihre Gerechtigkeit darzustellen, dass man deutlich hören konnte, wie die Gerechtigkeit zum Himmel schrie." Und wie Lex Jacoby beschreibender- ja, beschwörenderweise Natur vermenschlicht, Menschen re-"naturiert", dazu liefert Die Deponie wieder zahllose Beispiele, wie Franz Levals rührende Zwiesprache mit Bäumen: "Er hatte bisher die Hasel zu den zahmen und weichen Holzgewächsen gezählt, die sich widerstandslos von jedem Farnwedel streicheln, von jedem Geißblatt würgen, von jeder Waldrebe fast ersticken lassen (...) Über die Buchen, Eichen und Eschen hatte er sich dagegen geärgert: Ihr seid so ungemein nachgiebig, so verweichlicht, so jünglingshaft-feminin, ihr benehmt euch wie Siegfried-Angela Esche, wie Hermann-Sabine Hainbuche, wie Helmut-Ingeborg Eiche, ihr lasst euch vom Jelängerjelieber, von der ungestümen Heckenkirsche, dem wirren Geißblatt, das die Ziegen über alles mögen, nach Herzenslust umschlingen." Die Deponie, ein dem Zwiespalt des Rezensenten zum Trotz lesenswertes  Werk.

Lex Jacoby: Die Deponie; Éditions Saint Paul, Luxemburg, 2006, 304 Seiten; 19,90 Euro.

 

Michel Raus
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