Berufsabschlüsse

Erfahrungswert

d'Lëtzebuerger Land du 04.03.2010

Sie habe noch keine Reform erlebt, bei der alles sogleich fertig gewesen sei, meinte Mady Delvaux-Stehres am Montag vor Journalisten lässig. So sorgenfrei wie sie klingt, ist die Unterrichtsministerin aber nicht, das belegt schon die eilig einberufene Pressekonferenz: Die Unternehmer- und die Arbeitnehmerkammern hatten den Zeitpunkt der Reform als verfrüht kritisiert und einen Aufschub gefordert. Die Ministerin aber hält an ihrem Timing fest: In diesem Jahr sollen 18 Ausbildungen, also nur rund ein Sechstel, nach dem modularen Schema starten, die anderen hundert folgen ein Jahr später. Wenn alles klappt.

In einem anderen Bereich sind die Vorbereitungen weiter: Im Januar wurde das Règlement grand-ducal verabschiedet, das ein neu verbrieftes Recht im Berufsausbildungsgesetz umsetzen soll: die so genannte „validation des acquis de l’expérience“ (VAE). Was schrecklich technisch klingt, ist besonders für undiplomierte Arbeitnehmer ein attraktives Angebot: Künftig wird es möglich, außer schulischen und beruflichen Ausbildungen auch außerberuflichen Erfahrungen mit einem Abschluss anerkennen zu lassen. Wer beispielsweise mindestens drei Jahre lang fachgerecht gearbeitet, sich in Fortbildungskurse, auf dem Arbeitsplatz, beim Ehrenamt oder in der Freizeit das nötige Wissen angeeignet hat, kann sich dieses anrechnen lassen. Eine Hilfsschwester, die jahrelang alte Menschen ehrenamtlich gepflegt und betreut hat, könnte sich diese Kompetenzen bescheinigen lassen. Das gilt auch für andere Berufe.

Bis sie den Abschluss in den Händen hält, muss sie allerdings ein kompliziertes Verfahren durchlaufen. Zunächst muss sie einen Antrag beim Ministerium einreichen (www.vae.men.lu), für welchen Beruf sie eine Anerkennung wünscht. Möglich ist dies für Berufsdiplome, Meisterbriefe oder ein Zeugnis des technischen Sekundarunterrichts. Die Uni Luxemburg hat ein eigenes Anerkennungsverfahren, das sich aber auf den Zugang zum Studium bezieht und nicht auf den Abschluss.

Wird die Bewerbung anerkannt, bekommt der Kandidat ein Ausbildungsprogramm sowie ein Heft zugeschickt, in dem er seine gewonnene Erfahrung ausführlich beschreibt. Hat er Belege, sei es in Form von Diplomen, Arbeitszeugnissen, Ehrenerklärungen, fügt er diese bei. Eine aus Ausbildern und Vertretern des Patronats und des Salariats bestehende Anerkennungskommission prüft den Antrag und wertet ihn aus. Dabei werden die beschriebenen Kompetenzen mit jenen verglichen, die für das jeweilige Berufsprofil erforderlich sind. Im Ausnahmefall können praktische Fähigkeiten in einem Praxistest nachgewiesen werden. Sind diese Hürden erst einmal genommen, ist der begehrte Abschluss nicht mehr fern – der sich vom herkömmlichen lediglich in seiner Prozedur unterschiedet. Stellen die Prüfer jedoch fest, dass dem Bewerber noch Kompetenzen fehlen, bleiben ihm drei Jahre Zeit, um sie mittels Abendkursen, Fortbildungen, Praktika oder ähnlichem nachzuliefern. Hier macht auch der modulare Aufbau der Berufsausbildung Sinn: Die Kandidaten können das Modul nachholen, das ihnen in ihrer Biografie jeweils fehlt, ohne eine Ausbildung ganz neu zu beginnen. Das spart Zeit und Kosten.

Das Verfahren freilich ist nicht ohne politischen Hintergedanken. Die Validierung von nicht formalem und informellem Lernen, wie es im Fachjargon heißt, ist Teil der europäischen Lissabon-Strategie, die dieses Jahr ausläuft. Um im globalen Wettbewerb um kluge Köpfe die Nase vorn zu haben, sollen alle Potenziale ausgeschöpft werden. Dazu gehört das Senken der Schulabbrecherquote und die Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung – ein Ziel, das bislang nur teilweise eingelöst werden konnte. Die Schulabbrecherquote ist europaweit am Steigen und die Anzahl der europaweiten Abschlüsse der Sekundarstufe II sowie die Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen ist nicht ausreichend, um die Benchmarks zu erfüllen. Über das Validierungsverfahren sollen nun Undiplomierte und Berufserfahrene die magere Quote aufpolieren helfen.

Vorreiter war Frankreich, das schon 1985 die Anrechnung von Berufserfahrung erlaubte, vorausgesetzt, der Bewerber hatte zuvor fünf Jahre lang in dem Beruf gearbeitet. Mit der Loi de modernisation sociale von 2002 wurde die Frist auf drei Jahre verkürzt. Luxemburg zieht nun gleich und tut sich damit, anders als beispielsweise das föderal organisierte Deutschland, offenbar recht leicht. Ängste, mit billigen Ausweisen herkömmlichen Bildungsstätten unliebsame Konkurrenz zu machen oder Diplome zu entwerten, plagen Luxemburgs Unternehmer- und Arbeitnehmerkammern offenbar weniger.

„Wir haben das diskutiert, aber die Chancen, die mit dem Verfahren verbunden sind, überwiegen“, findet Paul Schroeder von der Handwerkskammer. Eine Einschätzung, die Carlo Frising von der Arbeitnehmerkammer teilt: „Wir sehen das auf jeden Fall als Vorteil, nun müssen Arbeitnehmer nicht mehr den Umweg über Frankreich machen. “ Eine erste Ausbildung für Prüfer für das VAE-Verfahren, die die Handwerkskammer kürzlich organisiert hatte, stieß auf großes Interesse. Man vermittele derzeit ein bis zwei Arbeitnehmer pro Woche an das Ministerium, das diese bisher oft an die zuständigen französischen Behörden weiterleiten musste, schätzt Schroeder. Nicht wenige Arbeitnehmer, die Häuser bauen, Fenster einsetzen, Straßen planieren, haben keinen oder nur einen unzureichenden Abschluss. Mit der VAE können sie sich ihr berufliches Know-how bescheinigen lassen – allerdings gibt es einen Haken: Die schriftliche Prozedur erschwert es vielen, die Kriterien zu erfüllen, und sagt zudem nicht immer etwas über die praktische Fertigkeit aus – ein Grund warum, die Handwerkskammer den Akzent lieber auf den Praxistests sähe. In ihrem Gutachten zum Gesetz plädiert sie, die die großen Linien der Reform begrüßt, für die Umkehrung des Prinzips: „La mise en situation doit être la regle.“ Norwegen und Finnland, zwei weitere Vorreiterländer in punkto VAE, prüfen regelmäßig die praktischen Fertigkeiten der Bewerber. Damit auch die eine Chance erhalten, die sich schriftlich nicht so gut ausdrücken können. Der Grat zwischen Anerkennung und Abschreckung ist für sie schmal.

„Wir kennen den Einwand, meinen aber, dass die deklarative Methode die bessere ist“, widerspricht Jos Noesen aus dem Unterrichtsministerium. Wer in der Lage sei, seine Tätigkeit zu reflektieren, beherrsche sie auch, argumentiert er. Dabei helfe das Schreiben. Falls gewünscht, stünden für das Ausfüllen der Formulare zudem Experten mit Rat und Tat zur Seite. „Wir erwarten keine 100-prozentige Sicherheit in der Grammatik“, beruhigt er. Ganz so leicht fällt das Umdenken aber nicht: Auf einer europäischen Konferenz im norwegischen Oslo am vergangenen Wochenende zur Validierung von Berufserfahrung berichteten französische Vertreter, dass vor allem die Vertreter des schulischen Milieus sich damit schwer tun, Kompetenzen ganzheitlich zu verstehen. Ein Phänomen, das man in Luxemburg auch bei der Schulreform beobachten kann. Lernschwache Kandidaten bei ihrer VAE-Bewerbung zu begleiten, kann dauern: von sechs Monaten bis zu einem Jahr, wenn auch noch Belege aufgetrieben werden müssen, sind in Frankreich die Regel. Ein Zeitraum, den Jos Noesen auch für die luxemburgische VAE für realistisch hält.

Für den Beamten kommen vor allem zwei Gruppen von Bewerbern in Frage: Menschen, die ein Diplom haben, aber auf ihren Arbeitsplatz seit Jahren höherwertige Tätigkeiten erfüllen. Das kann eine einfache Sekretärin sein, die Direktionsarbeiten übernimmt, oder ein Mechaniker, der komplizierte Ingenieursarbeiten ausführt. „Für sie ist die Anerkennung interessant, denn sie können sich später in Lohnverhandlungen in bares Geld auszahlen.“ Oder Menschen , die eine schulische oder berufliche Ausbildung haben, inzwischen aber in einem komplett anderen Feld arbeiten.

Aber was ist mit anderen Personen, wie Ausländern, Schulabbrechern und – Gefangenen? Letztere sind eine Randgruppe, oftmals ohne jede Ausbildung. Für sie ist die VAE die einzige Chance, sich ihre durch Hilfsarbeiten, Gelegenheitsjobs und Ateliers gewonnene berufliche Erfahrung anerkennen zu lassen und so vielleicht doch noch zu einem Abschluss zu kommen – in Frankreich und Norwegen arbeiten die Prüfer des VAE daher eng mit Gefängnissen zusammen. In Luxemburg ist das bislang nicht vorgesehen. „Wir sind nicht exklusiv. Wenn eine Abfrage kommt, werden wir sie prüfen“, sagt Jos Noesen. Ganz umsonst ist das neue Recht aber nicht: Der Bewerber ist mit 25 Euro Gebühren dabei, zuzüglich den Kosten, die anfallen, wenn noch Ausbildungsmodule nachzuholen sind. Teurer wird es für den Staat: Neben den Kosten für die Expertenkommission und Informa-tionsmaterial schätzt das Unterrichtsministerium den Preis pro Bewerbung in einer Anfangsphase auf 1500 Euro. Sobald sich das Verfahren eingespielt hat, soll er sich bei durchschnittlich 500 Euro einpendeln. In Krisenzeiten trotzdem kein Pappenstiel.

Ines Kurschat
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