Amphytrion

Wer ich bin, ist wörscht! – Entscheide du!

d'Lëtzebuerger Land du 10.03.2011

Offen gestanden bin ich ein Freund des Minimalismus. Wenn der Blick des Publikums ausschließlich an der Mimik und Körpersprache der Darsteller klebt, wenn die spärliche Kulisse kaum Ablenkung bietet, dann darf, dann muss das Ensemble über sich hinauswachsen. Das Maximum am Minimum ließe sich eigentlich schwer bestimmen, es sei denn, man wird Zeuge von Stefan Maurers Ins­zenierung der Verwechslungskomödie (Tragikomödie?) Amphitryon von Heinrich Kleist im TNL.

In der ersten Szene tritt Sosias, Diener des Feldherrn Amphitryon, vor das Publikum. Das einzig Sichtbare dieser viertelstündigen Einführung ist das Glimmen einer angezündeten Zigarette, das wie ein Glühwürmchen in tiefstem Dunkel auf- und abhüpft. Keine Figur ist zu erkennen. Sosias und Merkur, jeweils von Marc Limpach verkörpert, sind in dieser vermeintlichen Schizophrenie nur an einem einzigen Kunstgriff zu unterscheiden: an der Stimmführung des Darstellers. Wenn Kleist sich in diesem Drama vor allem mit Fragen der Identität, dem „Wer bin ich?“, auseinandersetzt, dann hat Maurer der Produktion mit dieser anfänglich wahrhaft simplen, aber ungemein wirksamen Regieführung einen eigenen Stempel aufgedrückt. Sie erlaubt einen tiefenpsychologischen Einblick in jenen verfahrenen Identitätskonflikt, der im weiteren Verlauf in lautstarkem Widerstreit ausgetragen wird.

Was minimalistisch beginnt, endet also spektakulär. Die Inszenierung schlägt um, gleitet ins Schräge ab. Nach 15 Minuten wird der Zuschauer geblendet, Handrücken schirmen Augen schützend ab, amüsiertes Stöhnen wird laut. Die meterhohe, von Stühlen und vom Leib gerissenen Klamotten umsäumte Wellblechwand reflektiert das grelle Licht der Scheinwerfer, die Ausgelassenheit, das Schrille an der Liebesnacht zwischen Alkmene und Jupiter, der ihr in Gestalt des Amphitryon unter die goldfarbene Decke gefolgt ist. Germain Wagner und die sichtbar schwangere Fabienne Elaine Hollwege verkörpern das Ehepaar, dessen Glück sich im gegenseitigen Misstrauen zersetzen wird. War es Amphitryon, der ihr so ungewohnt gute Liebhaber? Wird sie je das Geheimnis lüften und erkennen, dass die Götter ihre Sinne täuschen? Oder weshalb leugnet der heimgekehrte Feldherr, ihr in dieser Nacht begegnet zu sein?

Die Regie wagt das Risiko und sorgt für vollständige Verwirrung, indem sie die verwechselten Protagonisten von ein und demselben Darsteller verkörpern lässt. Maurer lässt das tragische Potenzial der Kleist‘schen Vorlage keineswegs außer Acht. Seine Arbeit wird jedoch insbesondere angesichts der komischen Elemente in Erinnerung bleiben. Eine zentrale Funktion kommt in diesem Sinne Karin Enzler zu, deren unbefangenes Spiel ein Gewinn für die Produktion ist. Einzelne Akteure ragen aus einer überzeugenden Gesamtkonstellation heraus. Insgesamt wird das Ensemble der sehr komplexen und sprachlich wuchtigen Vorlage mehr als gerecht. Auch der von Rückenschmerzen geplagte Marc Limpach lässt sich sein Leiden erst während der Vorhänge anmerken.

Welcher Schauspieler darf schon von sich behaupten, mit seinem Gesäß in eine Schubkarre voll Sauerkraut und Würsten geplumpst zu sein? Dass Enzler das Futter anschließend im Publikum verteilt und die Zukurzgekommenen sich am die Tribüne hochsteigenden säuerlichen Geruch des Kohls erfreuen oder stören dürfen, ist nur ein Element der insgesamt sehr interaktiven Inszenierung. Einschränkend sei die Kritik erlaubt, dass Maurer auf diesem Weißkohl nicht immer standfest bleibt und haarscharf am Klamauk vorbeirutscht. Dieses bei Kleist noch recht unterschwellig eingefügten Leitmotivs bedient sich Maurer jedoch als komischem Gegengewicht zum restlichen Sprachschwall. Überhaupt ist die Vorstellung vom Spiel mit dem Publikum durchzogen. Kaum jemand wird die Verwechslungsstrategie vollkommen überblickt haben. Dies ist aber auch – so wird an diesem Abend deutlich – niemals ein Bestreben. Letztlich gilt wohl: „Wer ich bin ist wörscht! – Entscheide du!“ Ein verqueres Zitat, das nicht die eigene Identität in den Vordergrund stellt, sondern das Gewicht vielmehr auf das Fremdbild legt.

Wer also nicht an Verdauungsproblemen leidet, die harten Töne von FM Einheit (Einstürzende Neubauten) mag und sich auf so manche Skurrilität einlassen möchte, sollte sich Maurers Regie-Wagnis von Kleists sprachlichem Kraftpaket nicht entgehen lassen.

Amphitryon von Heinrich von Kleist; eine Koproduktion des TNL mit dem Kasemattentheater; Regie von Stefan Maurer; Regieassistenz von Dani Jung; Dramaturgie von Andreas Wagner; Bühne von Anja Jungheinrich; Darsteller u.a.: Germain Wagner, Marc Limpach, Fab
Claude Reiles
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