Luxemburg hatte die Idee, inzwischen setzen weitere Länder an, es beim Versuch zu überholen, als erstes Land in der EU nicht-medizinischen Cannabis-Konsum, Produktion und Vertrieb zu erlauben

Cannabusiness

d'Lëtzebuerger Land du 30.07.2021

Die Kritik kam per Tweet: „Eine liberale Drogenpolitik und eine Politik, die auf Prävention und Persuasion gegenüber den Dealern setzt, wie sie die Grünen in der Regierung vertreten, setzt darauf, dass das #OrganisedCrime darauf eingehen würde. Die lachen darüber und nutzen jede Schwäche der Staaten aus“, twitterte Victor Weitzel Anfang der Woche. Hintergrund ist der Mord an dem niederländischen Journalisten Peter de Vries, mutmaßlich durch einen Auftragsmörder einer Drogenmafia, und der Artikel „Kehrseite der Toleranz“ der Süddeutschen Zeitung, der die These aufstellt, der Mord hänge mit der liberalen Drogenpolitik in den Niederlanden zusammen.

Der ehemalige Chefredakteur des Le Quotidien und des Europaforums, LSAP-Mitglied und eifrige Twitterer ist nicht allein mit seiner Skepsis. Auch LSAP- Außenminister Jean Asselborn soll kein Fan der Regularisierungspläne sein und der Ex-Gesundheitsminister und Ex-Chamber-Präsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) hatte noch 2012 im Brustton der Überzeugung gemeint, nicht einmal medizinisches Cannabis werde es in Luxemburg geben.

Doch bei allen berechtigen Sorgen um die Folgen einer drogenpolitischen Wende: Sich auf den Artikel in der SZ zu berufen als Beweis, dass etwas schief gehen musste, belegt vor allem: Die Liberalisierungs-Kritiker sind schlecht informiert. Dass Drogenbanden die niederländische Gesellschaft unterwandert haben, ist kein neues Phänomen. Das Land gilt seit den 1990-ern als Drehscheibe für harte Drogen wie Kokain und Amphetaminen, neuerdings auch von MDMA. Nur: Der SZ-Autor unterschlägt ein wichtiges Detail: Wer Haschisch-Blüten oder Marihuana kaufen will, kann dies legal in den dafür vorgesehenen Coffeeshops tun. Aber den Drogenmarkt haben die Niederlande eben nicht reguliert: Der kommerzielle Anbau von Cannabis ist untersagt, die Coffeeshops können sich nur illegal Nachschub besorgen.

Das ist keine Kleinigkeit, sondern für Experten wie den Kriminologen Tom Decorte von der Universität in Gent ein großer Fehler, wenn nicht die Achillesferse des niederländischen Modells: Weil der Handel von Samen erlaubt war, nicht aber die Produktion, etablierte sich ab etwa der 1990-er Jahre die Pflanzen heimlich anzubauen. Kriminelle Banden witterten das große Geschäft. Inzwischen bringt der Handel mit Cannabis geschätzte 1,1 Milliarden Euro.

Decorte hat 2019 eine Analyse zu den Auswirkungen der Drogenpolitik des Nachbarns auf Belgien geschrieben und ist Ko-Autor des Buchs Legalizing Cannabis, das erste Lehren aus diversen Regulierungsansätzen zieht. Antwerpen gilt neben Rotterdam als Hauptumschlagplatz für illegale Drogen. Im März sprengten belgische und niederländische Fahnder einen Drogenring: 17 Tonnen Kokain wurden beschlagnahmt, 1,2 Millionen Euro in bar, 15 Schusswaffen und verschlüsselte Handys. In Belgien stehen immer mehr Richter/innen, Anwält/innen, Polizist/innen und Journalist/innen unter Polizeischutz, weil sie von der Mafia bedroht werden. Drogenlabore in den Händen niederländischer Krimineller tauchen zunehmend an der Grenze zu Belgien und Deutschland auf. Die meisten der 28 im Jahr 2020 in Belgien ausgehobenen Drogenlabore stehen im Zusammenhang mit niederländischen Kriminellen, so Marc Vancoillie von der Drogeneinheit der belgischen Föderalpolizei. Weil die niederländische Polizei den Druck auf die Dealer im eigenen Land erhöht hat, weichen diese aus und produzieren in grenznahen Städten wie Antwerpen, Maastricht oder Lüttich.

Die Drehscheiben-Funktion der Niederlande hat auch Folgen für Luxemburg. Hiesige Cannabiskonsument/innen beziehen ihre Ware größtenteils aus den Niederlanden und Belgien. Laut Polizei wird die Ware entweder direkt im Ausland abgeholt oder sie wird nach Luxemburg gebracht und dann „über Dealer unter die Leute gebracht“. Andere beziehen Haschisch von der Straße. Die beschlagnahmten Proben weisen oft einen hohen THC-Gehalt auf von 15 Prozent und mehr – mit entsprechend erhöhtem Gesundheitsrisiko. „Natürlich handelt es sich um organisierte Kriminalität“, schreibt die Polizei-Pressestelle, von mafiösen Strukturen könne man in Luxemburg „aber definitiv nicht reden“.

Eben diesen Schwarzmarkt will die DP-LSAP-Grüne-Regierung zurückdrängen und ihm einen staatlich regulierten Markt gegenübersetzen. So wie es die niederländische Regierung seit 2018 in einem Pilotprojekt in zehn Städten macht. Die Idee ist: Wenn der Staat die Cannabisproduktion erlaubt und überwacht, können THC-Werte und Produzenten kontrolliert und Gesundheitsrisiken reduziert werden. Leider ist bis auf die großen Linien aus einem Konzeptpapier vom Frühjahr 2020 nicht mehr bekannt. Nicht einmal, mit welchen Expert/innen es sich berät oder was der Stand der Beratungen ist, will das Justizministerium verraten. Im Herbst plane man zu kommunizieren, so die Pressestelle knapp. Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) hatte zuletzt im Mai während einer Parlamentsdebatte das Thema aufgegriffen, über die koordinierende Arbeitsgruppe und thematische Untergruppen, etwa zur Prävention, berichtet. Aber obwohl Details für Juni angekündigt waren, herrscht seitdem Funkstille.

Die undurchsichtige Haltung ist nicht ohne Risiko bei einem so schwierigen und, zumindest bei einem Teil der Bevölkerung, kontrovers diskutierten Thema. Während Länder wie Kanada von Anfang an die Zivilgesellschaft eingebunden haben, sich mit Forscher/innen und NGOs beraten und offen kommuniziert wurde, ist davon in Luxemburg nicht viel zu sehen. Nicht einmal die, die es direkt betrifft, potenzielle Produzenten wie der Hanfbauer Norbert Eilenbecker, wissen, was die Regierung konkret plant: „Wir versuchen seit Monaten Kontakt mit der Gesundheitsministerin zu bekommen. Vergeblich.“ Sicherlich hat die Corona-Pandemie zur Verspätung beigetragen, aber passt die Regierung nicht auf, könnte sie die Intransparenz teuer zu stehen kommen. Ein Gesetzentwurf für den Herbst scheint zunehmend unrealistisch.

Bekannt ist, dass das Vorhaben eine komplizierte, komplexe und ambitiöse Angelegenheit ist. Juristisch, weil das berauschende Cannabis weiterhin von den Vereinten Nationen als hochgefährliche Droge klassiert ist und Luxemburg sich völkerrechtlich verpflichtet hat, harten Drogen den Kampf anzusagen. Obschon immer mehr Staaten den medizinischen und den rekreativen Konsum erlauben und Cannabis laut Europäischer Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA seit Jahren die mit Abstand beliebteste illegale Droge in Europa ist. Luxemburg wäre das erste EU-Land, das die Produktion der psychoaktiven Substanz erlaubt. Vor allem in den Anrainerstaaten ist die Skepsis groß. Als die saarländische Gesundheitsministerin Monika Bachmann 2020 das Abrigado besuchte, bekräftigte sie die Notwendigkeit eines engen Austausches über die Grenzen hinweg. Dem Land schrieb ihre Pressestelle: Derzeit komme „eine Legalisierung von Cannabis nicht infrage, sowohl aus rechtlichen als auch aus gesundheitspolitischen Gründen“. Die Nachbarn fürchten spill-over-Effekte, wie in Belgien und Niederlanden.

Zumindest dem Tourismus soll ein Riegel vorgeschoben werden, in dem nur in Luxemburg ansässige Erwachsene, die sich ausweisen müssen, bis maximal 30 Gramm pro Monat kaufen dürfen. Der Druck der EU-Nachbarn war es, warum Gesundheitsministerin Paulette Lenert im Februar betonte, keine Eile zu haben und warum die Regierung die Option eines befristeten Pilotprojekts à la Niederlande prüft: Bei unerwünschten Nebenwirkungen könnte der Versuch schnell gestoppt werden. Die Gretchenfrage bleibt: Wie die Depenalisierung juristisch formulieren, ohne gegen Völkerrecht zu verstoßen und international Strafen und Ächtung zu riskieren? Mit welcher Produktionsweise den illegalen Drogenmarkt wirksam zurückdrängen? Und wie vermeiden, dass unbeabsichtigt Suchtanreize gegeben werden? Laut Wohlbefindlichkeitsstudie HBSC der Weltgesundheitsorganisation sinkt der Cannabiskonsum bei Luxemburgs Schüler/innen. Die Sorge ist, dieser Trend könnte sich umkehren. Studien zu Legalisierungen in den USA und Kanada legen allerdings nahe, dass es für die Befürchtung eher keinen Grund gibt: Nach einem kurzen Hoch sank der Konsum bei den Jugendlichen wieder.

Allerdings warnt Tom Decorte davor, wie in den USA den Cannabis-Markt allein privaten Firmen zu überlassen: „Wenn man vom Extrem der Prohibition auf ein ultra-liberales Modell wechselt, dann ersetzt man eigentlich nur die Mafia durch Multinationale, die auch nur Gewinne im Blick haben werden. Sind sie einmal da, werden sie alles tun, den Konsum anzukurbeln und Risiken zu verharmlosen und vielleicht sogar die Forschung korrumpieren“, so Decompte im Februar vor französischen Abgeordneten. Er wies auf die Geschichte der US-Tabakindustrie hin.

Auch Steuersätze spielen eine wichtige regulative Rolle. In den US-Bundesstaaten Maine, Massachusetts und Oregon wird Cannabis mit zehn bis 15 Prozent besteuert, in Washington und Kalifornien mit 40 Prozent. Während Illinois die Steuern nach THC-Gehalt staffelt, sind in Alaska Gewicht und Menge ausschlaggebend. In Luxemburg ist nicht bekannt, wie das in 14 Verkaufsstellen geführte Cannabis besteuert werden soll, aber Händlern von legalem Cannabis (CBD) schwant nichts Gutes: Seit Dezember 2019 erhebt der Staat auf CBD-Produkte nicht nur 17 statt zuvor drei Prozent Mehrwertsteuer. Zusätzlich werden seit 2020 33,5 Prozent Tabaksteuer fällig. Luxemburgs Regierung will die über Steuern erzielten Gewinne in die Suchtprävention investieren.

Viel wird also davon abhängen, wie die blau-rot-grüne Koalition Produktion, Vertrieb, Besteuerung im Detail regeln wird. Das Konzeptpapier sieht keinen Eigenanbau vor. Konsument/innen könnten daheim in größeren Mengen und mit hohem Rauschwert produzieren und diese verkaufen, ohne dass Kontrolle möglich sei, heißt es. Dürfen die Konsument/innen jedoch nicht selbst anbauen, sind sie auf den Markt angewiesen: Ware muss in gewünschter Qualität und zu einem akzeptablen Preis vorhanden sein, sonst riskieren sie doch auf den Schwarzmarkt auszuweichen. „Der Preis für rekreatives Cannabis muss hoch genug angesetzt werden, um nicht den Konsum anzukurbeln und gleichzeitig niedrig genug, damit Kunden nicht auf den Schwarzmarkt ausweichen“, so Wirtschaftsprofessor Pierre Kopp von der Pariser Uni Sorbonne während einer Anhörung vor Abgeordneten der französischen Nationalversammlung im Februar. Anders als in Kanada, wo ein Jahr nach der Legalisierung der Schwarzmarktanteil von Cannabis auf 33 Prozent sank, lag er in Uruguay sieben Jahre nach Startschuss der Legalisierung erst bei 50 Prozent. Offenbar war der staatlich fixierte THC-Wert von neun Prozent vielen Konsument/innen zu niedrig angesetzt. In Luxemburg sind gestaffelte THC-Werte im Gespräch. Wichtig sei es, die Nachfrage genau zu studieren, bevor man reglementiert“, mahnt Ivana Obradovic, Vize-Direktorin des Observatoire français des drogues et des toxicomanies (OFDT), das für die Nationalversammlung verschiedene Legalisierungsansätze von Cannabis miteinander verglichen hat.

In Frankreich, das jahrelang einen repressiven Kurs in der Drogenpolitik gefahren ist, tut sich drogenpolitisch unter Staatspräsident Emmanuel Macron einiges: Medizinisches Cannabis ist dort seit 2013 erlaubt. Ein Modellversuch mit 3 000 Patient/innen startete dieses Jahr. Es waren die Sozialarbeiter des Abrigado, die das Konzept der Drogenkonsumräume Paris vorstellten. Inzwischen gibt es in der französischen Hauptstadt, in Bordeaux und Straßburg die ersten Drogenkonsumräume. Ein Parlamentsausschuss beschäftigt sich derweil mit weiteren Liberalisierungen: Herstellung und Vertrieb von CBD-haltigen Wellness-Produkten sollen gefördert werden. Eine Depenalisierung des Freizeitkonsums ist ebenfalls im Gespräch. Angesichts der Entwicklungen in den USA und Kanada wittern offenbar auch Regierungen in Europa ein Geschäft. In Großbritannien prüft die Taskforce on innovation, growth and regulatory reforms im Auftrag von Premier Boris Johnson, wie Forschung, Innovation und Kommerzialisierung rund um Cannabinoide gefördert werden können. Luxemburgs Vorsprung, als Pionier in Europa den freizeitlichen Cannabis-Konsum zu erlauben, schmilzt deutlich zusammen.

Zumal Ungemach aus Deutschland droht. Die Koalition aus Sozial- und Christdemokraten hat bisher keine Öffnung bei der Cannabis-Politik geplant. Im Herbst sind Bundestagswahlen. Die Pressestelle der Bundesdrogenbeauftragten Daniela Ludwig (CSU) sagte dem Land: „Der Königsweg liegt in der Mitte.“ Viele EU-Länder hätten den Weg straffreier Besitzgrenzen eingeschlagen, doch sei es „eine Frage der Verhältnismäßigkeit“. Eine komplette Legalisierung sei nicht der richtige Weg. „Sie machen sonst eine Tür auf und kriegen die andere nicht mehr zu.“

Und noch eine Hausaufgabe muss Luxemburg erledigen: Die EMCDDA, die EU-weit Informationen zu Drogen, Sucht und Drogenpolitik sammelt, mahnt EU-Staaten, die größere Änderungen in ihrer Drogenpolitik planen, bereits zuvor ein valides Evaluierungskonzept erstellt und die dazu gehörigen Mechanismen und Instrumente umgesetzt zu haben, um mit einer drogenpolitischen Wende verbundene Folgen für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit präzise zu erfassen und gegebenenfalls gegensteuern zu können. Erfahrungsgemäß ist das eine strukturelle Schwäche in Luxemburg immer gewesen: das Erstellen von verlässlichen Statistiken. Wie sollen Effekte einer Cannabis-Depenalisierung gemessen werden, wenn aktuell schon nicht systematisch veröffentlicht wird, wie groß beispielsweise der Anteil Cannabis-bezogener Delikte an der Kriminalitätsstatistik ist, wie viele wegen Cannabis-Delikten verurteilt werden, welche Cannabis-Produkte auf welchen Wegen gekauft oder wie häufig welche präventiven Suchthilfeangebote von wem genutzt werden? Daten von Justiz und Polizei fehlen oder sind nicht zugänglich. Ob die EMCDDA das Luxemburger Projekt in ihren Arbeitsgruppen diskutiert oder Luxemburg die Agentur um Rat gefragt hat, um eine solche Evaluierung auf die Beine zu stellen, wollte deren Pressestelle nicht sagen.

Ines Kurschat
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