Wahlprognosen

Meinungsfreiheit für Meinungsumfragen

d'Lëtzebuerger Land du 02.03.2012

Mit einem Gesetzesvorschlag zum Schutz der Meinungsfreiheit überraschte LSAP-Präsdent Alex Bodry vergangene Woche. Unter diesem hehren Vorsatz will er vor allem die Frist weitgehend abschaffen, binnen der die Veröffentlichung von Wählerbefragungen vor einem Wahlgang verboten ist.

Denn das Wahlgesetz geht ausgerechnet in seinem Artikel 97 auf Wählerbefragungen ein, jenem Artikel, der die Beeinflussung, Behinderung und Erpressung von Wählern und Kandidaten unter Strafe stellt. Er droht jedem mit Strafen, der, „pour déterminer un électeur à s’abstenir de voter ou à remettre un bulletin de vote nul, ou pour influencer son vote ou pour l’empêcher ou lui défendre de se porter candidat, a usé à son égard de voies de fait, de violences ou de menaces, ou lui a fait craindre de perdre son emploi ou d’exposer à un dommage sa personne, sa famille ou sa fortune“.

Diese eher brutalen Formen von Wählerbeeinflussung aus dem Wahlgesetz von 1924 wurden 1984 dann um die manipulativere Wählerbeeinflussung ergänzt, für die der Gesetzgeber Wählerbefragungen hält. Ein neuer Absatz wurde angefügt: „Pendant le mois qui précède le jour des élections européennes, législatives et communales ainsi que pendant le déroulement de celles-ci, la publication, la diffusion et le commentaire de tout sondage d’opinion ayant un rapport direct ou indirect avec ces élections, par quelque moyen que ce soit, sont interdits. Ceux qui ont contrevenu aux dispositions du présent alinéa sont punis d’un emprisonnement de huit jours à un mois et d’une amende de 500 à 12 500 euros.“

Der Motivenbericht begründete dieses Verbot vor 28 Jahren mit der Bemerkung: „Bon nombre d’experts sont d’avis que la publication, la diffusion et le commentaire des sondages d’opinion ayant un rapport direct ou indirect avec les élections pendant les jours qui précèdent le scrutin et pendant le déroulement de celui-ci risquent à eux seuls d’influer sur le choix démocratique de l’électeur.“ Der Staatsrat nannte diese dem französischen Gesetz über Meinungsumfragen von 1977 nachempfundene Bestimmung eine grundlegende Neuerung, die er ohne Einwand guthieß. Auch wenn manche kleine Partei damals den Verdacht hegte, dass die größeren Parteien, die sich eigene Wähler-befragungen leisten konnten, ihr Monopol auf dieses damals mo[-]derne Wahlkampfinstrument verteidigen wollten.

Dass Alex Bodry diese Sperrfrist nun ausgerechnet unter Berufung auf die Meinungsfreiheit bis auf einen symbolischen Rest abschaffen will, entbehrt nicht der unfreiwilligen Komik. Denn dass Meinungsumfragen keine Wissenschaft darstellen, wie die Marktforschungsfirmen behaupten, sondern eine Meinung, bestätigt im Grund den Verdacht des Gesetzgebers von 1984 und müsste eher für die Beibehaltung einer Sperr[-]frist sprechen.

Vielmehr fragt sich, wie weit der LSAP-Abgeordnete auf den Druck verschiedener Presseorgane und der Marktforschungsfirma TNS-Ilres reagierte, die seit längerem die Aufhebung der Sperrfrist verlangen und unter anderem darauf hinweisen, dass das französische Parlament 2002 die Frist auf den Vortag und den Tag von Wahlen reduzierte. Bodrys Vorschlag, die Sperrfrist von einem Monat auf zwei Tage zu verringern, kommt besonders gelegen, da Luxemburger Wort und RTL letztes Jahr die Ergebnisse einer „Politmonotor“ genannten Umfrage nur drei Wochen vor den Gemeindewahlen veröffentlicht hatten.

RTL erklärte zwar nachträglich, dass es sich um eine nationalpolitische Umfrage handelte, die keinen Bezug zu den Gemeindewahlen hatte, aber in Wirklichkeit war auch nach der Beliebtheit mehrerer Abgeordneter gefragt worden, die als Bürgermeister oder Schöffen bei den Gemeindewahlen kandidierten. Zufällig rangierte Alex Bodry bei der „Kompetenz von Parteipolitikern“ und der „Sympathie von Parteipolitikern“ jeweils an erster Stelle. Die Staatsanwaltschaft hatte am 21. September in einer Pressemitteilung an die gesetzlichen Bestimmungen erinnert und angekündigt: „Les faits déjà constatés font l’objet d’une enquête.“ Bei der Vorstellung seines Gesetzesvorschlags zur Verringerung der Sperrfrist hatte Bodry vergangene Woche der Staatsanwaltschaft öffentlich nahe gelegt, die Ermittlungen gegen Luxemburger Wort und RTL einzustellen – was für einen Abgeordneten eine bemerkenswerte Auffassung von der Gewaltentrennung zwischen Legislative und Judikative darstellt.

Die Veröffentlichung von Meinungsumfragen über die Popularität von Politikern und Parteien erfolgte aus politischen und aus wirtschaftlichen Ursachen hierzulande später als in den größeren Nachbarländern. Es war das Tageblatt, welches 1995 das Tabu brach und im Juni 2003 auch die erste Wahlprognose veröffent[-]lichte. Wie auch auf allen anderen Gebieten, kontert das Luxemburger Wort das „Politbarometer“ des Tageblatts inzwischen mit einem eigenen „Politmonitor“.

Selbst wenn der LSAP-Präsident unter dem Druck eines sich beschleunigenden Nachrichtenhandels die gesetzliche Sperrfrist „nicht mehr zeitgemäß“ nennt, war sie doch nicht unbegründet. Denn die Veröffentlichung von Wählerbefragungen kann Wahlen auf vielfache Weise beeinflussen. Bei Wahlprognosen gibt es Wähler, die von ihrer ursprünglich Wahlabsicht abkehren, um angesichts des angekündigten Siegs einer Partei auf der Seite der Sieger zu stehen oder die angekündigte Niederlage einer Partei noch zu verhindern. Bei Sachthemen beeinflusst die Fragestellung das Ergebnis. Irreführend ist die „Sonntagsfrage“, die nach dem Abstimmungsverhalten fragt, „wenn am nächsten Sonntag Wahlen wären“. In Wirklichkeit erstrecken sich die Telefonumfragen über ein halbes Jahr und die Ergebnisse somit über zwei Dutzend verschiedene Sonntage.

Wählerbefragungen beeinflussen auch die Kandidaten: Die Umfragen machen Politik zu einem weltanschauungsfreien Marktgeschehen, bei dem die Kandidaten ihr politisches Angebot im Rhythmus der Umfragen an die politische Nachfrage anzupassen versuchen. Wenn der Wahlsieg einer Partei wie der ADR vorhergesagt wird, passen die anderen Parteien sich dieser sich wiederholt als falsch erwiesenen Prognose an und greifen Elemente aus dem Wahlprogramm der ADR auf.

In seinem Gesetzesvorschlag verlangt Alex Bodry, dass künftig unter Androhung von Strafen mit jeder Wählerbefragung der Auftraggeber, der Gegenstand, Umfang und die Zusammensetzung der Stichproben, Datum und Technik der Erhebung, Auswahlprozedur der Stichproben, der vollständige Wortlaut der Fragen und die statistische Zuverlässigkeit der Umfragen veröffentlicht wird.

Angaben über die Bearbeitung der Rohergebnisse werden dagegen nicht verlangt. Dies[-]e sind aber entscheidend, weil die Ergebnisse nachträglich mit dem Wahlverhalten vorheriger Wahlgänge und viel Vaseline „korrigiert“ werden, um beispielsweise dem Umstand Rechnung zu tragen, dass mehr Befragte behaupten, CSV zu wählen, als es wirklich sind, und nicht alle Befragten zugeben, dass sie ADR wählen. Um aus den so „gewichteten“ Antworten der Befragten eine Wahlprognose herzustellen, muss auch dem durch Panaschieren und Restsitze komplizierten Wahlsystem „irgendwie“ Rechnung getragen werden.

Vergleicht man die jeweils nur sechs Wochen vor den Wahlen, Ende April, im Tageblatt veröffentlichten letzten Wahlprognosen mit dem tatsächlichen Wahlergebnis der Kammerwahlen von 2004 und 2009, fällt nicht nur auf, dass TNS-Ilres jeweils zehn Prozent der Parlamentssitze falsch vorhersagte, sondern auch jeweils nach dem gleichen Prinzip:

2004 Prognose Ergebnis Unterschied

CSV 22-23 24 + 1-2LSAP 15 14 - 1DP 10 1ADR 6-7 5 - 1-2Gréng 7-8 7 + 0-1

2009 Prognose Ergebnis Unterschied

CSV 24 26 + 2LSAP 14 13 - 1DP 9 9ADR 6 4 - 2Gréng 7 7 Lénk 0 1 + 1

Der CSV wurden zweimal ein bis zwei Sitze zu wenig, der ADR zweimal ein bis zwei Sitze zuviel und der LSAP jedes Mal einen Sitz zuviel versprochen. Vielleicht war alle fünf Jahre bei der nachträglichen Gewichtung der Umfrageergebnisse doch etwas übertrieben worden. Vielleicht macht die CSV auch den Fehler, kein Kunde von TNS-Ilres zu sein.

Hierzulande ist das Risiko der Wählerbeeinflussung vielleicht größer als in den Nachbarländern. Denn bisher wurden alle Wählerbefragungen von Tageszeitungen in Auftrag gegeben, die allesamt einer Partei nahe stehen und, wenn nicht gar von der Veröffentlichung unliebsamer Umfrageergebnisse ganz absehen, so doch zumindest immer der Versuchung ausgesetzt sind, die angebliche Wahlniederlage eines politischen Gegners besonders dramatisch anzukündigen und zu kommentieren.

Zudem ist das Umfragegeschäft mit TNS-Ilres weitgehend in der Hand einer einzigen Firma, die nicht nur Wahlprognosen für die Konkurrenzmedien Tageblatt, Luxemburger Wort und RTL erstellt, sondern auch Wahlkampfumfragen samt Wahlkampfberatung für drei verschiedene Parteien verkauft, Hochrechnungen und Kommentare am Wahltag für Funk und Fernsehen liefert und anschließend einen großen Teil der Daten für die vom Parlament bei der Universität in Auftrag gegebenen Wahlanalysen sammelt. Zumindest vermeidet das Abweichun[-]gen von bis zu fünf Prozentpunkten bei den Umfrageergebnissen konkurrierender Auftraggeber und Marktforschungsfirmen, wie derzeit im französischen Wahlkampf.

Wie Wahlprognosen die Wähler und die Kandidaten in die Irre führen, illustriert das traurige Schicksal der ADR bei den letzten Parlamentswahlen. Ein halbes Jahr vor den Wahlen, am 6. Dezember 2008, hatten TNS-Ilres und Tageblatt der ADR sieben Sitze versprochen, am 30. April 2009, nur sechs Wochen vor den Wahlen, waren es immerhin noch sechs. In der Euphorie des versprochenen Wahlsiegs investierte die ADR in den teuersten Wahlkampf ihrer Geschichte, die anderen Parteien fürchteten sich vor der stärksten ADR der Geschichte. Doch am Ende war sie auf den Stand von 1989 zurückgerutscht, saß auf einem Schuldenberg und ihr Parteivorsitzender nicht mehr im Parlament.

Romain Hilgert
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