Um schulischen Misserfolg zu reduzieren, hat das Lycée technique Michel Lucius den Service éducatif ins Leben gerufen

Das E-Team

d'Lëtzebuerger Land du 25.04.2014

Für Besucher des hauptstädtischen Lycée technique Michel Lucius (LtML) ist der Service éducatif nicht so einfach zu finden. Schilder, die den Weg weisen, gibt es nicht. Und die ausgiebigen Umbauarbeiten machen die Suche auch nicht leichter. Direktorin Pascale Petry führt einen, nach einem freundlichen Händedruck, in den Keller, „in die alte Wohnung des Pförtners“. Dort angekommen, steht in farbiger Schülerschrift über dem Türbogen geschrieben: Service éducatif. Vier Räume stehen den Erziehern zur Verfügung, zwei für das Team und zwei Räume, in denen die Erzieher mit den Jungen und Mädchen arbeiten oder wo sich Schüler, die das wollen, zum Spielen und Entspannen treffen können.

Im kleinen Arbeitszimmer drängt sich nun das sechsköpfige Erzieherteam um einen kleinen runden Tisch, um von seinem Projekt zu erzählen. Mit den Mosaikklassen vor einigen Jahren habe es angefangen, ergreift Karen Decker das Wort, die Erzieherin war von Anfang mit dabei. In der Klasse werden, außerhalb vom Regelunterricht, in kleinen Intensivgruppen besonders schwache Schüler unterstützt. „Wir haben dann den Service éducatif eingerichtet, mit den Ziel, Schüler mit Lernschwierigkeiten noch besser betreuen zu können“, erzählt Pascale Petry.

Die Lehrerin, die zwischendurch in der Rechercheabteilung des Unterrichtsministeriums gearbeitet hat, bevor sie als Leiterin zurück an ihre alte Schule kam, hat sich mit ihrem Initiativgeist nicht nur Freunde gemacht, gerade in der Anfangszeit war es schwierig. Aber mit dem Service éducatif haben sie und ihre Mitarbeiter vor gut zwei Jahren etwas ins Leben gerufen, von dem alle profitieren: die Schüler, die Hilfe bekommen, aber auch die Lehrer, die sich an den Dienst wenden können, wenn sie Fragen haben oder Unterstützung wünschen. „Wir haben auch früher interveniert, aber da waren die Probleme in der Klasse dann oft schon massiv“, sagt Petry.

Statt verhaltensauffällige Schüler zu maßregeln, vor die Tür zu setzen und dann zurück in den Unterricht zu schicken, bis schließlich der Conseil de discipline als letztes Mittel bleibt, helfen die Erzieherinnen und Erzieher des Service éducatif, problematisches Verhalten frühzeitig zu erkennen, und bieten konkrete Unterstützung an. In Klassenzimmern hängen Spielregeln, was zum „guten Ton“ im Unterricht gehört: Zuhören, Ausreden lassen. Jeder Schüler, der neu die Schule kommt, wird in die Regeln eingeführt, so dass niemand sagen kann, er oder sie habe nichts davon gewusst. Auch im Reflexionsraum hängen die Regeln, ein Schüler, der hier unten landet, soll wissen, warum, soll sein eigenes Verhalten hinterfragen.

Was am Anfang ungewöhnlich erschien, schließlich gibt es am LTML einen schulpsychologischen Dienst (Spos), ist inzwischen fester Bestandteil der Schulorganisation geworden und für Petry ein „ganz wichtiges tolles Projekt“. „Natürlich gab es am Anfang Unverständnis“, sagt Erzieherin Myriam Birchem. Damit die Zusammenarbeit zwischen Erziehern und Lehrpersonal klappt, problematische Schüler früh erkannt werden und ein Hilfsangebot unterbreitet werden kann, gestalten Klassenlehrer und Erzieher die Tutoratstunde in der Woche gemeinsam. Dort werden heikle Themen wie Klassendisziplin, Umgangsregeln oder Mobbing, aber auch Drogenprävention und ähnliches angesprochen. „Wir teilen uns die Arbeit“, sagt Birchems Kollegin Josée Lampertz. „Die Kollegen vom Spos sind zuständig für Orientierungsfragen. Und wenn wir psychologischen Rat brauchen, fragen wir sie oder schicken Schüler zu ihnen.“ Ein Kollege arbeitet Teilzeit im Spos und Teilzeit im Service éducatif, in gemeinsamen Sitzungen wird sich abgesprochen.

Oft stecken hinter Lern- und Konzentrationsproblemen handfeste sozio-pädagogische Ursachen, sei es in der Familie oder in der Klasse. „Wir haben Schüler, die können sich daheim nicht konzentrieren, da ist auch keiner, der sich darum kümmert, ob sie ihre Hausaufgaben machen oder wie sie sonst zurecht kommen“, sagt Karen Decker. Ein Schüler, der die anderen stört und dem Unterricht nicht folgt, ist nicht immer schwach. Manchmal ist auch das Gegenteil der Fall, und ein Schüler fühlt sich durch den starren Lehrplan, der für alle Schüler der gleiche ist, unterfordert. „Wir versuchen, zu erkennen, wo der Schuh drückt, und schauen dann, wie wir dem Schüler helfen können“, beschreibt Myriam Birchem die Aufgabe des Dienstes.

Das kann eine kleine Auszeit vom regulären Unterricht, Methodentraining für Lernschwache, eine intensive Arbeit im Reflexionsraum sein. Dort kann der oder die SchülerIn über sein oder ihr Verhalten nachdenken, die Erzieher hören zu, versuchen im Konfliktfall zu vermitteln: „Wir hatten auch schon einen Fall, wo ein Schüler das Gefühl hatte, der Lehrer hätte ihn auf dem Kieker. Andersherum fühlte sich der Lehrer durch das Verhalten besonders provoziert“, erzählt Erzieher Nuno Dos Santos. Der Dienst schlug eine Mediation vor, an der Lehrer und Schüler teilnahmen. Nach der Aussprache klappte die Zusammenarbeit sehr viel besser.

Es gibt auch Fälle, die nicht so glimpflich ablaufen. Pedro*, 13 Jahre alt, sitzt alleine im Raum. Er war wiederholt wegen Störung des Unterrichts ermahnt worden. Ein Diebstahl und aggressives Verhalten in der Klasse kamen hinzu: Der Schüler wurde an den Service verwiesen. „Ich war das nicht“, motzt Pedro, auch wenn er zugibt, vielleicht zu weit gegangen zu sein. Dass er nun die letzten zwei Wochen vor den Ferien abseits von seinen Klassenkameraden im Service lernen muss, empfindet Pedro als ungerecht. „Vor allem dass ich nicht mit meinen Freunden in die Pause darf, finde ich zu hart“, ärgert er sich. Ob er verstehen kann, dass sein Verhalten Konsequenzen habe? Ja, schon, sagt der Junge gedehnt. Ob ihm die Auszeit helfe? Pedro legt den Kopf schief und überlegt: „Ich glaube schon. Ich werde die Schule verlassen müssen, weil es nicht das erste Mal war, dass ich was ausgefressen habe. Aber in der neuen Schule werde ich denselben Fehler nicht noch einmal machen.“

Fälle wie Pedro gibt es nicht nur am LtML. Nicht immer enden sie mit einem Schulverweis. Oft sind es Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, warum ein normaler Unterricht, zumindest zeitweise, nicht möglich ist. Die hohe Zuwanderung hat die Zusammensetzung in vielen Klassen radikal verändert, sie stellt komplizierte Anforderungen an die pädagogische und didaktische Kompetenz der Lehrer. Immer mehr Schulen zerbrechen sich den Kopf darüber, wie sie die bunte Schülerschar, in der nicht selten fünf, sechs unterschiedliche Nationen in einer Klasse gemeinsam unterrichtet werden, adäquat betreuen und vor allem zum Lernen bringen können. „Wir machen oft noch immer einen Unterricht, als wären alle hier in Luxemburg aufgewachsen“, sagt Karen Decker. Klassen, in denen jeder zweite Schüler daheim kein Luxemburgisch spricht, sind für das LtML inzwischen Alltag. Ihnen allen die gleichen Startchancen zu geben, ist eine Herausforderung, die sich insbesondere die vorige LSAP-Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres zum Ziel gemacht hatte.

Nur haben die meisten Luxemburger Lehrer es eben nicht gelernt, eine so heterogene Schülerschar erfolgreich zu unterrichten. Voll gepackte starre Programme verlangen von allen Schülern dieselben hohen Sprachleistungen.

Aber ist da die Trennung von Unterricht hier und erzieherischem Dienst dort hilfreich, verstärkt das nicht die künstliche Aufspaltung zwischen Wissen und Erziehung? „Sicher geschieht Erziehung vorrangig im Klassenraum“, sagt Petry vorsichtig. „Aber die Probleme sind da, wir müssen etwas gegen den schulischen Misserfolg tun.“ Ja, die Programme müssten entschlackt, es müsste differenzierter unterrichtet werden, so Petry: „Aber wir müssen auch gewisse Lehrziele erreichen“ , beschreibt die Direktorin den schwierigen Spagat, den viele Lehrer tagtäglich bewältigen müssen. Petrys Ziel ist eine Schule, in der alle Akteure zusammenarbeiten, so zur Entwicklung der Schüler und der Schule insgesamt beitragen. So nehmen Erzieher an den einmal jährlich organisierten Journées pédagogiques teil.

Den Service éducatif bezahlt Petry aus ihrem Schul-etat, auch wenn das bedeutet, andernorts den Gürtel enger zu schnallen. „Wenn wir weiter Gelder gestrichen bekommen, können wir solche Hilfen nicht mehr anbieten“, warnt sie angesichts der jüngsten Sparmaßnahmen der neuen Regierung. „Obwohl wir sie dringend brauchen.“ Eine externe Evaluation des Projekts gibt es bisher nicht, aber laut Petry hat sich die Zahl der Störenfriede und Schulabbrecher seitdem halbiert. „Das ist doch ein toller Erfolg.“

* Name von der Redaktion geändert
Ines Kurschat
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