Die Stadt Luxemburg baut die Straßen-Sozialarbeit aus. Sie hofft, damit jene zu erreichen, die durch das soziale Netz fallen

Mit Herz und Härte

d'Lëtzebuerger Land du 12.08.2016

Es riecht nach Schweiß und abgestandener Luft. Im fensterlosen Turnsaal in der Hollericher Straße in der Hauptstadt ist außer dem gelegentlichen Stöhnen der Kämpfer, dem Klatschen der Körper auf der Matte und den Bässen, die vom Geräteraum herüberdröhnen, nicht viel zu hören. Ab und zu fordert der Trainer die jungen Männer auf, eine neue Übungsfigur einzustudieren. Hier treffen sich jeden Dienstag- und Donnerstagabend Teilnehmer von Streetsport, eine Initiative von Inter-Actions Streetwork.

Ins Leben gerufen hat sie Miomir Vujovic. Der Erzieher aus Montenegro, zweifacher französischer Meister im Kick-Boxing und Preisträger im Mixed Martial Arts (MMA), arbeitet seit 2004 bei Inter-Actions Streetwork, eine von insgesamt vier Streetworker-Initiativen, die sich in der Hauptstadt um Jugendliche und Erwachsene auf der Straße kümmern. Begonnen hat das Kampfsportprogramm, das sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet, in einer Garage in Bonneweg. „Inzwischen haben wir mehr Teilnehmer als mancher Verein“, sagt Vujovic, bei seinen „Jungs“ als Miki bekannt, nicht ohne Stolz. Laut Aktivitätsbericht von 2015 des hauptstädtischen Streetwork-Dienstes, in dem sich Asti, Caritas accueil et solidarité, Caritas jeunes et familles und Inter-Actions vereinen, wurden aus anfänglich 465 inzwischen 8 800 Präsenzen, wobei diese Zahl Angebote wie Ringen, MMA, Capoeira oder Bauchtanz für Frauen einschließt. Insgesamt beträgt der Haushaltsposten der Stadt für das Streetworking 2016 rund 1,1 Millionen Euro.

Doch auch wenn die Jungs in dem Athletico-Fitnesszenter, wo die Sportgruppe inzwischen einen Turnsaal angemietet hat, zu den Fortgeschrittenen zählen und neuerdings sogar von einem regelrechten Weltmeister im MMA trainiert werden: Der Sport ist für Sozialarbeiter Miki nur Mittel zum Zweck. „Wir fahren gelegentlich zu Wettkämpfen, aber im Vordergrund stehen Spaß und körperliche Ertüchtigung. Und das Erlernen von Respekt und Regeln“, betont er. Einen Vereins-Turnsaal wünscht er sich.

Die Idee von Streetsport ist nicht neu: In Großstädten in ganz Europa arbeiten Streetworker inzwischen mit Sportangeboten, die sich speziell an Jugendliche richten. Streetsport verbindet, wie der Name schon sagt, zwei Ideen: Über den Sport sollen Jugendliche, die in sozialen Brennpunkten auf der Straße sind, für eine sinnvolle Beschäftigung gewonnen werden. „Hier können sie Gleichgesinnte treffen, im Wettkampf Selbstvertrauen tanken und sie erlernen das Miteinander“, sagt Miki. Gleichzeitig dient der Sport als Ansatzpunkt der Straßen-Sozialarbeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen, eine Verbindung aufzubauen. „Es kann eine Weile dauern, bis das nötige Vertrauen hergestellt ist“, weiß der Sozialarbeiter aus Erfahrung.

Viele Jugendliche, die die acht von der Stadt finanzierten Streetworker bei ihrem täglichen Rundgang durch die Viertel treffen, schleppen trotz jungen Alters einen beträchtlichen Packen Probleme mit sich herum. Sie stammen aus zerrütteten Familien, haben die Schule oder Lehrstelle abgebrochen, sind von zuhause oder aus dem Heim fortgelaufen. Nicht wenige nehmen Drogen oder hängen aus anderen Gründen auf der Straße herum. Mit dem Sport sollen sie wieder Struktur erlernen: „Beides braucht dieselbe Grundhaltung: Im Kampfsport wie im Leben kommt nur weiter, wer Disziplin und Durchhaltevermögen hat“, unterstreicht Kick-Boxer Miki.

Diese Selbstdisziplin aufbringen gelingt nicht jedem: In den Sommerwochen hängen viele lieber ab, rauchen sich zu, begehen Dummheiten. „Sie schaffen es nicht, sich aufzuraffen“, sagt Giuliano. Der 26-Jährige ist seit neun Jahren dabei: Als 17-Jähriger kam der Walferdinger zum ersten Mal mit dem Streetsport-Projekt in Kontakt, über einen Freund. Mit der Straßenszene habe er ansonsten nichts zu tun, betont er. „Manche merken nicht, wie sie langsam in die Szene hineinschlittern“, sagt Miomir Vujovic. Bei Giuliano besteht kein Anlass zur Sorge: Der durchtrainierte junge Mann ist inzwischen selbst ausgebildeter Erzieher und in einer Maison relais angestellt. Noch lieber würde er mit delinquenten Jugendlichen arbeiten, sagt er, der vor einigen Jahren eine Asbl gegründet hat. Die Mitglieder engagieren sich im Motorsport, darüberhinaus organisieren sie gemeinnützige Events, wie Kinder-Tanzfestivals. Einen Teil der Einnahmen spenden sie an gemeinnützige Vereine wie das Bonneweger Foyer Ulysse.

Für Sportmuffel gibt es andere Angebote: Das Open Space in der Anlaufstelle in der Rue August Charles direkt neben dem Verkehrskreisel wurde vergangenes Jahr von 1 054 Personen besucht. Im kleinen Raum mit Bar und Sitzecke finden Jugendliche und junge Erwachsene ab 19 Uhr Einlass und, wenn sie das wünschen, jederzeit einen Ansprechpartner. Hier können sie Kaffee oder Tee trinken, Filme schauen, an Kunstworkshops teilnehmen. Manchmal sind regelrechte Talente darunter, wie das Wandbild über dem durchgesessenen Sofa beweist: Es zeigt Daniel, einen stadtbekannten Obdachlosen, der eines Winters an seiner Alkoholsucht starb. Unterstützt wird die Aktion von „echten“ Künstlern. Das Engagement der Freiwilligen ist wichtig: Sie halten den Streetworkern den Rücken frei, um sich den Klienten widmen zu können.

Das ist jedenfalls die Hoffnung von Sozialarbeiter Miomir Vujovic und seinem Team. Ihre Klientel sind Menschen, die durch das soziale Netz von Schule, Arbeit und Wohnungsmarkt gefallen sind, die nicht mehr in Jugendhäuser oder Foyers gehen – weil sie mit den Regeln nicht klarkommen, zu viele Probleme haben. 21- bis 40-Jährige bilden die stärkste Gruppe. Junge Menschen bis 25 Jahre sind noch nicht berechtigt, Revenu minimum garanti (RMG) zu beantragen. Ohne Arbeit und ohne festes Einkommen können sie sich im teuren Luxemburg erst recht keine Wohnung leisten. Für viele wird das, zusammen mit persönlichen Problemen und riskantem Drogenkonsum, zum Teufelskreis, aus dem sie kaum mehr allein herausfinden. Insbesondere junge Männer sind gefährdet, sie fallen in puncto Kriminalität, Süchten und Obdachlosigkeit häufiger auf. Angebote wie das vor zwei Jahren initiierte Open Space richten sich an sie, um sie vielleicht eines Tages einem der Sozialdienste – Wunnegshellëf, Adem, Schulen, Gesundheitsberatung – zuführen zu können, mit denen der Service Streetwork in Kontakt steht.

Die Angebote der Streetworker sind niedrigschwellig: Jeder kann vorbeikommen und an Kunst-, Sport- oder anderen Aktivitäten teilnehmen. Es gibt gleichwohl Regeln: Gewalt und Aggression sind verboten. Einige Besucher kommen nur zum Aufwärmen, andere fragen um Hilfe, etwa bei der Wohnungssuche. Am heutigen Mittwochnachmittag sitzen vier Männer zwischen 20 und 30 Jahren in der Bonneweger Anlaufstelle und warten auf den Friseur, der ihnen die Haare schneiden soll. Auch ein Brillenprojekt für Personen mit Sehschwäche wurde dieses Jahr auf die Schiene gesetzt.

Wer Rat und Unterstützung braucht, kann mit dem Sozialarbeiter gemeinsam einen persönlichen Plan erstellen. Er kann beinhalten, einen Lebenslauf für eine Bewerbung zu schreiben. „Wir arbeiten mit der Adem zusammen und haben einige unser Klienten in weiterführende Schulungen vermittelt“, sagt Miki. Es ist schon ein Erfolg, wenn jemand seine Scheu überwindet und einen potenziellen Arbeitgeber anruft. Obwohl er die sozialen Folgen politischer Fehlentwicklungen vergangener Jahre jeden Tag vor Augen hat – steigende Mietpreise wegen anhaltender Wohnungsknappheit, mehr Alleinerziehende wegen der vielen Scheidungen, mehr Schulabbrecher –, glaubt der Erzieher fest daran: „Wer wirklich eine Arbeit sucht, kann sie, mit etwas Geduld und Disziplin, bekommen“.

Durchzuhalten ist für viele eine Riesenherausforderung. Zu viele Misserfolge haben ihr junges Leben geprägt. Zum Beispiel das von Enrico und Susanna*. Das Paar war vor zwei Jahren erstmals ins Open Space gekommen. Beide hatten die Schule geschwänzt, dann abgebrochen. Die meisten Zeit hingen sie auf der Straße herum. Schon damals warnte Miki Enrico: „Du brauchst Arbeit. Was, wenn deine Freundin schwanger wird?“ Der Sozialpädagoge versuchte, ihm eine Arbeitsmaßnahme zu vermitteln. Dann hörte er fast ein Jahr lang nichts mehr von dem Paar. Als er beide plötzlich wiedertraf, war Susanna inzwischen tatsächlich schwanger – und beide ohne festen Wohnsitz. Miki bemühte sich erneut, vermittelte der Frau eine Praktikumsstelle in einer Maison relais. Aber die Arbeitsbedingungen sagten ihr nicht zu: Ihr Arbeitgeber wolle die Probezeit nicht bezahlen, beschwerte sie sich entrüstet. „Dabei lebte sie ohne Geld auf der Straße“, sagt Miomir Vujovic und schüttelt den Kopf. Unrealistische Vorstellungen hätten leider viele. Der Sozialarbeiter redete Enrico erneut ins Gewissen: „Ich habe ihm unter vier Augen gesagt, was ich von seinem Verhalten halte: Du kommst hierher, machst auf dicke Hose. In Wirklichkeit hast Du Chancen, die du bekommen hast, einfach vergeigt. Das habe ich ihm genau so gesagt. Es nützt nichts, den Jungs etwas vorzumachen“, ist Miki überzeugt.

Dass das Paar den Sprung aus der Misere nicht geschafft hat, obwohl sich sein Team sehr bemüht hatte, sei eine frustrierende Erfahrung gewesen. „Als Sozialarbeiter darf man das aber nicht persönlich nehmen. Man muss sich einlassen und trotzdem eine professionelle Distanz bewahren“, beschreibt er die schwierige Gratwanderung. Eine Ausbildung zum Streetworker gibt es nicht, aber wer sich als Erzieher im Umgang mit Straßen-Jugendlichen behaupten will, brauche vor allem zwei Eigenschaften: „Er muss Menschen mögen und er muss seine Grenzen kennen“, so Miki. Burnout ist unter Streetworkern weit verbreitet, wie unter Sozialarbeitern allgemein, die Menschen in Not betreuen, deren Misere oft strukturelle Ursachen hat, wie Armut, ungleiche Bildungschancen oder Diskriminierung. Vujovic weiß, wovon er spricht: Als Zuwanderer, dessen Eltern vor dem Krieg geflohen waren, hat er Vorurteile am eigenen Leib erfahren. „Jeder ist mal dran: die Italiener, die Portugiesen, wir und jetzt die Araber und Flüchtlinge“, sagt er lakonisch. Er ist das beste Beispiel dafür, dass es gelingen kann, sich trotz widriger Umstände eine Existenz aufzubauen.

Wichtig sei es, sich mit Kollegen auszutauschen. Bei Inter-Actions sprechen sie regelmäßig über Klienten und diesbezüglichen Schwierigkeiten. Nicht nur dort: Die Streetworker aller vier beteiligten Träger treffen sich regelmäßig mit dem Service Jeunesse der Stadt Luxemburg, um ihre Einsätze abzustimmen. Dort werden über Einzelfälle hinaus Entwicklungen analysiert, etwa wenn sich Obdachlose an neuen Treffpunkten sammeln, oft sind das leerstehende Häuser oder Freiflächen, und es Sinn macht, die tägliche Tour durchs Viertel dem anzupassen.

Die Plattform veröffentlicht alljährlich einen Aktivitätsbericht Service Streetwork. Darin stehen, außer den Projekten, allgemeine Trends. Etwa dass die Jugendlichen auf der Straße immer jünger werden oder dass die Wohnungsnot sich verschlimmert. Der Service Streetwork wurde seit 2004 kontinuierlich ausgebaut, neuerdings sind Streetworker auch in der Uewerstad unterwegs. Am Hauptbahnhof öffnete dieses Jahr das Parachute, eine von der CFL initiierte, mit der Stadt gemeinsam organisierte Erst-Anlaufstelle, direkt neben der Polizeiwache. Über 50 Besucher täglich zählt die Initiative, so viele, dass der einzige Vollzeit-Sozialarbeiter fast nicht mehr nachkommt (an Sozialarbeit ist bei dem Ansturm kaum zu denken) und die CFL bereits überlegt, wie das Angebot ausgebaut werden könnte.

„Es ist gut, dass es neuerdings das Péitrushaus für Minderjährige gibt. Das hat einige Jugendliche von der Straße geholt.“ Auch Flüchtlinge seien, trotz deutlich steigender Zahlen, „im Großen und Ganzen versorgt“, meint Miki. „Wir sehen sie kaum.“ Ab und zu kommen Asylbewerber zur Bonneweger Anlaufstelle, um sich im Rahmen des Projekts Street Hair die Haare schneiden zu lassen oder andere Menschen zu treffen. Ohne Dach überm Kopf sind sie in der Regel nicht.

Dass die Streetworker mehrere Sprachen sprechen, hilft bei der Kontaktaufnahme enorm: Miomir Vujovic spricht fließend Deutsch, Luxemburgisch, Montenegrinisch, Französisch. Sogar ein wenig Russisch kann er und setzt es ab und zu ein, denn zum Open Space kommen auch Osteuropäer: „Manche arbeiten in den Weinbergen während der Erntezeit. Aber wegen Alkohol oder aus anderen Gründen werden sie arbeitslos und landen dann bei uns“, erzählt er. Heute sitzt eine Fünfergruppe an der Bushaltestelle gleich um die Ecke und trinkt Dosenbier. „Solange sie nicht ausfällig werden, ist das kein Problem.“

Manch ein Anwohner stört das trotzdem. Sie missverstehen die Streetworker, die durch ihre T-Shirts mit der Streetworker-Aufschrift für jeden erkennbar sind, als eine Art soziale Feuerwehr, die alle Brennpunkte im Viertel löschen soll. „Wir sind aber nicht die Polizei, wir arbeiten allenfalls komplementär“, stellt Vujovic richtig. Im Notfall, wenn jemand gewalttätig wird, rufen die Streetworker die Ordnungshüter zur Unterstützung. In der Regel jedoch kennen sie ihre Klientel und eine deutliche Ansage kann mitunter helfen, Konflikte im Vorfeld zu entschärfen, sagt der Sozialarbeiter. Wegen seiner kräftigen Statur glaubt man ihm das sofort.

„Hallo, Ali*“, ruft Miki plötzlich. Gerade war er mit kräftigen Schritten am Hariko-Kulturzentrum vorbeigelaufen, als ein Mann sich aus einer Gruppe löst, auf ihn zuläuft und ihn mit Handschlag begrüßt. „Ich bin seit drei Jahren arbeitslos, aber die haben noch immer keine Wohnung für mich gefunden“, beschwert sich Ali, während sich Miki diskret im Hintergrund hält. Wer „die“ sind, präzisiert der gepflegt wirkende Obdachlose nicht, er verrät über sich selbst nur so viel: Er stamme aus Brüssel und sei damals nach Luxemburg für eine Anstellung gekommen, die er dann verloren habe. Weil er seine Miete nicht mehr bezahlen konnte, sei er ohne feste Bleibe. Später wird Miki erzählen, dass Ali einer jener Klienten sei, bei denen er und sein Team trotz mehrfacher Anläufe nicht weiter gekommen sei. „Irgendwie ist er nie damit herausgerückt, was wirklich sein Problem war. Unsere Angebote haben jedenfalls nicht gegriffen.“ Das gehöre auch dazu: „Es klappt nicht immer mit der Hilfe“, räumt der Erzieher freimütig ein, bevor er die nächste Station seiner Tour ansteuert: Kollegen haben einen Bauchtanz-Workshop auf dem Platz vor der Kirche organisiert. „Sie brauchen mich“, sagt er zum Abschied freundlich.

* Namen von der Redaktion geändert
Ines Kurschat
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