Bereits 2008 lagen erste Pläne auf dem Tisch, 2016 soll sie endlich kommen: die kontrollierte Heroinabgabe für Opiatabhängige

Heroin zum Leben

d'Lëtzebuerger Land du 12.06.2015

Über 80 Prozent Zustimmung. Davon können die Befürworter eines Wahlrechts für Nicht-Luxemburger nur träumen. Nun, zur geplanten kontrollierte Heroinabgabe gab es die: Da waren sogar 85,6 Prozent der befragten potentiellen Klienten für die Einrichtung eines solches Therapieangebot. So lautete das Ergebnis in einer Umfrage der Jugend- an Drogenhëllef von 2008. Bereits 2004 schaffte die Idee eines solchen Therapieangebots für Opiatabhängige es erstmalig ins Regierungsprogramm der schwarz-roten Koalition, ein erstes Konzept lag 2008 vor (siehe d’Land vom 23.10.2008). Umgesetzt wurde die kontrollierte Heroinabgabe allerdings bis heute nicht.

„Aus mehreren Gründen“, erzählt Alain Origer. Der nationale Drogenberater steht und stand Pate, als es darum ging, ein Heroin-Angebot, nach Belgien, Deutschland, England, den Niederlanden. Spanien und der Schweiz, auch in Luxemburg ins Leben zu rufen. Zunächst hieß es, Unterstützer in der Politik, bei der Polizei und Justiz und bei den Drogenberatungsstellen zu finden. Weil sich mit der Ärztin Martine Stein-Mergen früh eine christlich-soziale Politikerin für die kontrollierte Heroinabgabe aussprach, herrschte zwischen den Koalitionspartnern über die grundsätzliche Ausrichtung rasch Einigkeit.

Als nächstes wurde ein Partner im Ausland gesucht, der das nötige Diacetylmorphin – das ist reines Heroin – liefern kann. „Das brauchte Zeit, denn die Sicherheitsauflagen für den Transport und die Lagerung sind sehr streng“, erklärt Origer. Schließlich wurde ein Pharmaunternehmen in der Schweiz gefunden, das das Mittel produziert. Doch 2008/2009 kam die Finanzkrise: Der finanzielle Gürtel beim Staat wurde enger geschnallt, auch im Gesundheitsministerium; der Start des Projekts verzögerte sich weiter. Anfang Mai dieses Jahres dann stellte Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) den neuen Fünf-Jahresplan zur Bekämpfung von Drogen und Drogensucht vor: Die Heroinabgabe ist dort als Priorität aufgeführt. Wenn alles gut geht, sollen Anfang 2016 die ersten Teilnehmer mit der Therapie beginnen können.

Das Angebot richtet sich an Drogenabhängige mit gravierenden Gesundheitsproblemen, bei denen bisherige Drogentherapien nicht erfolgreich waren. Zwei Mal, wenn nötig drei Mal am Tag sollen sie eine bestimmte Menge an reinem Heroin verabreicht bekommen. Zudem werden sie von Sozialarbeitern und Psychologen betreut. Diese Kombination, die kontrollierte Einnahme von reinem Heroin sowie die psychosoziale Beratung, soll ihnen helfen, ihr Leben besser in den Griff zu bekommen. Das Projekt ist vorerst auf zwei Jahre mit 15 Teilnehmern (2008 waren es noch 40 Plätze) angelegt und soll danach ausgewertet werden.

Bisher ist das Konzept nicht öffentlich, eine Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern der Jugend- an Drogenhëllef sowie des Gesundheitsministeriums feilt noch an Details. Am Dienstag kam ein Drogenexperte aus Zürich nach Luxemburg, um von den Erfahrungen seines Landes mit der Heroinabgabe zu berichten. Die Schweizer waren die ersten, die Mitte der 1990-er damit begonnen hatten, Heroin-Abhängige mit Heroin ärztlich zu behandeln, mit viel versprechenden Resultaten.

Aber erst mit der Heroinstudie in Deutschland wurde erstmals ausführlich wissenschaftlich belegt, dass die kontrollierte medizinische Heroinabgabe wirkt. Sogar deutlich besser als Methadon. Der körperliche Gesundheitszustand der Betroffenen verbesserte sich bereits im ersten Behandlungsjahr deutlich, bei der heroingestützten Therapie noch mehr als bei der methadongestützten. Denn anders als beim Methadon, das das Gehirn nicht erreicht, wirkt Heroin direkt auf das Gehirn. Was uninformierte Gegner in der Vergangenheit dazu veranlasste, die staatlich kontrollierte Heroinabgabe polemisch als „staatliche Beihilfe zum Kick“ zu verunglimpfen, ein Vorurteil: Etwa die Hälfte der Heroinpatienten empfindet keinerlei Kick- oder Euphoriegefühl nach der Einnahme von ärztlich verordnetem Diamorphin.

Dafür aber nahm der Beikonsum, die Einnahme von Straßenheroin und Kokain, Benzodiazepinen und Cannabis ab, die Patienten konsumierten weniger risikoreich, also weniger Fixen mit verunreinigten Spritzen, weniger Drogen-Cocktails, auch der Kontakt zur Drogenszene ging zurück. Weil sie für ihren Drogenkonsum nicht mehr anschaffen mussten, nahm die Kriminalität ab; Teilnehmer hatten Zeit, andere Herausforderungen, wie Wohnungslosigkeit oder Arbeitslosigkeit, aber auch psychologische Probleme anzugehen. Angesichts der eindeutigen Erfolge wurde in Deutschland das Betäubungsmittelgesetz geändert, die heroingestützte Behandlung bundesweit zugelassen und deren Kosten von der Krankenkasse übernommen.

In Luxemburg wird das Projekt über das Budget des Gesundheitsministeriums finanziert. Umgesetzt werden soll es von der Jugend- an Drogenhëllef in demselben Gebäude, in dem sich das Methadonprogramm befindet. „So können wir Ressourcen bündeln“, begründet Alain Origer die Wahl. Doch bevor das Projekt starten kann, muss das Gebäude in der hauptstädtischen Rue d’Anvers erst umgebaut werden: So wird es einen hoch gesicherten Raum mit Panzerschrank geben. Das Diamorphin wird aber nicht in der Einrichtung gelagert, sondern an einem geheimen Ort im Land. Die einzeln abgezählten Ration werden täglich angeliefert und unter ärztlicher Aufsicht nur an ausgesuchte Teilnehmer des Modellversuchs ausgegeben.

Das ist personalintensiv, schließen müssen die Suchtkranken jeden Tag, also sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr, ihre Dosis bekommen. Zudem müssen immer mindestens zwei Mitarbeiter bei der Abgabe präsent sein. Wie wichtig regelmäßige Kontakte und Gruppen- respektive Einzelgespräche für das Gelingen der heroingestützten Therapie sind, hatte auch die deutsche Heroinstudie (www.heroinstudie.de)unterstrichen. Um die Rund-um die Uhr-Betreuung gewährleisten zu können, soll die Drogenhilfe 2,5 zusätzliche Stellen bekommen. Allerdings ist über den Inhalt der psychosozialen Begleitung noch nichts bekannt.

Dabei ist sie das „Kernstück“ einer erfolgreichen Suchttherapie, unterstreicht Torsten Passie von der Medizinischen Hochschule in Hannover im Land-Gespräch. Oft bestünden psychosoziale Angebote darin, dass ein Sozialarbeiter regelmäßig Kontakt mit dem Patienten habe, ihn bei Behördengängen, Wohnungssuche, Arbeit, der Regelung von Schuldenproblemen begleite. Es sei ein Missverständnis, wenn diese Begleitung als eigentlich heilender oder therapeutischer Zusammenhang dargestellt würde. „Die meisten Suchtkranken haben große psychologische Probleme. Viele sind schwersttraumatisiert, und das nicht nur durch das Leben auf der Straße, sondern durch Erfahrungen, die vor dieser Zeit liegen“, warnt der Psychiatrieprofessor, der eine Gastprofessur an der Harvard Medical School hat.

Passie ist seit zwölf Jahren Leiter einer Einrichtung zur heroingestützten Behandlung in Hannover und hat gemeinsam mit seinem Kollegen Oliver Dierssen ein viel beachtetes Buch über seine Erfahrungen aus medizinisch-therapeutischer Sicht geschrieben. Wichtig sei es, eine „heilsame, zugeneigte Atmosphäre“ für die Patienten zu schaffen, in der „Transparenz, Gerechtigkeit, Wärme und Empathie und Zuverlässigkeit und Großherzigkeit“ als Werte vorgelebt würden. Passie entwirft das Beratungsangebot als eine „Gegenwelt“ zu dem, was Suchtkranke ihr Leben lang erlebt hätten: Willkür, sexuellen Missbrauch, Gewalt, Ignoranz. „Nur wenn der Betroffene wieder Respekt erfährt, kann Heilung geschehen“, ist Passie überzeugt. Um Suchtkranken dauerhaft zu helfen, reiche es daher nicht aus, lediglich gut gemeinte Assistenzsysteme anzubieten. Der Psychiater plädiert für einen Facharzt mit psychiatrischem und psychotherapeutischem Hintergrund sowie ein begleitendes Team, das „Empathie“ und „Arbeiten auf Augenhöhe“ in den Mittelpunkt der Behandlung stelle. Und auch „eigene Fehler kritisch hinterfragt“.

Das alles, die Behandlung plus Personal, gibt es nicht zum Nulltarif: Mit geschätzten 20 000 Euro jährlich pro Patient veranschlagt Alain Origer die Kosten für das Luxemburger Projekt. Dem stünden aber Kosteneinsparungen gegenüber, weil Ausgaben für vergebliche Entgiftungen, weitere abgebrochene Therapien oder die Versorgung gravierender Gesundheitsschäden, die durch den Konsum von Straßendrogen entstehen, bei den Betroffenen entfallen, beziehungsweise sinken und sich nicht zuletzt die gesellschaftlichen Folgekosten der Beschaffungskriminalität eindämmen ließen.

Torsten Passie plädiert für eine erweiterte Sichtweise, wenn es um „Erfolge“ bei der Heroin-Behandlung geht. Rund zehn bis 20 Prozent der Patienten schafften es in Folge der heroingestützten Therapie ein drogenfreies Leben zu führen, dämpft der Suchtexperte allzu große Hoffnungen auf eine Drogenabstinenz. Aber immerhin etwa ein Drittel werde über mehrere Jahre wieder arbeitsfähig. Der Heroinstudie zufolge fanden bei den Heroin-Patienten fast in allen Bereichen – Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, illegales Einkommen, Gerichtsverfahren, soziale Kontakte – überwiegend positive Entwicklungen statt. Wichtig sei es, dass „sich die Gesundheit und die Lebenssituation der Betroffenen spürbar und dauerhaft verbessert“, beschreibt der Drogenbeauftragte Alain Origer das Ziel des Luxemburger Modellprojekts. Der Beweis ist lange erbracht, höchste Zeit also, Nägel mit Köpfen zu machen und die heroingestützte Drogentherapie endlich auch hierzulande einzuführen.

Ines Kurschat
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