Zehn Jahren lang wehte eine liberalere Brise durch die Gesellschaft. Nun soll die politische Kultur wieder konservativer werden. Im Dienst einer liberaleren Wirtschaft.
CSV und DP empfehlen sich einer durch Terrorismus, Klimaveränderung, Covid, Krieg und Inflation verunsicherten Wählerschaft. Gegen die reellen Bedrohungen können sie nichts ausrichten. Deshalb erfinden sie Ersatzbedrohungen, neue Feinde. Die neuen Feinde sind wehrlos. Wertlos für die liberale Wirtschaft: Bettler, Obdachlose.
CSV und DP nennen die Kollateralopfer ihres Kulturkampfs Täter: Aus der Bettlerin vor Hermès, dem Obdachlosen vor Louis Vuitton machen sie eine Bettlermafia. „Jidderee weess, datt mueres um Boulevard Royal déck däitsch Limousine mat belscher Plack virfueren...“ Raunt Innenminister Léon Gloden auf Radio 100,7 (13.12.23). Im Strafgesetzbuch heißt das „mendicité organisée“, „mendicité forcée“.
Streetworker strafen den Minister Lügen. Sie haben „nach ni moies an der Uewerstad esou eng Camionnette oder déi Mercedese gesinn“. So Caritas-Sprecherin Carole Reckinger (100,7, 8.1.24). In der Présentation des statistiques policières 2022 geht keine Rede von „mendicité organisée“. Im Bericht des Europarats über Menschenhandel in Luxemburg von 2018 heißt es: „Le GRETA note également qu’il existe peu de connaissances parmi les parties prenantes concernant la traite aux fins de mendicité forcée“ (S. 22).
Der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser fragte am 3. Januar 2023: „Kann d’Regierung bestätegen, datt déi organiséiert Heescherei zu Lëtzebuerg zouhëlt a méi aggressiv gëtt?“ Die grünen Minister Sam Tanson und Henri Kox wussten aus dem Vorjahr von sieben „Faite vun Heescherei, wou d’Police Protokoll erstallt huet“. Ob dabei organisierte Bettelei festgestellt wurde, ließen sie offen.
Mit dem Strafgesetzbuch halten die Besitzenden die Besitzlosen in Schach. Es verwehrt Bettlern die Gewerbe- und Versammlungsfreiheit. Seit 1810 bestraft Artikel 276 „[t]ous ceux qui mendieront en réunion“. Den Artikel gibt es bis heute. Er hat bloß die Nummer gewechselt: 342. Seit 2014 ahndet Artikel 382.1 organisierte Bettelei auch als Menschenhandel.
Die grüne Abgeordnete Viviane Loschetter berichtete dem Parlament am 12. März 2014: Staatsanwalt Jean-Paul Frising habe den Rechtsausschuss über organisierte Bettelei informiert. Dass es „schwéier ass, mat penale Mesuren eppes ze erreechen. An datt et éischter e soziale Problem ass.“
Staatsanwalt Georges Oswald erzählte vor einer Woche bei RTL von keinem einzigen Prozess wegen organisierter Bettelei. In der Strafverfolgung „ass net vill geschitt“. Sie sei „extreem, extreem schwiereg“. Aber „et gëtt eng Rei Enquêten. Mir hunn nach 2021 eng gemaach. Do waren d’ailleurs Mineure betraff. Déi hu mer och leider misse klasséieren.“
Die „organisierte Bettelei“ ist ein Gerücht. Der Artikel im Strafgesetzbuch ist seit jeher ein Zigeunerartikel. Mit „Bettlerbanden“ waren stets „Vagabunden“ gemeint: Roma und Sinti. Die Philister nennen die „Zigeuner“ heute vorsichtig „Rumänen“.
Der Schweizer Soziologe Jean-Pierre Tabin machte dem Tageblatt am 29. Dezember 2023 die Rechnung: „On a toujours l’idée de mafias qui s’en mettraient plein les poches. Or, la mendicité ne rapporte pas assez d’argent pour que cela puisse être le cas. Il y a bien de l’organisation, ce sont des villageois qui s’organisent, [...] mais on est sur une organisation familiale.“
Das Gerücht unterscheidet zwischen heimischen und ausländischen Armen: zwischen schicksalsergebenen und kriminellen. Dann kann die Stadtbürgermeisterin Sicherheit versprechen. Der Innenminister kann lautstark die Ärmsten vorführen. Damit seine Regierung lautlos die Reichen bedient. Das war seit jeher sein Geschäft.
Gnadenlos wollen CSV und DP an den Armen und Ohnmächtigen ein Exempel statuieren: Dass es möglich ist, mit Polizeigewalt, Gittern und Zäunen die alte gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen. Wenigstens zwischen Groussgaass und Theaterplaz.