Groeber, Gast: All Dag verstoppt en aneren; Meyer, Roland: Roughmix

Herrensache

d'Lëtzebuerger Land du 05.06.2015

Die literarische Saison neigt sich ihrem Ende zu und hinterlässt den Eindruck einer Literaturszene, die – zumindest nach außen hin – von älteren Herren dominiert wird. Dass der Batty-Weber-Preis für das Lebenswerk mit Lambert Schlechter (Jahrgang 1941) an einen älteren Schriftsteller ging, liegt immerhin in der Natur der Sache. Angesichts der sichtlichen Bemühungen des Kulturministeriums, junge Autoren zu fördern, scheint es dennoch bemerkenswert, dass es mit Claude Schmit (Jahrgang 1947, Gewinner des Concours littéraire national), Gast Groeber (Jahrgang 1960, Gewinner des Lëtzebuerger Buchpräis) und Roland Meyer (Jahrgang 1963, Preisträger des Prix Servais) kein Autor unter Fünfzig in die Reihe der diesjährigen Laureaten geschafft hat.

Den Verlag Op der Lay aus Esch-Sauer dürfte freuen, dass die beiden Auszeichnungen für das beste Buch des Jahres an seine Autoren gingen. Groeber und Meyer blicken beide auf eine langjährige Tätigkeit als Grundschullehrer zurück und veröffentlichen erst seit relativ kurzem Prosa für Erwachsene. Dass beide auf Luxemburgisch schreiben, spricht für eine bleibende Wertschätzung des Luxemburgischen als Literatursprache beim Fachpublikum, wie der Jury des Prix Servais, und einer breiteren Leserschaft, die für Groebers Erzählband abgestimmt hat.

Über diese äußeren Gemeinsamkeiten (Verlag, Alter, Erwerbstätigkeit, Sprache) hinaus verbinden auch inhaltliche Übereinstimmungen die bisherige Erwachsenenliteratur der beiden Autoren. Keine Erinnerungen an bukolische Kindheiten oder Kriegstraumata, keine fantastischen Überformungen: Schauplatz der Plots ist das aktuelle Luxemburg, was bei Groeber über eine Verortung in der realen Topografie hervorgehoben wird (Rockhal, Groussgaass, Aire de Berchem), bei Meyer zusätzlich durch Anführung realer Persönlichkeiten (Jean Spautz, Michel Wolter usw.), auf die sich die Figuren beziehen. Diese Figuren sind Luxemburger, die vor dem Hintergrund eines gewissen Wohlstandes, einer gewissen Bildung und einer überschaubaren Sozialstruktur handeln, die darin besteht, dass jeder jeden kennt und sich Lebenswege mehrfach kreuzen können. Sicher ist es kein Zufall, dass in den Figurenkonstellationen sowohl bei Meyer als auch bei Groeber der Inzest an prominenter Stelle auftaucht, als Versinnbildlichung eines in sich geschlossenen Reigens von sozialen Beziehungen, der sich immer enger in sich selbst verschraubt. Viele der Protagonisten leiden unter der muffigen Enge und den begrenzten Möglichkeiten, die ihr Heimatland ihnen bietet, sie leiden nicht selten an chronischer Unzufriedenheit, überdenken hohl gewordene Lebensentwürfe, entfliehen ihrem piefigen Alltag und ihren first world problems – an die belgische Küste, nach Südfrankreich, nach Bali.

Gast Groebers Kurzgeschichten in All Dag verstoppt en aneren legen den Fokus auf Figuren, die sich zunehmend von ihrer gewohnten Umwelt distanzieren. Die Erzählung "Eng Duerfidyll" beschreibt das Leben eines Mannes, den die Dorfbewohner ausgrenzen, nachdem er einen Jungen mit dem Auto angefahren hat. Klug beschreibt Groeber, wie der wahre Hergang des Unfalls, der die moralische Bewertung entscheidend verändert, überhaupt nicht mehr in Erwägung gezogen wird, nachdem ein Schuldiger ermittelt wurde. Klug wirkt auch Groebers Darstellung der Bedrohung des Einzelnen durch die Anderen: In diesen Geschichten ist nie von vornherein klar, ob es sich am Ende bloß um eine vermeintliche oder aber um eine ganz reale Gefährdung handelt. Das Zwischenmenschliche schwebt zwischen Oberflächlichkeit und einer prekären Vertrautheit.

Hervorzuheben an All Dag verstoppt en aneren ist der erkennbare Wille zu einer einheitlichen thematischen Konzeption, aus der nur wenige Texte herausfallen. Auch bemüht sich Groeber um eine dezidiert literarische, aber stets natürliche Sprache, was angesichts eines relativ begrenzten Fundus’ an Vorbildern sicher nicht die geringste Aufgabe ist. Der Versuch beispielsweise, eine Figurenperspektive anhand von ausschließlich unpersönlichen Wendungen und Infinitiven zu konstruieren, den der Autor in "Déi onerdréiglech Schwéiert vum Waarden" unternimmt, gelingt vorzüglich. Die kompositionelle Schwäche, dass die Geschichten gelegentlich mit Elementen angereichert werden, die zum Verlauf nichts beitragen, fällt im Vergleich zu Groebers Roman Manu (2012) nicht mehr so stark ins Gewicht1.

Was den sprachlichen Feinschliff anbelangt, hebt sich Roland Meyers Roman Roughmix deutlich vom Werk seines Altersgenossen ab. Meyer macht sich einen augenscheinlichen Spaß daraus, schiefe Vergleiche und approximative Beschreibungen anzuhäufen. Eine seiner Figuren, die alternde Hobbyschriftstellerin und Ferien-Resort-Betreiberin Irmine, rotzt ihre Ausführungen nur so aufs Blatt – beziehungsweise in ihr Handy, dem sie ihre Lebensbeichte Wort für Wort anvertraut (Stil: „Hien huet net wierklech heihinner gepasst, [...] wousst net, datt op e Vernissage dee grousse Geste gehéiert (Oh my god, - Schnappatmung, ëm den Hals falen, Kussi-Kussi, alles op kee Fall ënner 130 Phon – neen, bass du och hei)“ usw.).

Dass das Buch vor Wiederholungen und unverknüpften Erzählsträngen wimmelt, gehört hier zum erzählerischen Konzept. Auf seinem Blog erklärt Meyer: „Ech wëll de Lieser mat dësem Buch rose maachen, an ech wëll, datt en dat och kierperlich spiert. A mäi Wee fir dat ze realiséieren war de Roughmix als solchen stoen ze loossen.“2 Zu dieser Taktik gehört der Rundumschlag gegen eine ganze Reihe von unbeliebten Berufsgruppen: Lehrer, Politiker, Banker, Journalisten von Revolverblättern, Literaturkritikern. Meyer beschreibt unter anderem das Schicksal zweier ehemaliger Bandkollegen und ihrer Frauen, deren Lebensentwürfe größtenteils von Selbstbetrug und der Aufrechterhaltung einer annehmbaren sozialen Fassade geprägt ist. Pierre zum Beispiel fühlt sich notorisch in die zweite Reihe verwiesen und kompensiert dieses Manko mit einer unehrlichen politischen Karriere, Irmine flüchtet von einem Mann zum nächsten und von Luxemburg über Südfrankreich nach Bali, sie redet sich ihre Freund- und Liebschaften schön und weist von vornherein jegliche Kritik (an ihrem Lebenswandel und an ihren Büchern) als kleinlich und unangebracht zurück.

Ein interessanter Aspekt der Leserprovokation besteht in der Anführung von Mottos, die prägende Sätze aus der journalistischen Berichterstattung der letzten beiden Jahre wiedergeben: Da geht es um den Geheimdienst, um politische Verantwortung, um Manipulation. Nur lose verbindet Meyer diese Zitate mit dem Text und überlässt es dem Leser, die Wirklichkeitsverdrängung der Figuren mit ähnlichen gesellschaftlichen und politischen Prozessen in Verbindung zu bringen.

Allerdings geht die Rechnung nur bedingt auf: Ein literarischer Text unterscheidet sich – anders wie die Analogie zwischen Roughmix und Leben behauptet, die Meyer eine der Figuren andenken lässt, vor allem dadurch vom Leben, dass er nicht einfach passiert, sondern sich vielfach überarbeiten lässt. Die „Roughness“ hätte durchaus keine echte zu sein brauchen; einige Streichungen hätten dem Text gut getan.

Auch inhaltlich bleibt einiges im Unklaren, was besser entfaltet worden wäre. Es findet sich bis zuletzt kein Grund, warum Pierres Jugendfreund Antoine von allen Figuren – einschließlich von sich selbst – für einen verkappten Homosexuellen gehalten wird, wenn er in Wahrheit pädophil ist. Dass Antoine seinen Adoptivsohn heimlich beim Masturbieren filmt, scheint für alle nur eine weitere Konsequenz seines unterdrückten Schwulseins zu sein. Man kann sich fragen, wie plausibel die allseitig fraglose Anwendung dieser Schablone im aktuellen Luxemburg ist. Die vom Autor forcierte Auflösung besteht darin, Antoine auf den Spuren von Gustav Aschenbach nach Venedig zu schicken, wo er angefaulte Erdbeeren isst, einem hübschen Jungen nachstellt und eines unwürdigen Todes stirbt. Unreflektiertes Vorurteil trifft auf wiedergekäutes Bildungsbürgertum – vielleicht nur eine weitere Provokation.

1 Der Protagonist in Manu verfügt über die – die Glaubwürdigkeit unnötig gefährdende – Fähigkeit, Gedanken zu lesen.
Elise Schmit
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