Ein Rückblick auf das Kinojahr 2024

Von Autoren, Überwältigungen und den Grenzen des Zeigbaren

d'Lëtzebuerger Land du 20.12.2024

Das Kinojahr 2024 begann gleich mit einem Höhepunkt: Mit Ferrari kehrte der Ausnahmekünstler Michael Mann auf die Kinoleinwand zurück – und bewies damit eindrücklich, was es bedeutet, wenn amerikanisches Kino zum Autorenfilm wird. Alles in diesem außergewöhnlichen Film ist dramatische Essenz, alles soll sich da in der Kulmination entfalten – meisterlich, elegant, erhaben. Das ist es, was Mann anstrebt und immer aufs Neue erreichen will, künstlerisch aufs Äußerste zu gehen; kreative Grenzen zu überschreiten und dabei immer wieder neu zu entdecken, was ihn an dem Stoff, den er bearbeitet, fasziniert, persönlich zu entdecken, welche kreativen Visionen er in sich fühlt. Es ist beachtlich, wie Mann mit der Filmbiografie Enzo Ferraris auch einen Michael-Mann-Film geschaffen hat, der so sehr die vision du monde des Regisseurs atmet, dass man meinen möchte, Ferrari stamme aus einem anderen Jahrzehnt. Nicht zuletzt, weil der Film mit allen Oberflächenreizen des Sportfilms aufwartet: packende und synästhetisch hochwertige Rennfahrten; glänzender roter Stahl; eine Kamera, die diese sinnlichen Qualitäten äußerst verführerisch einfängt. Diese Reize zu zelebrieren, ohne sie zu affirmieren, war seit jeher Teil von Manns Filmkunst. Doch darunter ist alle genretechnische Narrativik ausgeschaltet. Keine Resolution, keine Transparenz. Ferrari ist modernistisches Gegenkino in all seiner Komplexität, Ambivalenz, Vieldeutigkeit und Unergründbarkeit – ganz in den Mustern des klassischen Erzählkinos gehüllt.

Der frankokanadische Regisseur Denis Villeneuve führte mit Dune – Part Two seine Überwältigungsmaschinerie aus imposanten Bildern und eindringlichen Tönen fort, formte sie indes zu einer eindringlichen und brisanten Warnung vor den Keimzellen des Faschismus: Es braucht jahrelange Knechtschaft, prekäre Lebensumstände, ein grundlegendes Machtgefälle und gezielte Indoktrinierung, und man sehnt sich den heilsbringenden Führer ganz von selbst herbei. Die im ersten Teil angedeutete Heldenreise des Paul Atreides, nach dem Roman von Frank Herbert, wird so in ihr Gegenteil verkehrt: Dune – Part Two zeigt den Wendepunkt, erzählt davon, wie ein Terrorregime gestürzt und ein neues errichtet wird. In Ansätzen präsentiert sich dieser groß budgetierte Unterhaltungsfilm mehr als ein Lehrstück über die Auswüchse eines religiösen Fanatismus. Am Beispiel der technisch versierten Regiearbeiten Villeneuves zeigt sich, dass sich in Hollywood ein Kreis schließt – umso mehr im Vergleich zu Michael Manns Film. Im Zeitalter der digitalen Abbildungen und Franchisen ist aus der Vorstellung vom Filmautoren als visionärem Künstler im Gegensatz und in Abgrenzung zu einem „technisch begabten Handwerker“ nun wieder zuvorderst ein Handwerker geworden, dem ein Mindestmaß an vision du monde genügt.

Auch der Western, dieses oft totgesagte Genre, zeigte sich 2024 unterschiedlich lebendig: Während Kevin Costner den ersten Teil seines großen Epos Horizon – An American Saga als multiperspektivisches Mosaik der Gründerzeit angelegt hat – und damit als ebenso ambitioniert wie reaktionär wahrgenommen wurde –, so war The Dead Don’t Hurt von Schauspieler und Regisseur Viggo Mortensen, mit Vicky Krieps in der Hauptrolle, der überaus fokussiertere Zugriff auf das Genre: als eine Hommage und Fortschreibung. Der Western ist ein Genre der männlichen Helden, die meist von Rache angetrieben werden. Davon ist in The Dead Don’t Hurt fast nichts geblieben. Mortensen nutzt die semantischen Felder des Genres, um den Western zum einen in der Form ganzheitlich zu affirmieren, ihn andererseits im Inhalt neu auszurichten. Eine Frauenperspektive auf das Genre ist indes nicht gänzlich neu; in Johnny Guitar (1954) von Nicholas Ray war es Joan Crawford, die sich in dieser Männerwelt behauptete. Mortensen geht jedoch noch weiter: Nicht nur richtet er den gesamten Film auf seinen luxemburgischen Star aus, er nimmt sich als Hauptdarsteller selbst ganz zurück.

Mit der Goldenen Palme für Sean Bakers verdrehte romantische Komödie Anora wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes das ausgefallene Kino der Randexistenzen gewürdigt. Wie Baker in den stärksten Momenten den Selbstbetrug ahnen lässt, dem sich die beiden Liebenden, die unterprivilegierte Sexarbeiterin Ani und Wanja, reicher Sohn eines russischen Oligarchen, hingeben, ist überaus eindringlich. Den hollywoodschen Illusionscharakter seiner Bilder bricht Baker immerzu leise, lässt Momente der harschen Realität einfließen. Er zeigt, dass Klassenkonflikte und Hierarchien doch nie ganz überwunden werden können. Er lässt Gesellschaftsschichten, Lebensauffassungen und Wertvorstellungen aufeinanderprallen, doch – und das ist das Entscheidende an seinem Blick – er lässt seinen Figuren die Würde. Baker beweist ein sensibles Gespür für die Darstellung dieser Figuren, die zunächst wie reine Zeichen in einem codierten System der Filmerzählung erscheinen. Seine Leistung liegt vor allem in dieser ihm sehr eigenen Engführung aus überhöhter Kunstdarstellung und unverfälschter realistischer Prägnanz.

Von den Grenzen und den Ambivalenzen des Zeigbaren erzählten 2024 mehrere Filme auf unterschiedliche Weise: Die Entstehung von Kriegsbildern war das zentrale Thema in Alex Garlands Civil War, weniger in Lee, dem Biopic über die Pionierin der Kriegsfotografie Lee Miller. Garlands Film über einen fiktiven Bürgerkrieg in den USA ist aus der Sicht eines Reportage-Teams geschildert: Ist die Kriegsfotografie eine legitime Form der Berichterstattung oder des Kunstschaffens? Garland zielt auf eine komplexe Selbstreflexion. Er ist der Künstler, der die Außenposition auf die des Bildermachens beständig mitführt und sein Publikum damit konfrontiert. All das hätte Ellen Kuras Lee sein können – was ein Film über das fotografische Abbild hätte werden können, präsentiert sich als Porträt Millers als einer abenteuerlustigen, lebensbejahenden, sexuell freizügigen und ambivalenten Frau. Fragen nach der Ethik und der Ästhetik der Fotografie stellen sich zu Millers Werk auf überaus dringliche Weise, thematisiert werden sie in Lee aber nicht. Nicht einmal die filmische Form, die Wesenszüge des bewegten Bildes werden dazu in Relation gesetzt.

Ein weiterer Film über die Grenzen des Zeigbaren gelang dem deutschen Regisseur R.P. Kahl mit Die Ermittlung. Das ihm zugrundeliegende Theaterstück von Peter Weiss, 1965 uraufgeführt, ist ein monumentales Werk, das den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 künstlerisch nachzeichnet und verdichtet. Der Text des Stücks ist den Protokollen Bernd Naumanns entnommen, die sehr genau Tatbestände, Täter- und Opferrollen innerhalb der NS-Vernichtungsmaschinerie aufschlüsseln. Die Frage nach den passenden Bildern für das Kino muss R.P. Kahl derart umgetrieben haben, dass er gerade sie zum Zentrum seines Films gemacht hat. Schon bei Weiss war der Kunstgriff so schlicht, wie er bildgewaltig ist. Kahl setzt ganzheitlich darauf: Er zeigt nichts und bildet damit alles ab. Überaus reduktionistisch in der Form vereint er in einem Filmstudio rund 60 Schauspieler, die die Protokolle abwechselnd in einer Art Theaterinstallation vortragen. Nicht dem Naturalismus in der Darstellung gilt hier das Augenmerk, sondern der Abstraktion. Die Ermittlung rüttelt an den Wesenszügen des Kinos als Bildermaschine und überhöht sie zugleich: Kahls Film zeigt nicht, worüber er spricht, er beschreibt es und löst damit ein Kopfkino aus. Und er setzt einen Bilderkatalog frei, der wiederum ein hochgradig filmischer ist: Man kennt die fiktionalisierten Schwarzweiß-Bilder aus Filmen wie Schindler’s List, die bei aller Dramatisierung auch einen dokumentarischen Charakter haben, weil sie die ikonisch gewordenen Originalaufnahmen reproduzieren. Es ist die Abwesenheit, die Kahls Film zur Wirkungsmacht verhilft und zu einem wichtigen Baustein der Erinnerungskultur macht. Die Ermittlung eröffnet auf entschieden provokative und radikale Weise die Bildwelten jenseits des Darstellbaren, setzt auf die Bilder hinter den Bildern. Auch das ist Kino – und einer der eindrücklichsten Filme des Jahres.

Marc Trappendreher
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