Gleich zu Beginn von Todd Haynes’ neuem Film May December wird die Brüchigkeit der Fassade einer harmonischen, liebevollen Familie offensichtlich: Die vermeintlich perfekte, glückliche Ehefrau Gracie Atherton (Julianne Moore) bemerkt voller Bestürzung: „I don’t think we have enough Hot Dogs.“ Die Wahrung des Scheins ist alles, doch tief sind die Risse. Diese Suburbia-Persiflage, die Haynes uns mit den ersten Bildern eröffnet, arbeitet viel unerbittlicher als benachbarte Filme – etwa American Beauty (1996) – mit doppeltem Boden, Ironie und Subversion. Kein anderer Film von Todd Haynes stellt den amerikanischen Traum, das Bild der Kleinfamilienharmonie, derart harsch und gleichzeitig verspielt infrage, nur um am Ende alles nochmal zu wenden. Gracie Atherton hatte vor 20 Jahren für reichlich Schlagzeilen in der Boulevardpresse gesorgt, als sie wegen Verführung des 13-jährigen Schülers Joe verurteilt wurde. Nach ihrer Haft heirateten die beiden. Im Gefängnis brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Was als heimische Idylle präsentiert wird, ist eine Inszenierung für die Schauspielerin Elizabeth (Nathalie Portman), die für ihr nächstes Filmprojekt die Rolle der Gracie übernehmen möchte, um die brisante Liebesgeschichte einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Ein Grillfest, zu dem die Schauspielerin eingeladen ist, soll Elizabeth von der perfekten Idylle überzeugen.
Haynes’ Werke sind in besonderem Maß als Pastiche-Filme zu begreifen, die auf Metareflexion zielen. Es ist wichtig, May December im Kontext einer ganz spezifischen Form der Re-Präsentation zu verorten. Die offensichtliche Künstlichkeit der Kulissen, der Kostüme, der Mimik und der mise-en-scène im Allgemeinen verweist auf die Konstruiertheit der zugrunde liegenden sozialen Struktur, die den Konflikt und den Schmerz im Film verursacht. Der Begriff der „Echtheit“ wird durch die selbstbewusste Betonung der Nachahmung in May December in Frage gestellt. Diese Inszenierungstechnik der Überbetonung alles Gezeigten machte schon 2002 aus Haynes’ Far From Heaven einen augenscheinlich re-präsentativen Film. Dabei gibt es zwischen der Eröffnungssequenz von Far From Heaven und May December durchaus Ähnlichkeiten: In Ersterem erhält Cathy Whittaker (Julianne Moore) einen Anruf von der Polizei – ihr Mann sei auf dem Revier. Die ersten Risse in der gutbürgerlichen Fassade zeigen sich. Die satte TechnicolorFarbpalette von Far From Heaven, der schwermütige und doch entschlossene Soundtrack mit vollem Orchester, die glänzenden Oldtimer, die makellosen Kulissen und die gutsitzenden farbenprächtigen Kostüme deuten von den ersten Bildern an darauf hin, dass der Film ein bestimmtes Bild einer Vergangenheit rekonstruiert, eine Repräsentation, die sich auf unser filmisches Wissen stützt. Wir erkennen überaus deutlich, dass die Erzählung und die Inszenierung intertextuell angelegt sind und auf einen vergangenen Darstellungsstil zurückgreifen, der die meisten Hollywood-Produktionen der 1950er Jahre umfasst. Der Meister des Melodramas des klassischen Hollywood, Douglas Sirk, ist die unverkennbare Bezugsquelle dieses Films – bis in den Filmtitel hinein: All That Heaven Allows (1955) ist der Referenztext, ohne den Far From Heaven gar nicht erst gelesen werden kann. Auch die Miniserie Mildred Pierce von 2011 mit Kate Winslet war eine einzige Reminiszenz an den Filmklassiker von 1945 mit Joan Crawford, einem der feministischsten films noirs unter der Regie von Michael Curtiz.
Haynes’ Filme können ohne diese Referenzquellen nicht erschlossen werden, ob Far From Heaven oder nun May December: Der Inszenierungsstil des amerikanischen Regisseurs und Drehbuchautors drängt konsequent auf die eigene medial generierte Künstlichkeit – der verfremdende Effekt entsteht aus der unverhohlen stilisierten Beleuchtung und Farbgebung, nicht zuletzt aus dem aufgesetzten, „gespielten“ Schauspiel. Doch trotz all dieser selbstbewussten Stilisierung und der daraus resultierenden Erkenntnis für das Publikum, dass der Film auf anderen Texten basiert, werden sehr reale Probleme behandelt. Die Intertextualität genügt sich nicht zum Selbstzweck, der Rückverweis auf andere Werke ist bei Haynes mit dem Gestus einer Aktualisierung verbunden. Far From Heaven wiederholt nicht nur die Kritikpunkte aus Sirks All That Heaven Allows, die an die patriarchalische Hegemonie geknüpft sind: Homophobie, Sexismus, Rassismus – sie weisen auch darüber hinaus. Weniger formbetont finden sich diese Punkte in Carol (2015) wieder. Ebenfalls in den Fünfzigern angesiedelt, zeigt der Film leise die Probleme gleichgeschlechtlicher Liebe in der heutigen Gesellschaft. Aber diese sozio-historischen Probleme sind in einem Intertext enthalten, der eine reichere Basis schafft für die Abhandlung dieser sozialen Ungleichheiten mitsamt deren zerstörerischen Auswirkungen. In May December geschieht dies auf ähnliche Weise: Immer neue Schichten in diesem komplexen Eheverhältnis werden freigelegt – Verantwortungs- und Sinnfragen um ein verlebtes Leben werden ausgetauscht. Für die Zuschauer, die sich auskennen, hat der Film einen spezifischeren Intertext: Er berührt einmal mehr eine melodramatische Form, die sich durch weibliche Protagonisten auszeichnet, die gezwungen sind, Leid, Vorurteile und große Ungerechtigkeiten zu ertragen. Gracie ist ein Opfer gesellschaftlicher Vorverurteilungen; sie muss soziale Ächtung und Spott über sich ergehen lassen. Die amerikanische Redewendung „May December“ verweist auf einen wesentlichen Altersunterschied in einer Ehe oder einer romantischen Beziehung, die der Normvorstellung idealtypischer Lebenspartnerschaft zuwiderläuft. Dann jedoch setzt Haynes Bilder aus der Tierwelt ganz bewusst leitmotivisch ein: Die Stadien von Larve-Raupe-Schmetterling stehen da auch für die Subversion in der Subversion. Das vermeintlich Hässliche kann auch Schönheit in sich bergen bergen. Vorgefertigte Denkmuster können ins Leere laufen.
Die Offensichtlichkeit der Intertextualität von Haynes’ Filmen fordert und fördert eine intellektualisierte Zuschauerschaft, die die Textualität des Films durch seine Umformung anderer Texte erkennt und sie mithin von der rein formalen Oberfläche des Textes in seinen Inhalt überführen kann: Die Vielzahl an diegetischen Rahmen, der Fenster und Türen, die häufige Nutzung von Spiegeln in Far From Heaven erinnert an ähnlich selbstreflexive Bilder vermittelter Repräsentation in Sirks All That Heaven Allows – dieses Moment macht den filmtheoretischen Gehalt von Haynes’ Filmen so offenkundig. So auch in May December, in dem er ganze Szenen und Figuren in dieser selbstbewussten, autoreflexiven Darstellungsweise aufgehen lässt. Die Filmmusik von May December stammt aus dem Film The Go-Between von Joseph Losey aus dem Jahr 1971. Die diversen Spiegelmomente sind überaus deutlich an Ingmar Bergmans Persona (1966) angelegt, die Schauspielleistungen von Liv Ullmann und Bibi Andersson in Erinnerung rufend. Je mehr die Schauspielerin Elizabeth behauptet, sie komme etwas „wahrlich Echtem“ nahe, umso mehr ist sie im Begriff, sich davon zu entfernen. Da gibt es vermeintliche Vorurteile, die sich an der Komplexität der Sache zwangsläufig brechen müssen. Und wenn Gracie am Ende erklärt, sie sei selbstsicher, legt sie damit nur die Unsicherheit bei Elizabeth frei. Natalie Portman in der Rolle der Elizabeth setzt ganz auf ein überakzentuiertes ironisches Spiel im Spiel – der Pastiche-Technik von Haynes entsprechend, die Julianne Moore als Gracie beständig zu unterwandern versucht, sodass am Ende nicht mehr klar zu differenzieren ist, wer Schauspielobjekt und wer -subjekt ist. Das Duell beider Frauen macht aus May December auch einen Persiflage-Film über die Schauspielkunst, über die Unmöglichkeit wahrer Repräsentation. Nichts bei Haynes präsentiert sich, alles ist re-präsentativ – nur um zu zeigen, dass in metareflexivem Überschuss nichts so ist, wie es den Anschein hat.