Kino

Kafkaeskes Russland

d'Lëtzebuerger Land du 25.08.2017

Sergei Loznitsas Filmsprache ist sonderbar surreal. Seine Einstellungen ruhen lange auf den markanten Gesichtern, fast so, als wolle er schon durch sie Lebensgeschichten erzählen. Sein Film Krotkoya, untertitelt als Une femme douce, der bei den Filmfestspielen in Cannes dieses Jahr um die Goldene Palme ins Rennen ging, beeindruckt nicht zuletzt durch die für ihn typische Vermischung von Genres. Nach My joy (2010) und In the fog (2012) trägt auch sein Drama Une femme douce Züge eines Dokumentarfilms, in dem Realismus und Fiktion miteinander verschwimmen. Loznitsas Figuren erinnern an die Geschichten Gogols, es sind archetypische, verkommene Gestalten, von denen sich allein seine Filmheldin absetzt.

Von Anfang an ist die Kamera auf die namenlose Frau (Vasilina Makovtseva) gerichtet, folgt ihren Bewegungen. Man sieht sie zum Postamt gehen, wo sie ein Paket für ihren inhaftierten Mann abholt, das als „unzustellbar“ zurückgesendet wurde, und begleitet sie beklemmt, wie sie sich schließlich gefasst auf den Weg macht zum Gefängnis in einer sibirischen Geisterstadt und an dem unwirtlichen Ort eine Odyssee an Schikanen durchlaufen wird.

Es sind beeindruckende Aufnahmen des russischen Dorflebens, die der aus Belarus stammende Regisseur in Une femme douce präsentiert, indem er einen fast folkloristischen Blick auf seine Landsleute wirft. Zum Teil wirkt das, als wäre die Zeit nach dem Sowjetkommunismus stehen geblieben. Seine Figuren saufen, trällern Sowjetlieder und betrügen einander. Inmitten von ihnen irrlichtert die auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Hauptdarstellerin Makovtseva, die durch ihre brillante Mimik – zwischen Scheu, Wut und Verzweiflung – überzeugt. Das Schicksal der namenlosen Frau wird gerade durch ihre Anonymität zur Parabel. So wie ihr ergeht es Unzähligen, scheint die Botschaft Lotznitsas zu sein, und dennoch wirkt sie abseits stehend vom Rest, immer etwas entrückt.

Angelehnt an die gleichnamige Geschichte Die Sanfte von Fjodor Dostowjeski (1876) und die Filmadaptation von 1969 von Robert Bresson liefert Loznitsa in 143 Minuten eine Parabel auf die russische Gesellschaft, in der Korruption, Gewalt und Behördenwillkür zum Alltag gehören. Wer weswegen im Knast landet, erscheint als Roulette. Wo auch immer die verzweifelte Filmheldin hingeht, trifft sie auf Menschen, die sie abweisen oder versuchen werden, sie in die Prostitution zu treiben. Selbst die Bürgerrechtsbewegung, an die sie sich wendet, nachdem sich alle anderen als korrupte Gauner erwiesen haben, entpuppt sich als machtlos und nur als verlängerter Arm des Staats; die dort arbeitende verwirrte Weltverbesserin palavert viel über das ungerechte System und den Wert ihrer Institution und ist doch nur ein machtloses Rädchen im Getriebe. „Sie sollten sich gut überlegen, ob sie ihre Beschwerde wirklich bei uns einreichen wollen“, rät sie der Bittstellerin beiläufig, während sie sie aus dem chaotischen Büro ihrer NGO begleitet, denn alle Beschwerden würden ohnehin vom Staatsdienst abgefangen.

Am Ende wird es schließlich vollendet kafkaesk. Da sitzen ihre Peiniger in rot-weißen Kostümen wie Clowns in einem Politbüro-ähnlichen Arrangement, angeführt durch den Gefängnisdirektor, und halten Elogen auf die einstige Sowjetunion; ein jeder rechtfertigt sein Tun mit dem Allgemeinwohl und dem Dienst fürs Vaterland und nach jedem Wortbeitrag wird geklatscht, es ertönt eine Fanfare und der sozialistische Diskurs wird ad absurdum geführt. Die grellbunte Bildsprache erinnert an Wes Andersons The Grand Budapest Hotel. Wie in einem Kaleidoskop verschwimmen Sequenzen der erlittenen Odyssee voller Schikanen als verzerrte Rückblenden und münden in einer Endlosschleife purer Gewalt.

Une femme douce ist ein turbulentes, erschütterndes Drama und nicht zuletzt eine stichhaltige Systemkritik auf das Russland von heute. Wer das sowjetische Erbe hochhält, sollte sich diesen ernüchternden Blick auf die Narben und ihre Nachwirkungen sparen. Was nach über zwei Stunden bleibt, ist eine Mischung aus Nostalgie und Tristesse.

Footnote

Anina Valle Thiele
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