Ukraine in der Krise

Das Recht des Stärkeren

d'Lëtzebuerger Land du 16.05.2014

In der Ukraine-Krise wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Wenn Angela Merkel beinahe jeden Tag Russland mit weiteren Sanktionen droht, dann bettelt sie darum, dass ihr Putin einen Weg aufzeigt, auf Sanktionen zu verzichten. Beleg? Angela Merkel sieht keinerlei Anlass, den Führern der deutschen Wirtschaft nahezulegen, nicht am Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum teilzunehmen. Das Forum findet direkt vor den geplanten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine statt. Mit den zu erwartenden Fernsehbildern werden international wahrgenommene Zeichen gesetzt. Die Botschaft: So viel Schlimmes ist nicht passiert, als dass man nicht in Ruhe über den Fortgang der Geschäfte reden könnte.

Wenn Wladimir Putin seine Truppen von der ukrainischen Grenze zurückzieht, was er schon wiederholt behauptet hat, dann stehen weiter 40 000 Mann gefechtsbereit an der Grenze und noch einmal 25 000 auf der Krim, belegt durch US-Satellitenfotos. Wenn Putin von der ukrainischen Regierung den Dialog mit den Aufständischen fordert, dann tut er dies, weil allein ein solches Gespräch eine enorme Aufwertung der Pro-Russen wäre und sie gar nicht als Verlierer vom Platz gehen können, da Gespräche nur dann zu einem Ergebnis führen werden, wenn jede Seite der anderen etwas gibt.

Putin hat bisher seine Ziele erreicht. Die Europäische Union hat ihm das nicht allzu schwer gemacht. Seiner Aussage, dass Russland nicht in der Ostukraine interveniere, kann man das folgende Zitat über die pro-russischen Milizen aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegenüberstellen: „Als Oberhaupt der Russen gilt der militärische „Oberbefehlshaber“ der Rebelleneinheiten, Igor Girkin, der gelegentlich mit dem Kampfnamen „Strelkow“ auftritt. Dieser Mann ist nach Ansicht der EU ein Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU und wurde vor seinem Einsatz in der Ostukraine unter anderem schon auf der Krim gesichtet. Er gilt als Kommandant all der russischen Kämpfer, die das Donbass unsicher machen (...).“

Es ist wichtig, sich in der rasanten Entwicklung immer wieder der Tatsachen zu versichern. Die wichtigsten: In der Ukraine hat eine pro-europäische Revolution stattgefunden, weil sich ein korrupter und kleptokratischer Präsident unter russischem Druck geweigert hat, ein Assoziierungsprogramm mit der EU zu unterzeichnen. Russland akzeptiert keine Ukraine, die eine eigenständige Politik verfolgen will. Es hat die Krim besetzt und über einen fadenscheinigen politischen Prozess annektiert. Zurzeit läuft in zwei ostukrainischen Gebieten ein ähnlicher Prozess ab. In der Ostukraine findet ein unerklärter Krieg statt. Es mag ein kleiner Krieg sein, es mag ein Stellungskrieg sein, man mag es kriegerische Auseinandersetzungen, Scharmützel oder Gefecht nennen, es bleibt ein Krieg. Russland hat Moldawien offen gedroht, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, „danach wäre nichts mehr wie zuvor“. Es bleibt der Fantasie der moldawischen Regierung überlassen, was Russland damit wohl gemeint haben könnte. Das Abkommen soll Ende Juni in Brüssel unterzeichnet werden. Die Nato ist im Moment nach eigenen Aussagen nicht in der Lage, die baltischen Staaten gegen einen russischen Angriff zu verteidigen. Die EU hat ein paar Sanktionen gegen Russland verhängt, fast alle personenbezogen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sind sich über das weitere Vorgehen gegenüber Russland nicht einig.

Wie wird es in der Ukraine weitergehen? Alleine die europäischen Regierungen können handeln, einstimmig. Das EU-Parlament und die Kommission haben keinerlei Zugriff auf die EU-Politik in der Ukraine-Krise. Die EU-Mitgliedstaaten wollen die Präsidentschaftswahlen abwarten. Sollten die Wahlen nicht ordentlich stattfinden können, drohen angeblich Sanktionen, die Russland (und Europa) wirklich wehtun. Das ist nicht zu erwarten. Es gibt spätestens seit der nicht eingehaltenen roten Linie Barack Obamas zum Giftgaseinsatz im syrischen Bürgerkrieg ein Muster, das darauf hinausläuft, dass sich Gründe finden werden, den Worten keine Taten folgen zu lassen. Die Wahlen werden weder völlig korrekt noch völlig inkorrekt laufen, sie taugen deshalb nicht als Entscheidungskriterium.

Wie in der Euro-/Schuldenkrise spielt Deutschland wieder die wichtigste Rolle in der Positionierung der EU. Das ist kein gutes Zeichen. Die dem deutschen Außenminister in Gesicht geschriebene Hilflosigkeit bei seinem Bemühen, den Konflikt wieder in friedliche Bahnen zu lenken, spricht Bände. Deutschland hat in den letzten Jahren bewiesen, dass es ihm schwerfällt eine Haltung einzunehmen, die sich mehr am europäischen als am nationalen Interesse orientiert. Etwas anderes kann man vielleicht auch nicht erwarten, hier sind sich alle EU-Länder ähnlich. Aber sie haben nicht alle den gleichen Einfluss.

Was aber wäre denn ein Interesse Europas? Erstens: Russland unter Putin ist kein Partner, sondern ein Gegner. Zweitens: Russland spielt ein Spiel, das man „Recht des Stärkeren“ nennen muss. Es spielt das Spiel auf ziemlich skrupellose Weise. Drittens: Kommt es mit seinem Verhalten durch, werden nicht nur die Ukraine und Moldawien unter die Räder kommen. Viertens: Wenn die europäischen Länder nicht zu Karpfen werden wollen, die in ihrem Teich einem Hecht gegenüberstehen, müssen sie Russland in die Schranken weisen. Deutlich. Das kostet Kraft, das geht nur mit Zusammenhalt und das geht nur, wenn man weiß, wer man ist, wo man steht und wohin man will.

Auf alle diese Punkte haben die Europäer keine Antwort, die sich auf große Mehrheiten stützen kann. Russland hat den Vorteil, alleine handeln zu können. Europa muss 28 Regierungen koordinieren. Kann das gutgehen? Das Recht des Stärkeren ist wieder mehr denn je zum Mittel internationaler Politik geworden. Man achte nur auf das Verhalten Chinas. Es nutzt schon jetzt die Ukraine-Krise, um im südchinesischen Meer mit Übergriffen Fakten zu schaffen. Bisher sind die Philippinen und Vietnam betroffen, weitere Ländern können folgen. Die EU muss aus purem Eigeninteresse Russland auf ihrem Kontinent eine klare Antwort geben. Die Mittel dafür stehen zur Verfügung.

Dabei unterstreicht nicht zuletzt der Eurovision Song Contest: Es gibt noch ein Haus Europas. Dort gewann eine Sängerin, weil sie nicht nur singen konnte, sondern auch ein Symbol für Toleranz darstellte. Es gewann ein Land, das sich der Neutralität verschrieben hat und völlig unkriegerisch ist. Und es gewann ein Lied, das nicht nur einige Punkte aus Russland erhielt, sondern dort inzwischen sogar auf Platz 1 der russischen Hitparade stehen soll. Es ist noch alles möglich. Auch in der Ukraine.

Christoph Nick
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