EU-Beitrittskandidat Türkei

Kulturrevolution

d'Lëtzebuerger Land du 29.07.2016

Seit dem Putschversuch in der Türkei sind gerade mal zwei Wochen vergangen. Doch die Türkei ist längst ein anderes Land. Es floriere ein politischer Frühling, jubeln türkische Medien. Regierung und Opposition fänden seit Jahren zum ersten Mal zueinander und das Land sei heute demokratischer als vor dem Putschversuch.

Wie bitte, hat der Betrachter da etwas übersehen? Ein Blick auf die Realität kann von alledem nichts bestätigen. Richtig ist: Die Regierung in Ankara hat eine massive, landesweite Imagekampagne gestartet. Dabei gibt es zwei Arten von Signale, die an die türkische Öffentlichkeit – und teilweise ins Ausland – gesendet werden. Der Öffentlichkeit daheim wird berichtet, dass eine Verbrüderung bisher verfeindeter politischer Lager im Gange sei. Eine Großdemonstration auf dem Taksim-Platz in Istanbul, organisiert durch die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), illustriere dies. Dabei wähnt die CHP sich selbst unter Beweiszwang zu demonstrieren, dass auch die Opposition gegen den Putsch war. Und auch ein Treffen im berühmt-berüchtigten Palast von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sind angebliche Zeichen dieser neuen Harmonie.

Zeitgleich wird die neue-alte Verschwörungstheorie wieder serviert: Die USA stehe hinter den Putschisten. Es werden zahllose Details genannt, deren Quellen unklar sind, aber die Beteiligung der CIA am Putschversuch beweisen sollen. Gewürzt wird diese Beweisführung mit unverhohlener EU-Feindlichkeit. Das alles passt in das jahrelang gezimmerte Bild des Westens, welches in der heutigen Türkei vorherrschend ist: Die böse USA, die im Handumdrehen das Geschick ganzer Länder und Regionen beliebig und im eigenen Interesse manipulieren und ein dummes, unfähiges Europa, das einem Pudel gleich hinter Washington herläuft.

Aber die stündlichen, täglichen Entwicklungen in der Türkei zeigen, dass beides nicht der Wirklichkeit entspricht. Der Alltag zwei Wochen nach dem Putschversuch ist geprägt von der autoritären Führung Erdogans. Die autoritäre Praxis wird vielmehr unter dem Vorwand des „Putschversuch“ und dem verhängten Ausnahmezustand intensiviert. Nachdem in den ersten Tagen nach dem Aufstand der Militärs eine große Verhaftungs- und Entlassungswelle durch die Reihen der Armee und Polizei, der Justiz und anderer staatlichen Institutionen ging, folgt nun eine neue Welle, gut durch Listen vorbereitet, gegen Akademiker, Unternehmer und Journalisten. Unter den festgenommenen Journalisten sind kaum einflussreiche Kolumnisten oder oppositionelle Meinungsmacher. Sondern hauptsächlich investigative Journalisten. Sie hatten versucht, die Korruptionsfälle um Erdogan oder die Beziehungen zwischen Ankara und diversen Bürgerkriegsparteien in Syrien, unter anderem dem Islamischen Staat, zu beleuchten.

Die bereits vor dem Putschversuch am 15. Juli ziemlich gleichgeschalteten Medien bilden die Speerspitze der Offensive des Regimes gegen unliebsame Kritiker. Tagtäglich denunzieren diese Blätter kritische Zeitungen, Online-Plattformen und Journalisten. Sie werfen diesen vor „Mitglied oder Unterstützer der Terrororganisation FETÖ/PYD“ zu sein. FETÖ ist die von Erdogan-Anhänger erfundene Kürzel für „Fethullahci Terör Örgütü“ und PYD steht für „Paralel Devlet Yapilanmasi“, also den „Parallelstaat“. Beide Schlagwörter zielen darauf, den bei Erdogan in Ungnade gefallenen muslimischen Sektenchef Fethullah Gülen und seine Gefolgschaft zu kriminalisieren.

Dabei wird gerne unter den Teppich gekehrt, dass diese Sekte in den ersten Regierungsjahren Erdogans ihn tatkräftig unterstützte und umgekehrt auch von ihm großzügig gefördert wurde. Der Parallelstaat entstand durch diese Förderung. Nun bauschen Handlanger des Erdogan-Regimes die Gülen-Sekte zu einer Terrororganisation auf, die sie als „gefährlicher als der IS oder die PKK“ darstellen. Dementsprechend wird der Vorwurf der Mitgliedschaft in dieser Sekte oder deren Unterstützung höchstgefährlich für alle. Amnesty international will „glaubhafte Hinweise“ auf Folterungen von nach dem gescheiterten Putschversuch Verhafteten in türkischen Gefängnissen haben. Auch der Feldzug gegen kritische Journalisten zeigt Wirkung. Fanatische Anhänger Erdogans greifen mittlerweile auf offener Straße arbeitende Journalisten und Kameramänner an und machen dabei nicht einmal einen Unterschied zwischen den kritischen und Erdogan-hörigen Medien.

Parallel zu dieser Denunziationskampagne gegen Journalisten führen Erdogans Medien und seine ideologischen Handlanger eine Art „Klassenkampf“, der an Maos Kulturrevolution in China in den 1960-er Jahren erinnert. Der Startschuss dieses „Klassenkampfes“ wurde während der Beisetzung der im Putschversuch verstorbenen Menschen gegeben. Der Imam, der die Zeremonie führte, bat Allah unter anderem darum, „dass er die Bevölkerung vor gebildeten Menschen schütze“. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem verschiedene Erdogan-Anhänger oder führende Politiker seiner Partei, Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), im Fernsehen oder sozialen Medien erklären, wie gut sie sich unter Menschen fühlen, die keine Bildung haben, ja sogar Analphabeten sind. Das befeuert eine wachsende Feindschaft der durch neo-liberale Politik Erdogans strukturell benachteiligten Schichten gegenüber allen, die in den Genuss von Bildung gekommen sind, also der Mittelschicht.

Auch der Umgang mit den Angehörigen der Putschisten ist symbolhaft für den Umgang Erdogans mit seinen Gegnern. Den Familien wird die Beisetzung ihrer Verwandten auf regulären Friedhöfen verweigert. Manche mussten ihre toten Angehörigen entwürdigend in ihren Vorgärten begraben. Der Bürgermeister Istanbuls, Kadir Topbas, hat offiziell einen „Friedhof der Landesverräter“ eingeweiht. Die Putschisten sollen dort begraben werden, damit „jeder Mensch beim Vorbeigehen auf sie spucken kann und sie nicht einmal im Grab zur Ruhe kommen“, so Topbas. Dass diese Aktion nicht seine alleinige Entscheidung ist, wurde nach dem Treffen Erdogans mit den Oppositionsführern bekannt. Nach dem Treffen erklärte der Chef der CHP, Kemal Kilicdaroglu, dass Erdogan dieses Vorgehen für legitim halte.

Dass das Post-Putsch-Geschehen die ohnehin vorhandenen Gräben innerhalb der türkischen Gesellschaft nun dramatisch vertieft, stört Erdogan nicht. Sein Motto ist „teile und herrsche“, so regierte er bis zum Putschversuch. Längst ist erkennbar, dass er an dieser Strategie festhalten wird, bis er das Land aber vor allem den türkischen Staat so umgebaut hat, dass in ihm eine islamistisch-nationalistische Herrschaft nachhaltig gesichert ist. Gegner dieser Politik dagegen fürchten seit dem 15. Juli um ihr Leben.

Cem Sey
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