Das Parlament droht, die über zehn Jahre alte Debatte weniger fortzusetzen als zu wiederholen

Wettbewerb um die Wettbewerbsfähigkeit

d'Lëtzebuerger Land du 10.05.2013

Nächste Woche kann die Abgeordnetenkammer ein kleines Jubiläum feiern. Denn dann sind es genau zehn Jahre her, dass der Koordinationsausschuss der Tripartite im Mai 2003 beschloss, unter der Obhut des Wirtschafts- und Außenhandelsministeriums ein ständiges und tatsächlich bis heute bestehendes Observatoire de la compétitivité zu gründen.
Wenige Tage nach dem Beschluss der Tripartite hatte Premier Jean-Claude Juncker dem Parlament und dem Land erklärt, wie sie sich den Auftrag dieses Observatoriums vorzustellen hatten: „Damit wir die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit besser im Auge behalten, damit wir unterwegs die Lohnkurve anpassen und die Gestaltung der Lohnlandschaft besser vorbereiten können, damit die Beobachtung des Lohnumfelds und dessen Auswirkungen zeitnaher mit der Lohnbildung gehen, haben wir in der Tripartite die Schaffung einer Beobachtungsstelle der Wettbewerbsfähigkeit beschlossen. Sie soll die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und die konsequente Lohnbildung wissenschaftlich und empirisch unterfüttern.“ Bemerkenswert an Junckers inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratener Erklärung war, dass er in zwei Sätzen fünfmal das Wort „Lohn“ gebrauchte und die Frage der Wettbewerbsfähigkeit auf die Lohnkosten der Unternehmen beschränkte.
Doch wenn das Parlament am kommenden Donnerstag, zwei Wochen nach dem 1. Mai, wieder eine Orientierungsdebatte über die Wettbewerbsfähigkeit führen wird, deutet vieles darauf hin, dass die Diskussion in zehn Jahren kaum von der Stelle gekommen ist. Schließlich sollte diese Diskussion schon 2004 mit dem Bericht Compétitivité du Luxembourg: une paille dans l’acier des französischen Ökonomen Lionel Fontagné ihren Höhepunkt und Abschluss finden. Doch der von LSAP-Wirtschaftsminister Jeannot Krecké bestellte Bericht hatte rasch Staub angesetzt, ebenso wie die meisten der im April 2010 von Krecké vorgelegten 65+1 Vorschläge zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit.
Dass das Parlament die Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit nun trotzdem wieder führen will, hat damit zu tun, dass auch der für dieses Jahr versprochene Wirtschaftsaufschwung wieder aufgeschoben ist. Nach der angedrohten, provisorischen oder endgültigen Schließung mehrerer größerer Betriebe, wie Guardian Luxguard, Hyosung Wire oder der Arcelor-Mittal-Werke in Rodingen und Schifflingen, geht zudem wieder das Gespenst der Deindustrialisierung um. Wie festgefahren die ganze Debatte über die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Produktions­standorts ist, zeigt sich alleine daran, dass das 2003 von Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften gemeinsam beschlossene Observatoire de la compétitivité zwar in jedem Herbst eine fast 300 Seiten starke, weitgehend vom Statec verfasste Publikation unter dem Titel Bilan compétiti­vité vorlegt, welche die Fortschritte und Rückschläge im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf mit den anderen eu­ro­päischen Staaten bescheinigen soll. Doch der Unternehmerdachverband UEL veröffentlicht seit 2010 ein eigenes Annuaire de la compétivité, das meist zu drastischeren Schlussfolgerungen kommt. Offenbar sind sich nicht bloß Unternehmer und Gewerkschaften uneins, wenn es, wie vormals in der Tripartite, heißt, die wirtschaftliche und soziale Lage einzuschätzen. Auch Regierung und Unternehmer scheinen von zwei verschiedenen Dingen zu reden, wenn sie die 73 verschiedenen Indikatoren in den Wettbewerbsfähigkeitstabellen und die internatio­nalen Hitparaden von Weltwirtschaftsforum, International Institute für Management Development oder Heritage Foundation bewerten sollen. Wie die seit drei Jahren tote Tripartite zeigt, ist das Kräfteverhältnis zwischen Unternehmern und Gewerkschaften sowie innerhalb der Regierungsmehrheit unverändert.
Entsprechend gehen auch dieser Tage die Meinungen von Regierung und Unternehmern auseinander. Weil keine weitere Zeit mit Studien und Beratungen verloren werden dürfe, verbreitete der Unternehmerdachverband am Montag eine Liste mit Vorschlägen für einen „strengen Reformplan für 2013, der sofort umgesetzt werden“ soll. Dazu gehört erneut die Forderung nach einer „allgemeinen Desindexierung der Wirtschaft“, das heißt einer Abschaffung der Indexanpassung von Löhnen und Renten sowie ein gesetzliches Verbot, in Arbeits-, Miet- oder Dienstleistungsverträgen Anpassungen an die Inflation vorzusehen. Die Löhne in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst sollen im Vergleich zur Entwicklung der Lohnstückkosten in den Nachbarländern angepasst werden. Die Löhne sollen also zumindest so lange nicht zunehmen, wie die Lohnstückkosten hierzulande schneller steigen als diejenigen in Deutschland, Frankreich und Belgien.
Die Kosten der wenig qualifizierten Arbeit für die Betriebe will die UEL verringert haben. Dies könnte über eine Senkung des gesetzlichen Mindestlohns geschehen. Wobei der Unternehmerdachverband nicht ausschließt, dass die betroffenen Beschäftigten einen Einkommenszuschuss vom Staat erhalten könnten, um über die Runden zu kommen. Parallel dazu hat die Regierung bereits eine Änderung des Gesetzes über das garantierte Mindesteinkommen angekündigt, um einzelne Situationen auszuschließen, in denen Personen von einer Erwerbstätigkeit abgehalten werden, weil sie nicht das RMG ihrer Familie gefährden wollen.
Um das Defizit der Staatsfinanzen zu senken, sollen innerhalb von drei Jahren nicht die Steuern erhöht, sondern die Ausgaben gesenkt werden. Die Gehälter und Sozialtransfers müssen für die UEL langsamer als das Bruttoinlandsprodukt zunehmen, während eine Begrenzung der öffentlichen Investitionen verhindert werden soll, weil sie die Infrastrukturen verbesserten und eine wirtschaftliche Tätigkeit erzeugten. Auch die Steuern müssten im Vergleich zu anderen Staaten niedrig bleiben, um keine ausländischen Investoren abzuschrecken, heißt es, wobei wohl an die Körperschaftssteuer, den Spitzensatz der Einkommenssteuer und wohl auch an die berets angekündigte Mehrwertsteuererhöhung gedacht wird. Die UEL erinnert zudem daran, dass nach dem Scheitern der Tripartite die Regierung ihr im Dezember 2010 versprochen hatte, 2011 die Bearbeitungsdauer von Anträgen in den öffentlichen Verwaltungen um die Hälfte zu kürzen. Bisher sei aber lediglich die Cellule de facilitation eingesetzt worden.
Kürzere Verwaltungswege ist die Forderung, die im  Parlament nächste Woche parteiübergreifend auf den meisten Zuspruch stoßen dürfte. Spannender dürfte es aber zu beobachten sein, welche Mehrheitspoltiker oder Oppositionsparteien die anderen Forderungen der UEL übernehmen wollen. Denn die Regierung denkt beim Stichwort „Wettbewerbsfähigkeit“ an andere Punkte und auch nicht mehr ausschließlich an die Festsetzung der Löhne, wie Jean-Claude Juncker es vor zehn Jahren getan hat. Was er im Namen der Regierung dem Parlament über die Wettbewerbsfähigkeit sagen wird, verriet  Wirtschaftsminister Etienne Schneider schon am Samstag bei der Eröffnung der Verbrauchermesse auf dem Kirchberg: Dass Wirtschaftswachstum vital sei und er nicht die Schuld an mangelnder Wettbewerbsfähigkeit trage. Denn die anderen Minister seien mit verantwortlich dafür, wenn die Verwaltungsprozeduren in ihren Behörden schwerfällig und langwierig erschienen. Der von der Polemik um Wickringen/Livingen wenig berührte Schneider verlangte, dass große Bauprojekte endlich Grünlicht bekämen, um das angeschlagene Baugewerbe wiederzubeleben. Außerdem versprach er gleich ein ganzes „Arsenal“ von Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, die ihm aber 14 Tagen zuvor noch nicht eingefallen schienen, als er das Nationale Reformprogramm für die Strategie „Luxemburg 2020“ nach Brüssel schicken sollte. Sicherheitshalber  summierte er diese Woche noch schnell während einer Pressekonferenz die Investitionsvorhaben von Post, Creos, Enovos, SEO und Luxconnect etwas großspurig zu einem „Marshall-Plan für Luxemburg“.
Doch für den Fall, dass sich nicht genug Unterstützung im Parlament finden lassen wird, haben die Unternehmer bereits Vereinigungen wie 5vir12 und 2030.lu gegründet, um ein Jahr vor den Wahlen ihre Anliegen werbewirksam unters Volk zu bringen und so das Kräfteverhältnis im nächsten Parlament zu beeinflussen. Nicht ohne Erfolg, wie die von Luxemburger Wort und RTL bestellte Meinungsumfrage zeigt, laut der die Befragten den Unternehmern erstmals fast so viel Vertrauen entgegenbringen wie den Gewerkschaften.

Romain Hilgert
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