75. Festival de Cannes

Sechs Esel und zehn Preise

d'Lëtzebuerger Land du 03.06.2022

Als die Schwestern Alba und Alice Rohrwacher während der abschließenden „Cérémonie des Prix“ der 75. Filmfestspiele von Cannes auf die Bühne traten, hätte man rückblickend durchaus erahnen können, wie sich der diesjährige Palmarès gestalten würde. Denn wenige Augenblicke später wurde der Jury-Preis vergeben; die Jury-Preise, um genau zu sein. Einen bekamen Jerzy Skolimowski und seine Esel im Film EO. Skolimowskis Dankesrede bestand darin, sich bei den Vierbeinern, bei allen sechs, mit Namen zu bedanken. Den zweiten Jury-Preis erhielten Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch für ihren Spielfilm Le otto montagne. Jurypräsident Vincent Lindon und seine Kolleg/innen verteilten aber nicht nur einmal, sondern gleich zweimal eine Auszeichnung ex aequo an zwei Filme; nicht nur die Bronzemedaille des Jury-Preises, sondern auch die Silbermedaille des Grand Prix. Den durften sich Lukas Dhont und Claire Denis teilen.

In beiden Situationen sind die prämierten Filme derart grundverschieden, dass nicht klar zu erkennen ist, welche Aspekte der Werke und welche Motivationen die Jury zu diesen Entscheidungen veranlassten. Vielleicht par amour du cinéma. Oder der Fairness wegen: Meim letztjährigen Termin an der Croisette sah es am Ende ähnlich aus – Grand Prix und Prix du jury wurden in zwei geteilt. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass der Wettbewerb 2021 dem von diesem Jahr – Achtung, Top Gun-Referenz und Wortspiel im Anmarsch – um ein paar Machs voraus war. Ein Großteil der 21 präsentierten Wettbewerbsbeiträge waren, milde ausgedrückt, durchwachsen und mittelmäßig.

Auch der Palme d’Or-Gewinnerfilm ist alles andere als ein Überzeugungstäter. Ruben Östlund ist mit seinem kryptisch anmutenden Triangle of Sadness in den übersichtlichen Club der zweifach mit der Palme Geehrten aufgerückt. Kryptisch ist an seinem Film jedoch wenig. Hatte er in seiner vorherigen Arbeit The Square mehr oder weniger subtil mit der Kunstwelt abgerechnet, versucht er jetzt mit den gleichen Stilmitteln noch höher zu schlagen. Influencer und Models Carl und Yaya sind auf eine Luxusyacht eingeladen und dürfen den Alltag von Superreichen beobachten. Nach dem Captain’s Dinner, welches erstens wortwörtlich in alle Richtungen aus dem Ruder läuft – Mr. Creosote aus Monty Pythons Meaning of Life wäre stolz auf Östlund – und zweitens von Piraten unterbrochen wird, finden sich die restlichen Protagonist/innen (Lord of the Flies ähnlich) auf einer verlassenen Insel wieder und müssen um ihr Überleben kämpfen. Dabei werden alteingesessene Hierarchien, gesellschaftliche Muster und Machtdynamiken auf den Kopf gestellt. Dass Ruben Östlund mit dem dialektischen Holzhammer durch seinen Film hindurchpreschen würde, ist jedem klar, dem es schon bedenklich erschien, dass er 2017 für The Square die Palme d’Or überreicht bekam. Triangle of Sadness wird Skeptiker nicht vom Gegenteil überzeugen. Wenigstens aber wird die sehr bewusst in die Länge gezogene Sequenz um das seekranke Dinner amüsieren. Wobei, es sind 30 von insgesamt fast 150 Filmminuten.

Auch Claire Denis’ Film Stars at Noon überschritt die 130-Minuten-Marke. Waren die Kritiken bei Östlund verhältnismäßig enthusiastischer, so fiel der Film der Französin bei der Kritik durch. Die chaotische Buchadaptation eines Spionageromans erzählt von einer von Margaret Qualley verkörperten Journalistin/Prostituierten, die in Nicaragua festzustecken droht und die mit einem mysteriösen Industriellen anbändelt. Claire Denis oblige gibt es einen Tindersticks-Soundtrack. Auch der viele Sex entschuldigt den motivationslosen Plot und seine Figuren nicht in einem Film, der – für die Regisseurin überraschend – frei von jeglichem Sinn für Atmosphäre ist. Albert Serra wiederum wurde Kunstkacke vorgeworfen. Mit seinem Wettbewerbsfilms Pacifiction ist ihm aber genau das gelungen: eine verschlafene, schwül durchschwitzte und hochgefährliche Stimmung zu inszenieren. Serra ging natürlich leer aus.

Claire Denis’ Ko-Laureat Lukas Dhont inszenierte mit Close die Freundschaft zweier Jungen, deren Beziehung zueinander von Mitschülern plötzlich in Frage gestellt wird. Als den beiden das Schicksal einen tragischen Streich spielt, muss einer von ihnen sich über die Gründe seines Distanz-Nehmens Fragen stellen. Ob man dem Belgier vereinfachende Melodramatik vorwerfen soll, oder ob Close eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema Freundschaft ist und inwiefern man sich von der Geschichte emotional mitnehmen lässt, wird im Auge und der Tränendrüse des Betrachters liegen.
Sieben Preise hatte die

Jury zu verteilen. Am Ende vergab sie zehn und prämierte quasi die Hälfte des Wettbewerbs. Die Dardennes durften sich für ihren auf Autopilot produzierten Tori et Lokita sogar über einen spontan erfundenen Preis freuen. Vielleicht wird ihnen das nächste Mal sogar ein Preis überreicht, wenn sie keinen Film im Rennen haben. Die seit Ewigkeiten eingeladenen Regisseure (ganz bewusst das Maskulinum im Gebrauch), ihre mit verbundenen Augen inszenierten Filme und dass sie automatisch ins Programm des selbsternannten wichtigsten Festival der Welt gelangen, wird Cannes auf die Dauer sehr schaden. Vielleicht sollte man das nächste Jahr Skolimowskis Esel zur Jury ernennen: Wenigstens würden sie diese elenden und unentschiedenen ex aequos nicht weiterführen. Dass jedoch Thierry Frémauxs Kumpanei so schnell aufhört, davon ist nicht auszugehen.

Tom Dockal
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