Während des Max Ophüls-Filmfestivals ist das Café Lolas Bistro in der Modernen Galerie in Saarbrücken zum Treffpunkt für Filmschaffende geworden. Draußen steht eine Skulptur des Bildhauer-Ehepaars Matschinsky-Denninghoff namens Große Gaia: zwei Chromnickelstahl-Röhren, die sich erst ineinander verschlingen, dann gen Himmel ragen. Sie wirken leicht, wiegen jedoch zweieinhalb Tonnen. Es ist windig am Mittwochvormittag. Drinnen im Café läuft Lounge-Musik, es riecht nach Kaffee. Katharina Bintz wartet bereits, trägt ein sandfarbenes Leinenkleid über einer schwarzen Hose, eine dünne Goldkette. Sie bestellt einen Cappuccino.
Am Abend davor feierte ihr Kurzfilm Souvenirs als einziger luxemburgischer Beitrag in der Reihe SaarLorLux Premiere. Darin untersucht sie anhand einer geheimnisvollen Kiste, die seit drei Generationen in ihrer Familie weitergereicht wird, ein Kapitel der luxemburgischen Geschichte. Es geht, wie sich langsam aber sicher anhand der Voice-Overs ihrer Mutter Sylvie Bintz und ihres Onkels Germain Bintz herausstellt, um eine Kiste mit Dingen, die von Resistenzlern aus dem großherzoglichen Palast gestohlen wurden, um sicherzugehen, dass die Nazis sie nicht mitnehmen. Und gleichermaßen darum, wie die Menschen hier im Land in der unmittelbaren Nachkriegszeit miteinander umgingen – jene, die den Nationalsozialisten unter die Arme griffen und jene, die sich ihnen widersetzten. Denn Erstere wurden öfter als gedacht für Letztere gehalten, Kollaborateure sollten in der Nachkriegszeit Resistenzlern Medaillen überreichen.
Diese Geschichte bot sich Katharina Bintz in ihrem eigenen Leben mit vierzehn Jahren auf die exakt gleiche Weise auf, wie sie sich der Mutter präsentiert hatte. Auf einmal wurde wie aus dem Nichts über eine Kiste gesprochen. Sie habe immer schon gewusst, dass sie sich filmisch damit auseinandersetzen wollte. Das Gespräch zu suchen, war dennoch schwierig, ein Mantel der Verschwiegenheit hing über dem historischen Kapitel. Deshalb beschloss sie irgendwann, das Aufnahmegerät einfach mitlaufen zu lassen, wenn über das Thema gesprochen wurde. Ihre Mutter hat sich den Film immer noch nicht angeschaut. „Ich bin wahrscheinlich näher dran, weil meine Mutter 1948 zur Welt kam“, sagt sie. Sowohl die Großeltern väterlicherseits als auch mütterlicherseits waren in der Resistenz aktiv. Anstatt stolz auf ihr Engagement zu sein, hingen die mütterlichen Großeltern nach dem Krieg ein Schild in das Fenster ihres Cafés an der Polfermillen, auf dem „Wat ware mir Ieselen“ draufstand. „Si waren einfach rosen“, sagt Katharina Bintz, aufgrund des Mangels an Anerkennung und der Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren war. Aufgrund der Tatsache, dass jeder versuchte, als Widerstandskämpfer durchzugehen. Die Verschwiegenheit in den Familien, die bis heute stark ausgeprägt ist in Luxemburg, führt sie auch auf die enge Verstrickung zwischen den Menschen zurück. Historiker wüssten wenig über die Episode, um die es im Film geht. Sie hofft, dass ihr Werk zu mehr Aufarbeitung beiträgt.
Nirgends fühle sie sich so zuhause wie in der Uewerstad, wo sie aufwächst und deren Entwicklung sie etwas besorgt stimmt. Katharina Bintz besucht das Lycée Aline Mayrisch und legt dort ein Abitur in Sprachen ab. Während ihrer Schulzeit nimmt sie am Konservatorium Theaterunterricht und übt sich im Sprachtraining mit Myriam Muller und Mark Hastert, engagiert sich in der Theatergruppe Namasté. 2010 steht Katharina Bintz in Ons Identitéit – Mir hunn se fonnt vor der Kamera. Das Interesse am Schauspiel hat sie sich selbst erschlossen, auch wenn Schreiben, Bücher und Literatur zuhause immer eine große Rolle spielten. „Für Alkohol und Party haben wir uns damals weniger interessiert“, sagt ihre enge Schulfreundin Isabelle Steichen. An das „System“ der vorgezeichneten Wege habe Katharina bereits am Gymnasium nicht so richtig geglaubt.
Ihre Mutter, Sylvie Bintz, hatte kein Abitur, veröffentlichte jedoch mit 19 Jahren ihren ersten Gedichtband und war Lehrerin im Kindergarten. Ihr Vater ist Justin Turpel, ebenfalls Autodidakt, Mitbegründer von Déi Lénk und ehemaliger Abgeordneter. Sie hat zwei Schwestern, Anja und Tina Di Bartolomeo, mit denen sie aufgewachsen ist. Anja ist ebenfalls Autorin. Ihre Kindheit beschreibt Katharina Bintz als politisiert; bereits als Kind habe sie von Missständen in der Welt erfahren, sei viel von ihrem Vater auf Demonstrationen mitgenommen worden. „Ich dachte, es sei völlig normal, einen feministischen Vater zu haben.“ Es habe im Nachhinein einen riesigen Unterschied gemacht. Als ihre Eltern nach 25 Jahren Beziehung heirateten, sollte das damalige Gesetz die Schauspielerin zwingen, ab diesem Zeitpunkt den Namen ihres Vaters zu tragen. Die Familie klagte und bekam recht – Katharina Bintz wurde zur ersten jungen Frau im Land, die den Namen ihrer verheirateten Mutter weitertragen durfte. 2006 trat das dementsprechende Namensgesetz in Kraft.
Seit rund 15 Jahren lebt sie in Hamburg, mittlerweile in einem Haus in dem belebten Viertel St Pauli, bekannt vor allem für die Reeperbahn und den Fußballverein. Nach einem Studium der Schauspielerei am Schauspielstudio Frese spielt sie am Schauspielhaus in Hamburg, studiert anschließend Film an der Hochschule für bildende Künste. Sie pendelt zwischen Luxemburg und Hamburg, steht für diverse deutsche und luxemburgische Theaterproduktionen auf der Bühne. Sie bemerkt früh, dass sie auch noch andere Ausdrucksformen braucht. „Es reicht mir nicht, ,nur‘ Schauspielerin zu sein.“ Sie beginnt, Filme zu drehen und Bücher zu schreiben. 2022 kommt ihre Erzählung Valley Girl heraus, in der es um einen sexuellen Missbrauchsfall am Theater geht. Eine Fiktion, doch damals dachte jeder, ihr sei das passiert. Der Weg zum größeren Zusammenhang über die persönliche Historie, über die Familie, die Autobiografie, der zurzeit stark im Zeitgeist ist – ist es auch ihr bevorzugter? „Ich finde es immer interessant, wenn es persönlich wird, weil es ohne vorgefertigte Kategorien funktioniert.“ Ihr geht es um die Sache – die Perspektive, aus der jemand etwas erzählt, sei erst in zweiter Instanz relevant. Gleichzeitig ist sie davon überzeugt, dass niemand etwas produzieren kann, in dem das eigene Selbst nicht auf irgendeine Weise mit drinsteckt.
Im Gespräch wirkt sie reflektiert und selbstbewusst, auch ernst. Draußen fegt der Wind einen Pflanzenkübel um. Ihr erster Kurzfilm Mauerrufe (2018) lief ebenfalls hier auf dem Saarbrückener Max-Ophüls Preis. Er fängt – erneut per Voice-Over – eindrücklich ein, wie eine junge Frau mit zwei Kindern, in einem Park in der Nähe eines Gefängnisses, durch Rufe über den Zaun versucht, in Kontakt mit ihrem Mann hinter Gittern zu treten. Mauerufe und Souvenirs hat Katharina Bintz auf 16mm gedreht, eine Materialität, die sie sehr schätzt, die allerdings auch voraussetzt, die Einstellungen präzise vorzubereiten, da nur limitierter Platz auf der Filmrolle vorhanden ist. Er ist im Rahmen der Carte blanche des Filmfonds entstanden, 15 000 Euro Unterstützung gab es dafür insgesamt.
Ihr genaues Alter gibt Katharina Bintz ungern an, weil Caster die Tendenz hätten, Schauspielerinnen auf ihr Alter festzunageln, auch wenn sie jünger aussehen. Ein Indiz dafür, wie die Szene immer noch funktioniert. Das Frausein deklinierte sie auch in Carole Lorangs Inszenierung von Stefano Massinis Stück 7 Minuten (2018) aus. Dort sah man sie als eine der elf Angestellten eines Textilunternehmens, die sieben Minuten ihrer Mittagspause entbehren sollen. Das Lëtzebuerger Land bezeichnete die Schauspielerin damals als die „Entdeckung“ des Stücks. Die Direktorin des Escher Theaters, Carole Lorang, behält sie als „eher diskrete Person“ in Erinnerung, die jedoch mit ihren kreativen Einfällen und ihrer eigenwilligen Energie auf der Bühne überrascht. „Sie zeichnet sehr schnell eine Figur, findet die Körperlichkeit dafür.“ Ist die Interdisziplinarität ein Merkmal ihrer Generation? Tatsächlich gibt es eine Reihe von Schauspielerinnen Anfang 30, die von Anfang an auch Regie geführt haben oder begabte Musikerinnen sind: Elsa Rauchs, Sophie Mousel, Eugénie Anselin, Larisa Faber. Das könnte sich auch dadurch erklären, dass es ein Hauch selbstverständlicher geworden ist, die Kunst als Weg einzuschlagen, meint Carole Lorang.
Von den Luxemburger Medien hat Katharina Bintz sich eher ferngehalten. Zufall ist das freilich nicht. Eine gewisse Distanz hat sie sich über die Jahre zu ihrer Heemecht erhalten. Diesen Blick aus der Ferne würde sie verlieren, wenn sie stets hier wäre, sagt sie. Das Spagatdasein scheint für eine Reihe Künstler/innen der ideale Umgang mit Luxemburg. In ihrem ersten Roman, den sie kürzlich fertiggestellt hat und der bei einem deutschen Verlag veröffentlicht werden soll, spielen wieder sowohl ihre Heimat, als auch ihre Wahlheimat eine Rolle. Darin geht es um die Auseinandersetzung mit einer Mutterfigur – die Geschichte spielt in einem Hotel in Hamburg. Ab März steht sie dann für Loïc Tansons neue historische Kriminalserie Marginal (Samsa Film) in Luxemburg vor der Kamera. Es handelt sich um eine größere Rolle und es geht mitunter auch um die Situation der Frau am Anfang des 20. Jahrhundert.
Die Familie Bintz-Turpel-Di-Bartolomeo fügt ihre Gedanken in geschriebener Form zusammen, jede und jeder für sich – über die Bücher wird allerdings nicht unbedingt gemeinsam gesprochen. „Das ist schon bezeichnend für uns“, sagt Katharina Bintz. Justin Turpel wohnt mittlerweile ebenfalls in der Hansestadt im Norden Deutschlands, um ein Masterstudium der Sozialökonomie abzuschließen. Er wurde kürzlich mit 70 Jahren ins Studentenparlament gewählt. Auch Katharina Bintz’ Mutter pendelt hin und her. Die Kiste, um die es in Souvenirs geht, wurde von der Familie noch nicht an den Palast zurückgegeben. Sie liegt ebenfalls in Hamburg.