75 Tage nach ihrem Amtsantritt steht die neue CSV-DP-Regierung gehörig unter Zugzwang. Dem CSV-Premierminister ist es bisher nicht gelungen, die Frage um das Heescheverbuet in der Stadt Luxemburg einer für die Öffentlichkeit zufriedenstellenden Lösung zuzuführen. Luc Friedens Strategie, das Thema herunterzuspielen und als Medienminister der Presse zu raten, sie solle sich lieber mit den „Anstrengungen“ der Regierung in Bereichen wie Kaufkraft und Wohnungsbau beschäftigen, hat die Debatte nur noch verschärft. Vielleicht ist Friedens ungeschicktes Management auch darauf zurückzuführen, dass dem Staatsminister bis gestern noch kein chef de cabinet zur Seite stand, der ihn in politischen und kommunikativen Fragen berät.
Der 30-jährige Michel Scholer ist erst am Mittwochvormittag aus Washington, D.C. zurückgekehrt, wo er in den vergangenen drei Jahren als Senior Advisor für den für Luxemburg (und 15 andere kleinere Staaten) zuständigen Executive Director beim Internationalen Währungsfonds (IWF) gearbeitet hat. 2017 war er unter Pierre Gramegna (DP) über das reguläre Staatsexamen für die obere Beamtenlaufbahn ins Finanzministerium gekommen, wo er zuständig für die Beziehungen mit dem IWF war. Sodass es nur folgerichtig war, dass er 2020 Nicolas Jost ersetzte, der Luxemburg vor ihm bei der Sonderorganisation der Vereinten Nationen vertreten hatte.
Für die Stelle von Luc Friedens Stabschef qualifiziert Michel Scholer, dass er einen Bachelor in Politik mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Uni Exeter und einen Master in politischer Ökonomie Europas an der London School of Economics absolviert hat. Und, dass er den richtigen Stallgeruch hat. Seine Großmutter (mütterlicherseits) war die CSV-Abgeordnete und Stater Gemeinderätin Ferny Nicklaus-Faber, die sich vornehmlich für Familie, Kinderrechte, Gleichberechtigung und schärfere Gesetze gegen die Prostitution einsetzte. Vor rund zehn Jahren ist auch Michel Scholer der CSV beigetreten, weil er sich mit ihrem „ideologischen Background“ identifizieren konnte, sagt er am Dienstag in einem Telefongespräch mit dem Land.
Seine Verbundenheit zur christlichen Soziallehre hat zu Beginn der Fluchtbewegungen aus Syrien 2015 den Ausschlag gegeben, dass er gemeinsam mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Amandine Rafael (die ihn nach Washington begleitete und dort für den Discounter-Giganten Lidl arbeitete) eine Kleidersammlung für Geflüchtete startete, die derart erfolgreich war, dass Premierminister Xavier Bettel (DP) die beiden am Nationalfeiertag 2016 für ihr Engagement mit dem Orden der Eichenkrone auszeichnete. In der Folge gründeten sie die gemeinnützige Vereinigung Narin, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierte und an Schulen und auf Konferenzen für Gerechtigkeit und Toleranz warb. Ein Jahr arbeitete Michel Scholer hauptberuflich für Narin, bevor er sein soziales Engagement aufgab und zum Staat wechselte.
Ein „kaltes Herz“, wie einst seinem neuen Chef, kann man Michel Scholer demnach nicht bescheinigen. Wie er zum Heescheverbuet und zu anderen Themen steht, will er nicht preisgeben. Als hoher Beamter möchte er sich nicht zur politischen Aktualität äußern und so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit stehen. Mit den Grundzügen des CSV-DP-Regierungsprogramms könne er etwas anfangen, sagt Michel Scholer, was aber nicht bedeute, dass er als Bürger hinter „jedem Komma“ stehe. Er sei professionell genug, seinem Vorgesetzten dabei zu helfen, dessen Politik auch dann zu verteidigen, wenn sie nicht vollständig mit seinen eigenen Überzeugungen übereinstimmt.
„Jeder Mensch hat Rechte, aber auch Pflichten“, sagt Michel Scholer. Obwohl er der CSV angehört, war er bislang nicht parteipolitisch aktiv. Gleichaltrige Politiker/innen wie Alex Donnersbach (CSV), Djuna Bernard (Grüne) oder Jana Degrott (DP) kennen und schätzen ihn vor allem wegen seines Engagements bei Narin, wo er jedoch nicht unter CSV-Flagge agierte. Michel Scholer wuchs in Dippach auf, im Lycée Michel Rodange optierte er für die Sprachensektion, als Jugendlicher spielte er Fußball beim UN Käerjeng 97 und zusammen mit Luc Friedens Sohn Philippe in der U-17-Nationalauswahl. Für andere Dinge sei ihm neben der Schule nicht viel Zeit geblieben.
Michel Scholers diskreter Charme hat aber auch mit seiner sozialen Herkunft zu tun. Sein Großvater Nicolas baute den Lebensmittelladen seines Vaters zum nationalen Handelsketten-Imperium Monopol aus. Als die Regierung seinen Expanionsdrang 1934 mit einem Filialenverbot eindämmte, verlagerte er seine Tätigkeit in die Industrie. Neben einer Farbenfabrik in Bascharage und einer Kühlschrankfabrik in Vianden produzierte er in Ettelbrück minderwertige und günstige Schusswaffen, die bei antikolonialistischen Guerilla-Kämpfern wie jenen des FLN in Algerien gefunden wurden. Noch nicht vollständig erforscht ist, ob die Sola (Société luxembourgeoise d’armes) Ende der 1950-er Jahre aus wirtschaftlichen Gründen den Betrieb einstellen musste oder ob sie auf Druck der französischen Regierung von den luxemburgischen Behörden geschlossen wurde (wie auf mehreren auf Waffen spezialisierten Internetseiten behauptet wird). Nachdem sein Exkurs in die Industrie gescheitert war, verlagerte Nicolas Scholer seine Aktivitäten in den Lebensmittelbereich, stattete seine Kaufhäuser mit Supermärkten aus und eröffnete die ersten Fast-Food-Ketten-Filialen in Luxemburg: Erst Wimpy, danach Quick, Pizza Hut, Chi-Chi’s und schließlich Exki. Mitte der 80-er Jahre übernahm Michels Vater Antoine Scholer dieses Geschäft, das er seit 35 Jahren als CEO der Happy Snacks S.A. leitet. Sein Onkel Pierre hat mit Happy Mex seine eigene Gesellschaft gegründet, die die Qosqo-Restaurants auf der Place d’Armes und auf Kirchberg betreibt. Michel Scholers Bruder Alexandre ist vor acht Jahren in die Geschäftsleitung von Happy Snacks eingestiegen, sein anderer Bruder Christophe vertritt den multinationalen Nahrungsmittelkonzern Mars in Brüssel. Als die Grands Magasins Monopol vor rund 15 Jahren den Betrieb einstellten, begann die Familie Scholer damit, ihre Immobilien, wie die in der Avenue de la Gare in der Hauptstadt und in der Escher Rue de l’Alzette, an Investoren zu verkaufen.
Der zum Premierminister aufgestiegene Privatbeamtensohn Luc Frieden (sein Vater war stellvertretender Leiter des Service administratif et social der Arbed) umgibt sich gerne mit Angehörigen der Oberschicht. Seine Ehefrau Marjolijne Droogleever Fortuyn entstammt einem niederländischen Patriziergeschlecht, seine delegierte Ministerin Elisabeth Margue einer CSV-Notabelnfamilie aus der Hauptstadt. Für die Ernennung Michel Scholers zum Stabschef im Hôtel Saint-Maximin sei dessen Herkunft jedoch zweitrangig gewesen, heißt es aus der CSV. Scholer erzählt, er sei Frieden von „bestimmten Personen“ empfohlen worden. Von wem wollen aber weder er noch sein Chef auf Nachfrage verraten.
Luc Frieden ist der erste CSV-Staatsminister, der sich einen chef de cabinet leistet. In Luxemburg eingeführt wurde der Posten 1974 von Gaston Thorn (DP), als er den damals 33-jährigen Paul Helminger zu seinem Berater machte. Jacques Santer und Jean-Claude Juncker (beide CSV) hatten erst Stabschefs, als sie EU-Kommissionspräsident wurden. Xavier Bettel beförderte 2015 den früheren RTL-Journalisten und Eldoradio-Chefredakteur Paul Konsbruck von seinem Kommunikationsbeauftragten zu seinem persönlichen Berater. 2021 löste der damals 30-jährige DP-Fraktionssekretär Jeff Feller Konsbruck ab. Der Premierminister und sein Stabschef verbringen viel Zeit miteinander. Gegenseitiges Vertrauen und uneingeschränkte Loyalität sind unerlässlich. Zu den Aufgaben des chief of staff gehören, den Terminplan seines Ministers zu koordinieren, ihm Dokumente zu beschaffen und ihn mit Informationen zu füttern. Unter Xavier Bettel schrieb der Stabschef auch wichtige Reden und übte sie mit ihm ein – Luc Frieden ist eigenen Aussagen zufolge auf diese Form von Beratung nicht angewiesen. Kaum ein Minister der CSV-DP-Regierung verzichtet inzwischen noch auf einen chef de cabinet.
Nachdem Frieden Michel Scholer kurz nach den Wahlen kontaktiert hatte, führten sie ein längeres Gespräch, bei dem sie Gemeinsamkeiten entdeckten – unter anderem darin, wie sie „über bestimmte Dinge nachdenken oder Probleme angehen wollen“, erzählt Scholer dem Land. In seinem letzten, von Michel Scholer mit verfassten Staff-Report für 2023 hatte der IWF der Vorgängerregierung ein weitgehend gutes Zeugnis im Umgang mit den Folgen des Ukrainekriegs ausgestellt. In seinen Empfehlungen riet der Währungsfonds DP, LSAP und Grünen aber, kurzfristig die Steueranreize signifikant zu senken, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und den Inflationsdruck einzudämmen. Energiehilfen sollten sie gezielter einsetzen, die Investitionen in erneuerbare Energien hoch halten. Mittelfristig solle die Regierung sich ein Wachstumsziel setzen, ihre Ausgaben kontrollieren und ihr Pensionssystem reformieren, um finanziellen Spielraum zu behalten, heißt es in dem Bericht. Die Steuertabelle solle häufiger an die Inflation angepasst werden, ohne den Staatshaushalt dadurch zu belasten. Deshalb müsse die Effizienz und die Verteilungswirkung der Steuer- und Sozialsysteme verbessert werden. Um Wohnen erschwinglicher zu machen, riet der IWF, das Angebot durch das Vorziehen öffentlicher Wohnungsbauprojekte zu erweitern, die Baudichte zu erhöhen und Maßnahmen zu vermeiden, die die Nachfrage stärken. Die Lohnindexierung solle sich an der weniger volatilen Kerninflation orientieren, progressiv gestaffelt sein und das von den Gewerkschaften „Manipulation“ genannte Aussetzen von Index-Tranchen nach Regeln erfolgen, beziehungsweise an Wettbewerbsindikatoren gekoppelt werden. Manche dieser Empfehlungen äußert der IWF schon seit Jahren.
Mit dem CSV-DP-Regierungsprogramm stimmen sie nur zum Teil überein. Im kompletten Widerspruch zum Koalitionsabkommen steht die Warnung des IWF von 2017, die Steuerreform von 2016 werde zwar die Inlandsnachfrage ankurbeln, die Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage würden wegen der hohen Importe, auf die Luxemburg angewiesen ist, jedoch bescheiden sein. Diese Ausführungen bezogen sich auf Maßnahmen der Vorgängerregierung, doch sie lassen sich ohne Weiteres auch auf den Trickle-down-Ansatz der neuen CSV-DP-Regierung übertragen.
2017 war Michel Scholer noch nicht beim IWF. Er und der Premierminister seien nicht immer zu hundert Prozent auf einer Linie, aber bei einer Beratung gehe es ja nicht nur darum, den Gegenüber in seinen Ideen zu bestätigen: „Ech mengen, mär wäerten eens ginn“, sagt Michel Scholer.