Die Déjeuners de presse am Ende einer Kammersession sind seit fast 30 Jahren Tradition. Im Zeitalter von Digitalisierung, Zeitungssterben und Massenentlassungen wirken sie geradezu absurd

Leichenschmaus

d'Lëtzebuerger Land du 23.07.2021

Crème de la Crème Die DP lud in den Evergreen Melusina, CSV und déi Gréng in die geschichtsträchtige Brasserie Mansfeld. Die LSAP hatte sich das hippe (zur Accor-Gruppe gehörende) Hotel Mama Shelter auf Kirchberg ausgesucht. Es wirbt damit, „wie die Liebe in den Armen einer Mutter“ zu sein und verkauft gleichzeitig Sextoys an der Rezeption. Die Piraten trafen sich im edlen Hôtel Le Place d'Armes, déi Lénk empfingen beim Mouvement écologique im Oekosoph und boten als einzige Partei neben Fleisch auch ein veganes Menü an (bei den Grünen gab es nur ein einziges Menü, das vegetarisch war). Die ADR zieht ihre parlamentarische Bilanz erst am heutigen Freitag in der Brideler Stuff. Dessen Besitzer Steve Pfeiffer hatte Anfang Mai auf Facebook geschrieben, dass man für einen Besuch im Café „bald mehr Papiere braucht, als ein Asylant bei der Einreise“. Der Post hatte einen Shitstorm ausgelöst, Pfeiffer hatte sich daraufhin entschuldigt und in einer weiteren Botschaft erklärt, der Eintrag sei nicht rassistisch, sondern satirisch gemeint gewesen. Die Crème de la Crème der Luxemburger Populisten hatte ihn moralisch unterstützt. Nun steht er in ihrer Schuld.

Die Déjeuners de presse am Ende einer Kammersession haben im Land der kurzen Wege Tradition. Der Ablauf ist fast immer gleich. Nach einer kurzen Pressekonferenz, auf der die parlamentarische Arbeit quantifiziert vorgestellt wird, geht es zum Apéro. In der Regel setzen die Abgeordneten (manchmal kommen sogar Minister) sich an einen der vielen Tische und die Journalist/innen dürfen sich aussuchen, zu wem sie sich gesellen. Während eines Drei-Gänge-Menüs wird sich dann informell ausgetauscht. Ähnliche Formate gibt es auch in anderen Ländern. Das bekannteste ist wohl das Dinner der Korrespondenten des Weißen Hauses in Washington, das seit 1920 in Anwesenheit des US-Präsidenten stattfindet. Organisiert wird es aber von den Journalisten selbst, nicht von den Politikern.

Goldene Wasserhähne In Luxemburg wurde die Tradition der Déjeuners de Presse 1993 oder 1994 vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der DP, Henri Grethen, eingeführt. Er habe sich bei den Journalist/innen für die parlamentarische Berichterstattung bedanken wollen, erzählt er gegenüber dem Land. Mit den gebakene Fësch, die die CSV-Staatsminister Jacques Santer und Jean-Claude Juncker (der eine Wurscht den Fischen vorzog) den Journalist/innen anlässlich der Oktave in der Friture Henriette, Friture Armand oder im Grill-Palast spendierten, hatten diese Presse-Essen nicht viel gemeinsam. Grethen lud die Chefredakteure und die Chefs der innenpolitischen Ressorts in sein Herrenhaus an der Place Winston Churchill ein, wo sie reichhaltig bewirtet wurden und sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnten, dass in seinem Badezimmer keine antike spanische Badewanne mit goldenen Wasserhähnen steht, wie der Feierkrop seinerzeit gemutmaßt hatte. Das Essen habe er damals selber bezahlt, erklärt Grethen, die Fraktionen seien zu der Zeit noch nicht so reich gewesen. Unter Jean-Paul Rippinger und Charles Goerens sei die Tradition fortgesetzt worden, erzählen ältere Journalisten, und auch die Fraktionsvorsitzenden anderer Parteien wie Lucien Weiler (CSV) oder Gast Gibéryen (ADR) versuchten sich als großzügige Gastgeber. Dem Bourgeois und Lebemann Grethen hätten sie aber nicht das Wasser reichen können.

Ende der 1990-er Jahre verlegten die Fraktionen ihre Déjeuners de presse in gutbürgerliche Restaurants. Beliebte Adressen waren das Clairefontaine und das Bouquet Garni, das Um Plateau (Altmunster) und die Auberge de la Gaichel. Neben den Vorsitzenden nahmen nun auch andere Abgeordnete teil. Nach und nach begannen die Medien, nicht mehr nur über die parlamentarische Bilanz zu berichten, sondern auch die Presse-Essen an sich zu thematisieren. Im Juli 2006 erzählte Pascal Steinwachs im Journal die lustige Geschichte, die Grünen hätten eigentlich japanische Küche in einem asiatischen Restaurant namens Sapporo auftischen wollen, das sich zur allgemeinen Enttäuschung aber als das italienische Restaurant Sapori entpuppte. Joëlle Merges verfasste 2011 im Wort einen kritischen Bericht, in dem sie das Ende der parlamentarischen Session aus kulinarischer Sicht analysierte. Bezeichnenderweise lud die CSV zwei Jahre vor dem Regierungswechsel ins Owstellgleis nach Hostert ein. Zuletzt war es Christoph Bumb, der 2020 auf Reporter eine „gastronomisch-politische Analyse“ der „Fraktiounsiessen“ durchführte. Er stellte fest, dass diese Veranstaltungen für beide Seiten eine Gratwanderung seien.

Abgeordnete und politische Journalist/innen leben in einem beinahe symbiotischen Verhältnis. Man kennt sich, man braucht sich, man beschäftigt sich das ganze Jahr mit denselben Themen. Für junge Journalist/innen bieten die Presse-Essen eine gute Gelegenheit, die Abgeordneten persönlich kennenzulernen. Erfahrene Journalist/innen sprechen von einer „Dekomprimierung für alle“, nachdem man das ganze Jahr gemeinsam verbracht hat und endlich in den Urlaub darf. Die Gespräche, die während des Essens geführt werden, sind off the Record, vor allem junge Journalist/innen kommen mit der Erwartung, nach zwei Gläsern Wein eppes gewuer ze ginn, sprich exklusive Informationen oder Einblicke zu erhalten, die ihnen ansonsten verwehrt blieben. Diese Erwartung wird aber selten erfüllt, schließlich geht es dann doch nur darum, in geselliger Runde d’Panz ze schwenken.

Wettbewerb Lange Zeit waren Politiker/innen auf die Presse (amie) angewiesen, damit ihre Arbeit überhaupt wahrgenommen wurde. Seit die Kammersitzungen live im Internet übertragen werden und Politiker/innen sich auf sozialen Kanälen wie Facebook, Twitter, Instagram, Youtube und TikTok nach Belieben und gemäß ihrer eigenen Vorstellung oder der ihrer Partei inszenieren können, geht die Bedeutung von Journalist/innen und klassischer Medien insgesamt zurück. Im Ringen nach Anerkennung und Publikum sind politische Journalist/innen auf vertrauliche Informationen angewiesen, mit denen sie ihre Recherchen durchführen und exklusive Stories veröffentlichen können, um sich von ihren Konkurrent/innen abzuheben. Wenn Politiker/innen die Zusammenarbeit mit Journalist/innen verweigern, kann es für sie schwierig werden. Deshalb ist es für Journalist/innen wichtig, ein Vertrauensverhältnis zu Politiker/innen aufzubauen. Im Gegenzug ist es für Politiker/innen von Vorteil, wenn sie mit Journalist/innen zusammenarbeiten, von denen sie wissen, dass sie mit brisanten Informationen diskret und vertraulich umgehen. Denn nur so können sie nicht-öffentliche oder diskreditierende Informationen über politische Gegner/innen streuen, ohne dass diese es erfahren. Die Gratwanderung für Journalist/innen besteht im Wesentlichen darin, gerade genug Vertrauen aufzubauen, damit sie noch eine kritische Distanz wahren können und vor politischer Einflussnahme und Instrumentalisierung geschützt sind.

Trotz dieser vermeintlichen Reziprozität begegnen Journalist/innen und Politiker/innen sich selten auf Augenhöhe. Ihr jeweiliger gesellschaftlicher Status ist sehr verschieden, was sich schon alleine an der Höhe ihrer Einkommen festmachen lässt. Ein/e normale/r Abgeordnete/r (ohne Doppelmandat) verdient etwa vier bis fünf Mal soviel, wie ein/e normale/r Journalist/in. Während bis vor einigen Jahren große Medienhäuser noch regelmäßig Vertreter/innen aus Politik und Wirtschaft zu ähnlichen informellen Veranstaltungen mit anschließender Verköstigung empfingen, funktioniert dieses System heute nur noch in eine Richtung. Neben einer neuen Unternehmenskultur in den Medienhäusern trägt auch das seit Jahren schrumpfende Budget vieler Presseorgane mit dazu bei, dass Einladungen nicht mehr erwidert werden können.

Hierarchie Spätestens seit Marcel Mauss und Maurice Godelier ist gewusst, dass Gaben eine doppelte soziale Beziehung zwischen Schenkenden und Beschenkten herstellen. Einerseits wird ihre gegenseitige Beziehung dadurch gestärkt, andererseits demonstriert der Schenkende seine hierarchische Überlegenheit gegenüber dem Beschenkten und stellt ein Abhängigkeitsverhältnis her, das erst aufgehoben wird, wenn der Beschenkte seine Schuld beglichen hat. Vor dem Hintergrund des Zeitungssterbens und der Entlassungswellen, von denen auch luxemburgische Medienhäuser rezent betroffen waren und zum Teil noch sind, sowie des umstrittenen Gesetzes über die Reform der Pressehilfe, vor dessen Verabschiedung der Journalistenverband ALJP vergeblich darum gefleht hat, von den Mehrheitsfraktionen noch einmal gehört zu werden, erscheinen das Machtgefälle und die Abhängigkeit noch einmal in einem anderen Licht. In dem Zusammenhang wirkt die Verbandelung zwischen Medien und Politik geradezu zynisch. Denn immer öfter wird die Schuld so groß, dass Journalist/innen sie nicht mehr bezahlen können und sich wortwörtlich in einen Lien de subordination gegenüber Politiker/innen begeben müssen, indem sie eine Stelle als Pressesprecher/in oder Attaché/e in einer Partei, einer Fraktion, in der Kammerverwaltung, einem Ministerium oder einer Gemeinde annehmen. Dort sind die Arbeitsbedingungen und die Gehälter wesentlich besser.

Heute nehmen neben Fraktionsvorsitzenden und Abgeordneten auch Europadeputierte, parlamentarische Mitarbeiter und Kommunikationsbeauftragte an den Presse-Essen teil. Die zehn bis 15 Journalist/innen, die in der Regel der Einladung folgen, sehen sich einer ganzen Armada an Politiker/innen und Parteifunktionär/innen gegenüber, denen sie zum Teil Rechenschaft ablegen müssen: EU-Abgeordnete beklagen sich, dass in Luxemburg nicht genug über sie berichtet wird; Attachés parlementaires bemängeln, dass Journalist/innen die Gesetzesentwürfe nicht kennen würden; Parlamentarier kritisieren, dass sie in Artikeln falsch verstanden, nicht richtig zitiert und zu unrecht kritisiert worden seien. Kurzum: die Presse wird zunehmend als unangenehm, störend und überflüssig empfunden. Mehrere Abgeordnete gestanden im Laufe dieser Woche, dass sie kaum noch Tageszeitungen lesen und sie diese Art der Berichterstattung nicht mehr interessiert. Bei Wochen- oder Onlinezeitungen sei es zwar etwas anders, doch selbst dafür fehle ihnen häufig die Zeit.

Luc Laboulle
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