Nächste Woche verabschiedet das Parlament eine der kräftigsten Mindestlohnerhöhungen der Geschichte

Die gute Idea der LSAP

d'Lëtzebuerger Land du 19.04.2019

Weil sie ohne sozialpolitische Bilanz der vorigen Legislaturperiode in den Wahlkampf ziehen musste, hatte die LSAP ihrer Wählerschaft vergangenes Jahr eine Mindestlohnerhöhung um 100 Euro netto in Aussicht gestellt, damit sich zumindest nach den Wahlen „die soziale Schere nicht weiter öffnet“. Zum Zeitpunkt der Wahlen betrug der Mindestlohn 2 048,54 Euro brutto, und netto 100 Euro mehr waren da eine spürbare Erhöhung.

Die politische Rechnung war nicht deshalb falsch, weil die LSAP die Wahlen verlieren sollte. Denn laut der im Anschluss an die Wahlen von TNS-­Ilres für das Parlament durchgeführten Wählerbefragung erklärten sich 76 Prozent der LSAP-Wähler mit einer „spürbaren Mindestlohnerhöhng“ einverstanden, etwa so viele wie grüne Wähler (78 Prozent). Von den DP-Wählern hielten immerhin noch 61 Prozent eine spürbare Mindestlohnerhöhung für eine gute Idee.

Der liberale Finanzminister und Ex-Direktor der Handelskammer Pierre Gramegna nannte die Mindestlohnerhöhung in seiner Haushaltsrede vor dem Parlament sogar „eine Investition in den sozialen Zusammenhalt, die Kaufkraft und damit die Lebensqualität der betroffenen Leute“, die „besonders den Schwachen in unserer Gesellschaft zugutekommt“.

Also soll das Parlament am kommenden Donnerstag zusammen mit dem Staatshaushalt für das laufende Jahr eine spürbare Mindestlohnerhöhung verabschieden. Die Nettoanpassung um 100 Euro entspricht einer Mindestlohnerhöhung um 5,7 Prozent. Das ist, zumindest aus der Sicht der Bezieher, die kräftigste Erhöhung seit 25 Jahren und inflationsbereinigt seit 40 Jahren. Auch wenn sie nicht an die zum 1. Januar 1975 von der damaligen DP/LSAP-­Koalition beschlossene Erhöhung um 27,4 Prozent, von 10 293 auf 13 109 Franken, heranreicht.

Doch obwohl die Mindestlohnerhöhung außergewöhnlich ist, sind es die Reaktionen darauf keineswegs. Selbst die Berufsverbände, ob Patronats- oder Salariatskammern, lassen jede Leidenschaft vermissen. Denn die Regierung hat in die versprochene Erhöhung um 100 Euro netto auch die bereits zum 1. Januar durch Gesetz alle zwei Jahre fällige Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung, diesmal um 1,1 Prozent brutto, hineingerechnet. In den nächsten Wochen soll das Parlament dann eine zusätzliche Bruttoerhöhung des Mindestlohns um 0,9 Prozent zu Lasten der Betriebe stimmen, die rückwirkend zum 1. Januar in Kraft tritt.

Durch die Mindestlohnanpassung um 1,1 Prozent an die allgemeine Lohnentwicklung und die zusätzliche Erhöhung um 0,9 Prozent soll der Bruttomindestlohn auf 2 089,75 Euro steigen, wovon einem Junggesellen nach Sozial­abgaben, Steuern, Abgabe zur Pflegeversicherung und Crédit d’impôt salarié 1 796 Euro netto übrigbleiben. Doch die Regierung einigte sich darauf, die Mindestlohnbezieher und die LSAP-Wählerschaft zufriedenzustellen, ohne deren Betriebe und die DP-Wählerschaft unzufrieden zu machen. Deshalb soll die über diese zwei Prozent hinausgehende Mindestlohnerhöhung mittels eines Steuerkredits zu Lasten der weitgehend gegen Lohn arbeitenden Steuerzahler erfolgen, ohne dadurch die Arbeitsraft weiter zu verteuern. So dass die Mindestlohnerhöhung streng genommen bestenfalls um 1,1 + 0,9 Prozent brutto steigt; die restliche Erhöhung auf 5,7 Prozent netto stellt im Grunde keine Mindestlohnerhöhung, sondern einen staatlichen Zuschuss dar.

Die Berufskammer der Beamten und öffentlichen Angestellten weist in ihrem Haushaltsgutachten darauf hin, dass die Mindestlohnerhöhung um 100 Euro netto zu zwei Dritteln aus dem Staatshaushalt finanziert werde, „le patronat se tient largement indemne de cette décision politique“ (S. 36). Auch die Salariatskammer nennt den Steuerkredit „une répartition secondaire entre contribuables“ (S. 44), während eine Bruttoerhöhung eine gerechtere Verteilung des erarbeiteten Mehrwerts darstelle.

Der Steuerkredit beträgt 70 Euro für Löhne zwischen 1 500 und 2 500 Euro; zwischen dem 25 Prozent niedrigeren Mindestlohn für unqualifizierte 15- und 16-Jährige und dem 20 Prozent höheren Mindestlohn für qualifizierte Volljährige. Damit der Steuerkredit nicht ab 2 501 Euro entfällt und der Nettolohn dadurch unter den eines niedrigeren Bruttolohns mit Steuerkredit fällt, wird der Steuerkredit schrittweise bis zu einem Lohn von 3 000 Euro verringert. Dazu wird die Differenz zwischen 3 000 Euro und dem tatsächlichen Bruttolohn mit 0,14 multipliziert, bis der Steuerkredit ab 3 000 Euro auf null sinkt. Das erscheint arithmetisch als eine elegante Lösung, auch wenn der Staatsrat beanstandet, dass die Formel zur Berechnung des Steuerkredits an feste Beträge, zwischen 1 500 und 3 000 Euro, gebunden sei, so dass bei jeder künftigen Mindestlohnanpassung auch der entsprechende Artikel des Steuergesetzes geändert werden müsse. Die Salariats- und die Handwerkskammer wundern sich zudem, weshalb der Steuerkredit laut Gesetzestext nicht gewährt wird, wenn ein fiktiv errechneter Monatslohn unter 1 500 Euro liegt.

Finanzminister Pierre Gramegna hatte in seiner Haushaltsrede vor dem Parlament erklärt, dass der neue Steuerkredit für Mindestlohnbezieher den Staat „rund 100 Millionen Euro jährlich kostet“. Die Regierung schätzt aber, dass der Steuerkredit dem Staat 3,5 Millionen Euro an höheren Arbeitgeberbeiträgen einbringt, während die Zentralbank meint, dass auch die Mindestlohnbezieher noch einmal 3,5 Millionen Euro an Sozial­beiträgen, Lohnsteuer und Abgaben zur Pflegeversicherung zahlen müssen.

Folglich klagt die Handelskammer zwar in ihrem Gutachten zum Staatshaushalt, der nebenbei eine -zigste, sogar von der Zentralbank beanstandete Senkung der Körperschaftssteuer vorsieht, über eine „énième hausse du SSM“ (Salaire social minimum). Aber sie freut sich gleichzeitig darüber, dass die Regierung dabei „une proposition élaborée par IDEA en octobre 2018“ übernommen habe (S. 64), so als ob die Sozialpolitik der LSAP nunmehr in der Denkfabrik der Unternehmerlobby fabriziert würde. Idea hatte vorgeschlagen, den Crédit d’impôt pour salarié zu erhöhen (35 Euro), die Abgabe für die Pflegeversicherung auf dem Mindestlohn abzuschaffen (22 Euro) und den Inflationsausgleich einer Indexanpassung als Mindestlohnerhöhung hinzustellen (43 Euro). Dadurch würde die Mindestlohnerhöhung um 100 Euro netto die Unternehmen nur die ohnehin gesetzlich vorgeschriebenen Indextranche kosten.

Dass die Handelskammer eher routinemäßig beklagt, wie durch die Mindestlohnerhöhung die internationale Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen und die Beschäftigung der gering Qualifizierten leiden könnte, hat vielleicht auch damit zu tun, dass die einflussreichsten Wirtschaftsbranchen nur wenige Mindestlöhne zahlen. Die Handelskammer betont, dass vor allem im Gaststättengewerbe und im Handel viele Mindestlohnbezieher arbeiteten, doch das sind Branchen, die wenig dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind.

Die Patronatskammern beschweren sich vor allem, dass die Auszahlung des Steuerkredits, den die Betriebe vorschießen und vom Steueramt erstattet bekommen, neuen Verwaltungsaufwand bereitete, insbesondere in kleineren Unternehmen, die die Löhne einzeln neu berechnen müssten unter Berücksichtigung von Teilzeitarbeit und Überstunden. Zudem sei der Gesetzentwurf unklar, wenn es um Überstundenaufschläge, Kommissionen, Prämien, Lehrlinge, verschiedene Selbstständige, unregelmäßige Einkommen und die Proratisierung unregelmäßiger Teilzeitarbeit gehe. Die Handwerkskammer befürchtet zudem, dass die Überprüfung der Einkommensverhältnisse durch das Steueramt bei der Sozialversicherung die Rückerstattung der Steuerkredite verzögern könnte.

Doch die Kammer der Lohnabhängigen äußert sich ebenso zurückhaltend, wenn auch aus einem anderen Grund. Sie rechnet vor, dass der Mindestlohn auch nach der Erhöhung um 100 Euro netto noch immer 170 Euro unter der Armutsschwelle und 130 Euro unter dem Referenzbudget des Statec liegen wird. Deshalb hält die Salariatskammer an ihrer auch vom OGBL erhobenen Forderung nach einer zehnprozentigen Mindestlohnerhöhung fest.

Daneben legte der Staatsrat einen formellen Einspruch dagegen ein, dass der Steuerkredit Lohnabhängigen vorbehalten werden soll, die eine Steuerkarte besitzen. Denn dies widerspreche einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2016. Als Antwort auf den Staatsrat brachte der parlamentarische Finanz- und Haushaltsausschuss vor drei Wochen einen Änderungsantrag ein, um eine entsprechende Ausnahmeklausel ins Haushaltsgesetz zu schreiben.

So könnten im Grunde alle Parteien nächste Woche der Nettoerhöhung des Mindestlohns zustimmen. Und wer will sich schon in aller Öffentlichkeit hartherzig gegenüber den Niedrigstverdienern zeigen? Doch die Regierung hat den Steuerkredit in das Haushaltsgesetz gepackt, und leider kommt keine Oppositionspartei, die etwas auf sich hält, daran vorbei, den Staatshaushalt abzulehnen.

Romain Hilgert
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