Fioretti, Mario: Der Vortrag

Auf einem Narrenschiff des Geistes

d'Lëtzebuerger Land du 24.11.2005

Der Diekircher Deutschlehrer Mario Fioretti hat in seinem mit einem Nationalen Literaturpreis ausgezeichneten Roman Der Vortrag eine Riesensatire  auf Gelehrte oder eher noch Möchtegerngelehrte und zugleich eine Hommage an das Merscher Literaturhaus - die gelben Stühle des Vortragssaales haben es ihm besonders angetan - in die Welt gesetzt. Der Inhalt ist kurz und bündig zu referieren: Emil Horatio, ein gescheiterter Gymnasiallehrer, kompensiert seinen frustreichen und tristen Schulalltag mit der Lektüre aller möglichen Werke über den karthagischen Feldherrn Hannibal und der intensiven Arbeit an einem zehnseitigen Vortrag, in dem er anhand von Forschungsergebnissen aus dem hohen  Norden Europas beweisen will, dass der Punier, aus Spanien kommend, in Südfrankreich nicht rechts nach Italien über die Alpen, sondern als Linkshänder nach links abbog und in Skandinavien sein Ende fand, derweil sein anonymer Zwillingsbruder die großen Taten vollbracht hat, die Hannibal zugeschrieben werden. Mit derart weltumstürzenden Erkenntnissen will er das gebildete Publikum im Kulturhaus - diese Bezeichnung kann wohl kaum vom wirklichen Ort des Geschehens ablenken - beglücken und für sich den Ruhm des größten Historikers unserer Zeit gewinnen. Wie nun der Vortragsabend verläuft, möchte ich dem Leser nicht verraten. Aber soweit darf ich  wohl die Katze aus dem Sack lassen: Es geht hoch her an diesem Abend, an dem sich sogar ein Klimasturz auf unerwartete und schreckliche, aber auch entwirrende Weise in die Wirren der menschlichen Eitelkeit und Dummheit einmischt. Schon im ersten Kapitel wird das Ende des schrulligen Protagonisten vorweggenommen. Und so konzentriert sich der Autor auf die Schilderung der letzten Lebensmonate dieses Mannes in seinem sechsten Lebensjahrzehnt. Mario Fioretti gelingt es vorzüglich, seine menschlichen Schwächen aufs Korn zu nehmen, indem er die Nutzlosigkeit und Beliebigkeit seiner Bestrebungen aufs liebevollste ausmalt. Die Gelehrtensatire wird nicht nur an der Hauptfigur des Emil Horatio ausgeführt, sondern seine Vorbilder in der Verwandtschaft spielen wie Variationen zum Thema "Entlarvung historischer Täuschungen und Irrtümer" Emil Horatios Lebensthema durch, nämlich den Weg zum Ruhm durch Klärung und Entlarvung falscher Vorstellungen. Der eine hat die amerikanische Mondlandung von 1969 als Hollywood-Inszenierung entblößt, während ein anderer mit seiner Theorie der rein defensiven Funktion der Scheren eines Krebses an den Fundamenten der Darwinschen Entwicklungstheorie rüttelt, bis ihn ein Hai, der sich ins Mittelmeer verirrt hat, verschlingt und somit auf grausame Weise die Absurdität seiner These unter Beweis stellt. So barock die ausführlichen Kapitelüberschriften des Buches anmuten, sie passen vorzüglich zu der altväterlichen Behäbigkeit eines Erzählers, der alles weiß und nur einiges im Dunkeln lassen muss, um den Leser geistig nicht ganz in der Arbeitslosigkeit zurückzulassen. Überhaupt, was die Rolle des Lesers betrifft, so kann ich einen kritischen Einwand nicht unterdrücken: ich meine die predigerhafte Angewohnheit, alle Tatbestände und Gedanken fast zwanghaft, wenn auch leicht variiert, zu wiederholen, als ob der Leser nicht bis drei zählen könnte. Es ist dies zwar ein mit voller Absicht eingesetztes Stilmittel, doch wirkt es deshalb nicht weniger ermüdend bei Lesern, die rasch zum Ziel gelangen wollen und auch im Epischen für aphoristische Kürze dankbar sind. Dieser mahlende, an Thomas Bernhard gemahnende Repetitionsstil, der fast ganz auf die direkte Rede verzichtet, wird an vielen Stellen durch eine feine und souveräne Ironie gewürzt, die ihn wiederum  genießbar macht. Kann man eine stilistische Thomas-Mann-und-Thomas-Bernhard-Parodie 300 Seiten lang durchhalten? Das ist die Frage, die sich der Rezensent öfter während der Lektüre stellt, ohne sie positiv beantworten zu können. Die repetitive Struktur hat es auch nicht an sich, die Fluidität des Erzählstroms zu fördern. Langatmigkeit kann die Spannung steigern, kann aber ebenso leicht das Gegenteil hervorrufen, und das hängt wohl in erster Linie vom Temperament des Lesers ab. Eine große Stärke Fiorettis liegt meiner Ansicht nach in den zahlreichen ironischen Formulierungen, welche die sprachlichen Konventionen bloßstellen. "Es war dies der Moment, da man die berühmte Stecknadel hätte hören können, wenn sie denn zu Boden gefallen wäre." So versteht er es durch  genaue Beobachtung eine große Verlegenheit im Publikum zu offenbaren: "...nicht wenige der Zuhörer reinigten in diesem Moment ihre sauberen Fingernägel oder kontrollierten ihre Schnürsenkel", oder den nationalistischen Mythos um den Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser der Lächerlichkeit preiszugeben, wenn er von dessen Riesenstatue berichtet: "...ein erstarrter riesengroßer Koloss, welcher von seinem steinernen Throne aus mit finsterem Blick gelassen den gesamten Gebirgszug überblickt, sich in Geduld übend und hierbei möglicherweise auf irgendeine Wiederkehr wartend...". Besonders die männlichen Gestalten des Romans leiden unter einer krankhaften Sucht nach Aufmerksamkeit. Mit irgendeiner ausgefallenen These suchen sie im Zeitalter des toten Gottes, der zu seinen Lebzeiten noch jedem Einzelnen seine volle Aufmerksamkeit geschenkt hatte, diese - koste es, was es wolle - ihren Mitmenschen abzutrotzen. Insgesamt haben wir es hier mit einem Roman zu tun, in dem mit viel Anschaulichkeit und Liebe zum Detail  Menschentypen ge- und überzeichnet werden, die dem Leser trotz ihrer Schrullen und kindischen Ruhm- und Geltungssüchte oder gerade ihretwegen via Mitleid ans Herz wachsen können.

Mario Fioretti: Der Vortrag, Op der Lay, Esch-Sauer, November 2005, 312 S., 14,90 Euro.

 

Jacques Wirion
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