Das Interview

„Narbe erkennt Narbe“

d'Lëtzebuerger Land du 12.04.2013

Die Damen der ersten Reihe, es sind vier oder fünf, sind außer sich, springen von ihren Stühlen auf und klatschen frenetisch – was für eine Katharsis! Möglicherweise haben sie sich mit Katja Schuurmann identifiziert, jenem aufgehenden Filmsternchen, das an diesem Abend vom zynischen Politjournalisten Pierre Peters wider Willen interviewt wird? Oder bloß mit ihr gefiebert, an ihrer Seite gehofft, dass sie das Duell, das sich die beiden Protagonisten in Theo van Goghs Das Interview liefern, das Pol Cruchten im Kasemattentheater inszeniert hat und am Dienstag Premiere feierte, dass Katja also dieses Duell auf dem von Anouk Schiltz konzipierten Boxring inmitten des Publikums gewinnen möge. Denn während anderthalb Stunden haben sich die beiden regelrecht zerfleischt, gekränkt, manipuliert, belogen, angemacht, getröstet... Am Ende scheint es nur darum zu gehen, wer das größere Arschloch ist.

Eigentlich beruht die ganze Situation überhaupt auf einem Missverständnis: An dem Tag, an dem die Regierung möglicherweise zurücktreten wird, schickt der Chefredakteur seiner Zeitung den versierten Politjournalisten und Kriegsberichterstatter Pierre Peters zur angehenden Filmdiva Katja: „Was? Ich soll diese plastifizierte Mumie statt des Ministerpräsidenten interviewen?!“, entrüstet sich dieser am Mobiltelefon, während er auf die erwartungsgemäß verspätete Katja wartet. Aber kein Raunen und kein Zähneknirschen wird ihm helfen, Auftrag ist Auftrag. Da kommt Katja angetingelt: königsblaues Sommerkleid, blutrote Lippen, It-Bag im Ellbogengelenk hängen, 12-cm-Pumps... eine Diva halt. Und „Entschuldigung“ und „Stau“ und „Wie, bist Du nicht von der Unterhaltungsredaktion?“ und „Ich bin die Königin der Leinwand“. Pierre will nur eins: schnell wieder verschwinden. Doch er bleibt, denn Katja hat ihn dabei erwischt, nicht vorbereitet zu sein. Er hat keine blasse Ahnung, was er sie fragen soll, hat keine einzige Frage vorbereitet, gibt vor, nicht mal ihre Filme gesehen zu haben – so was von stümperhaft. Also bleibt Pierre, anfangs um seinen Job zu machen. Aber eigentlich auch, um zu siegen, um Katjas Wesen zu verstehen, in ihr Inneres vorzudringen.

Denn auch wenn beide grundverschieden zu sein scheinen – er ist 45, alleine, seine Tochter ist mit neun Jahren in einem von seiner Frau verursachten Autounfall gestorben, er wurde in Bosnien von Granatsplittern getroffen, hat keine Beziehung außer zu „Nutten“; sie ist erst 25 (sie erinnert Pierre an seine Tochter), wunderschön, auf dem Sprung zur internationalen Karriere, ihre Filme sehen neun Millionen Menschen, sie geht mit allen Reichen und Schönen des Landes ins Bett, hat eine feste Beziehung, alle reißen sich um sie –, so finden sie doch immer wieder Gemeinsamkeiten. Besonders in ihren Wunden, „Narbe erkennt Narbe“ sagt Katja. Aber vielleicht ist das alles auch nur gespielt: Sie kann wunderbar heulen, „bis zu dreimal pro Folge bei GZSZ!“, in jede Rolle schlüpfen (wie die des Dummchens, wenn sie telefoniert, was sie pausenlos macht), er ist skrupellos, kennt keine Grenzen und keine Scham, um an einen Scoop zu gelangen.

Das Interview ist ein Kampf dieser beiden Extreme: Unterhaltungsindustrie versus Politjournalismus, Schein versus Sein, Jugend gegen Alter, Erfahrung gegen Naivität, Hoffnung gegen Zynismus, ja sogar Leben gegen Tod. Theo van Goghs Text ist brillant, pointiert, lustig und schonungslos. Katja bestehe nur aus „Luft, Sägemehl und Silikon“, beschreibt sie sich selbst ironisch, er hingegen führe „immer nur Krieg“. Diese Auseinandersetzung kann nur mit herausragenden Schauspielern funktionieren, die mit gleicher Kraft und auf Augenhöhe diese Spannung aufbauen und halten können. Da konnte man schon befürchten, dass Steve Karier, das Bühnentier, als Pierre dominieren würde, besonders bei Pol Cruchtens doch sehr zurückhaltender Inszenierung. Doch Fabienne Elaine Hollwege als Katja ist ihm absolut ebenbürtig, mit ihrem knochigen Körper und ihrer Zerbrechlichkeit, ihrer kühlen Arroganz und ihrer vorgetäuschten Doofheit. Ihre Konfrontation ist intelligentes Theater auf höchstem Niveau. Auf keinen Fall verpassen!

Das Interview, nach dem Film von Theo van Gogh und dem Drehbuch von Theodor Holman, übersetzt und für die Bühne adaptiert von Stephan Lack; Regie: Pol Cruchten; Assistenz: Jacques Schiltz und Tom Dockal; Bühne und Kostüme: Anouk Schiltz; Dramaturgie: Marc Limpach; mit Fabienne Elaine Hollwege und Steve Karier; eine Koproduktion des Kasemattentheater und der Théâtres de la Ville; im Kasemattentheater; weitere Vorstellungen heute Abend, 12. April, sowie am 16., 18. und 23. April, jeweils um 20 Uhr; Informationen und Reservierungen: www.kasemattentheater.lu oder über Telefon 291 281.
josée hansen
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