In Niederösterreich sorgt eine Koalition von ÖVP und FPÖ für einen deutlichen Rechtsruck. Die SPÖ ist daran nicht ganz unschuldig

Ein Desaster

d'Lëtzebuerger Land du 31.03.2023

Respekt vor der Verfassung, Respekt vor dem Rechtsstaat, ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union als Friedensprojekt – Bundespräsident Alexander van der Bellen rechnete Johanna Mikl-Leitner das kleine Einmaleins demokratischer Verfasstheit vor, als er sie Mitte März zur Landeshauptfrau Niederösterreichs vereidigte. Dies alles erwarte er, zudem gehöre es zu einer grunddemokratischen Haltung, die Medien als vierte Macht zu respektieren und auch die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst zu nehmen. Dass der Präsident der Landeshauptfrau, die bereits eine Legislaturperiode an der Regierungsspitze des bedeutungsvollen Bundeslandes stand, so öffentlich ins Gewissen redet, mag befremdlich wirken, hat aber seinen Grund.

Mikl-Leitner, Chefin der niederösterreichischen Volkspartei ÖVP, hatte eine Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen (FPÖ) mehrmals vehement ausgeschlossen. Wiederholt hatte sie vor einer möglichen rot-blauen Koalition gewarnt und dabei gleichzeitig, auf den wieder wachsenden Erfolg der Rechtspopulisten schielend, ausgiebig in deren angestammten Themenfeldern geackert. Unterstützt von ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer, der ebenfalls keine Gelegenheit ausließ, vorauseilende Zugeständnisse nach rechts zu machen – siehe das Veto für den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens, seine Forderung nach „befestigten Außengrenzen“ oder die vordergründige Ankündigung einer Aufarbeitung der Corona-Entscheidungen der Regierung – machte der Parteichefin in Niederösterreich klar: Rechts lässt sich eine ÖVP im Jahr 2023 nicht überholen.

Die Quittung erhielt Mikl-Leitners ÖVP Ende Februar bei der Wahl: Christlich-soziale Stammwähler, liberalere ÖVP-Anhänger und Unentschlossene gingen nicht zur Wahl oder gleich, wie es in Österreich heißt, „zum Schmied, nicht zum Schmiedl“; sie setzten also ihr Kreuz nicht beim schwarztürkisblauen Derivat, sondern gleich beim freiheitlich blauen Original. Die ÖVP verlor die über Jahrzehnte gehaltene absolute Mehrheit und damit die Alleinregierung. Ebenso wie die ÖVP, die ihr schlechtestes Ergebnis in dem Bundesland seit 1945 erzielte, stürzten auch die Sozialdemokraten verheerend ab. Die FPÖ dagegen verbuchte ein Rekordergebnis. Der Ruck nach rechts, das unverhohlene Kokettieren mit den aggressiv fremdenfeindlichen, heimattümelnden und im Umgang mit NS-Gedankengut offenherzigen Freiheitlichen war es, was Präsident van der Bellen zu seiner Rede an die Landeshauptfrau veranlasste.

Da lag auch schon das Arbeitsübereinkommen vor, das ÖVP und FPÖ für ihre erste gemeinsame Regierungsperiode im schwarzen Kernland Niederösterreich erarbeitet hatten. Und das trägt in vielen Teilen eine sehr deutliche blaue Handschrift. Mikl-Leitner, die zunächst mit der SPÖ verhandelt hatte, die Gespräche dann aber platzen ließ mit dem Argument, die von roter Seite eingebrachten Bedingungen für eine Zusammenarbeit seien „maßlos“ gewesen, hatte offenbar weniger Probleme, den blauen Forderungen nachzugeben: Sozialunterstützungen sollen „in erster Linie jenen zugutekommen, die unser Sozialsystem bereits über Jahre hinweg mit ihren eigenen Beiträgen gestützt haben“, heißt es etwa, mit dem Zusatz: „Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein.“

Um die Wirtshauskultur auch in Zeiten der Teuerung aufrecht zu erhalten, werde eine Wirtshaus-Prämie erarbeitet – als Voraussetzung wird etwas verquer formuliert, „dass der neue Wirt ein traditionelles und regionales Speisenangebot aufweist“. Im Kapitel Mobilität und Verkehr wird der Klimawandel kurzerhand abgesagt, ein Bekenntnis zum Verbrennermotor festgeschrieben und dem Individualverkehr der Vorzug gegeben: „Ein Bekenntnis zum Individualverkehr schließt auch den Willen ein, diesen vor mutwilligen Störungen zu schützen. Dies erfordert ein entschlossenes und rechtlich effektiveres Vorgehen gegen sogenannte ‚Klimakleber‘“.

Der Mikl-Leitnersche Kniefall vor den Rechten erreicht einen Tiefpunkt in der Zusage, die von Landbauer geforderte „Wiedergutmachung“ in Coronafragen zu leisten. Dazu gehörte das Eingeständnis, die vor allem von den schwarzen Landeshauptleuten geforderte und von der türkis-grünen Koalition beschlossene Impfpflicht sei ein Fehler, die verhängten Maßnahmen überzogen und schädlich gewesen. Wie von den Freiheitlichen gefordert, soll nun ein Fonds in Höhe von 30 Millionen Euro eingerichtet werden, um eine „umfassende Rückzahlung von Coronastrafen“ zu ermöglichen. Während Verfassungsjuristen noch rätseln, ob eine solche Rückzahlung überhaupt gesetzeskonform umgesetzt werden kann, ist sowohl für viele Parteimitglieder als auch für politische Beobachter die Tragfähig des Zweckbündnisses in Niederösterreich äußerst fraglich.

Mit dem Wählerwillen lässt sich die Koalition jedenfalls nicht erklären – schließlich hatten sowohl FPÖ-Chef Landbauer als auch Mikl-Leitner im Wahlkampf angekündigt, dass sie mit dem jeweils anderen nicht zusammenarbeiten würden. Die Freiheitlichen machten die im Bund mit den Grünen regierende Volkspartei für eine nach ihrer Ansicht verfehlte Migrationspolitik, für die Inflation, für Verfehlungen im Corona-Management verantwortlich, in gewohnt aggressiver Manier: „Wahltag ist Zahltag – Asylchaos, Preisexplosion und Korruption abwählen!“ Die beiden Parteivorsitzenden verbindet darüber hinaus eine längere Geschichte von Anfeindungen und Unfreundlichkeiten: Landbauer hatte Mikl-Leitner in einer früheren Auseinandersetzung als „Moslem-Mama“ tituliert, als sich ihre Partei dafür aussprach, in Kindergärten die Feste unterschiedlicher Kulturen zu behandeln, und ihr vorgeworfen, „Zwangsislamisierung“ zu betreiben. Die Landeshauptfrau hatte dem FPÖ-Chef ihrerseits abgesprochen, fähig zur Zusammenarbeit zu sein. Noch im Wahlkampf sah sie „keine Basis für eine Zusammenarbeit“.

Nicht anders als demütigend schließlich die Wahl Mikl-Leitners zur Landeshauptfrau: Wie angekündigt, ermöglichte der Koalitionspartner die Wahl durch Enthaltung – nur so war es in der konstituierenden Landtagswahlsitzung möglich, bei 24 Ja-Stimmen der ÖVP gegen die Opposition aus Grünen, SPÖ und Neos bei insgesamt 56 Voten eine einfache Mehrheit im Landesparlament zu erhalten. Da erscheint die präsidentielle Moralpredigt zur Vereidigung nur mehr als das fast schon versöhnliche Ende eines Spießrutenlaufs an die Regierungsspitze, zumal van der Bellen der langjährigen Politikerin aus eigener Erfahrung immerhin „Verlässlichkeit“ bescheinigte.

Ihr Schärflein zum niederösterreichischen Desaster hatte dabei sehr wohl auch die SPÖ beigetragen, die mit konsequenter Selbstzerfleischung auf Bundesebene beharrlich an ihrer eigenen Untergrabung arbeitet. Parteichefin Rendi-Wagner sieht sich seit Monaten mit Anfeindungen und einer Personaldebatte konfrontiert, die gleichzeitig Richtungsstreit und auch Auswuchs einer Funktionärs- und Gremienbezogenheit ist, die der SPÖ immer wieder zum Verhängnis wird. Pamela Rendi-Wagner, die als Quereinsteigerin und erste Frau in dieser Position 2018 den Vorsitz der Partei übernommen hatte, ist es nicht gelungen, sich eine stabile Hausmacht und die Loyalität der wichtigsten Flügel zu sichern.

Permanente Nadelstiche, Zweifel an ihrer Kompetenz, unzureichendes Gespür für die Bedürfnisse an der Basis und fehlendes Geschick, die reichlichen Skandale auf Regierungsseite für das Profil der eigenen Partei zu nutzen, definieren ihre Amtszeit. Zuletzt war es vor allem der burgenländische Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil, der sich trotz Stimmbandschwäche als lautstarker Gegenpol zu Rendi-Wagner positionierte und die Personaldebatte am Köcheln hielt. So setzte sich die österreichische Sozialdemokratie just in einem politischen Momentum durch Selbstlähmung außer Gefecht, in dem die sozialdemokratischen Kernthemen drängender denn je erscheinen: Steigende Preise für Lebensmittel und Energie, ein für weniger Begüterte immer schwierigerer werdender Wohnungsmarkt, immer deutlicher werdende Versäumnisse bei den Themen Schule und Bildung – hier hat die SPÖ konsequent versäumt, die Debatte für sich zu nutzen und profilierte Vorschläge zu machen.

Nun zog Rendi-Wagner die Reißleine und versuchte, auf die ihr eigene konsensorientierte Art, durch eine angekündigte Mitgliederbefragung die Personaldebatte zu beenden. Ein Instrument, das sich nun verselbstständigt und Chaos ausgelöst hat: Nicht weniger als 73 Bewerbungen für den Parteivorsitz liegen vor, die Modalitäten für eine Entscheidungsfindung müssen erst festgelegt werden und ein klares Votum scheint weiter entfernt denn je, eine Richtungsfindung und gemeinsame Neuausrichtung der Partei desgleichen. Die Befragung führe sich selbst ad absurdum monieren Parteimitglieder, die Beliebigkeit der Kandidatur schade der Partei und deren Glaubwürdigkeit nach innen und außen. Tatsächlich ist das Gros der Kandidaten, unter denen sich lediglich vier Frauen befinden, selbst in den roten Reihen kaum bekannt und chancenlos. Sowohl Doskozil als auch Rendi-Wagner haben entsprechend bereits angekündigt, sich zurückzuziehen, wenn sie nicht die erste Position erreichen.

Nun hat sich jedoch einer aus der Deckung gewagt, der schon seit geraumer Zeit als Wunschkandidat vor allem des linken Flügels gilt: Andreas Babler, 50, seit knapp zehn Jahren Bürgermeister der niederösterreichischen Gemeinde Traiskirchen. Eine Gemeinde mit gerade mal 20 000 Einwohnern, die Österreichs größtes und bekanntestes Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge beheimatet und 2015 zum Symbol für verfehlte Aufnahmepolitik wurde, als das Zentrum völlig überbelegt war und Missstände bei der Behandlung von Geflüchteten offensichtlich wurden. Babler hatte damals klar Stellung bezogen. Es gehe um „Menschen, denen es dreckig geht“, sagte er angesichts der Misere vor seiner Haustür: „Selbst wenn es Wirtschaftsflüchtlinge sind, heißt das auch, dass sie jahrzehntelang ausgebeutet wurden durch den reichen Westen.“

Der überzeugte Linke möchte „die SPÖ wieder als Protestpartei gegen ein schlechtes System positionieren“, sagte er der Wiener Wochenzeitung Falter. Wie groß seine Chancen sind, die sozialdemokratische Partei neu zu inspirieren und die politische Debatte insgesamt thematisch aufzuwerten, darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Der langjährige SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch hat bereits angekündigt, was er von überschießender innerparteilicher Demokratie hält: Man werde den Ausgang der Befragung „sehr ernst nehmen“. Eine Befragung sei jedoch keine Wahl, sondern bereite diese nur vor. Die Entscheidung liege letztlich beim Sonderparteitag.

Irmgard Rieger
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