Es hätte alles so rein sein können. Nach dem Abgasskandal bei Volkswagen wollte die Europäische Union alles richtig machen und die Software-Tricksereien bei Abgastests ausbremsen. Dies brauchte seine Zeit: Die Mitgliedstaaten haben sich vergangenen Mittwoch auf neue Standards für Kohlendioxid-Abgastests geeinigt. Ab September kommenden Jahres soll ein neues Testverfahren für neue Fahrzeugtypen verbindlich werden, das im Jahr darauf auch für alle Neufahrzeuge gelten wird.
Wichtig dabei ist, dass die Prüfverfahren grundsätzlich realistischer werden – denn schon immer galt, dass die Abgaswerte im Straßenverkehr deutlich über jenen lagen, die unter Laborbedingungen gemessen wurden. Der derzeit gültige „Neue Europäi-sche Fahrzyklus“ (NEFZ) war in die Kritik geraten, weil er den Herstellern eine Vielzahl von Schlupflöchern bietet. So kann die Autoindustrie mit legalen Tricks niedrige Verbräuche und Abgaswerte erreichen, die von Autofahrern niemals erzielt werden. Die Abweichung zwischen Labor und Realität hatte zuletzt bisweilen mehr als 40 Prozent betragen. Das neue Testverfahren trägt den sperrigen Namen World Harmonised Light Vehicle Test Procedure, kurz WLTP, und soll global verbindlich sein.
Die EU zieht damit weitere Konsequenzen aus dem Abgasskandal und versucht mit dem neuen Verfahren eine Lücke bei der Überprüfung des Kohlendioxid-Ausstoßes von Autos zu schließen, nachdem bereits im Februar zwischen den zuständigen EU-Institutionen eine grundsätzliche Einigung zur Einführung neuer Stickoxid-Prüfverfahren erreicht worden war. Nach Ansicht der EU-Kommission sind die neuen Tests ein großer Anreiz für die Industrie, neue Technologien zur Reduzierung des CO2-Austoßes zu entwickeln. Noch in diesem Monat wird von Brüssel erwartet, auch neue Standards für den Kohlendioxid-Ausstoß und den Kraftstoffverbrauch für die Zeit nach 2020 vorzuschlagen.
Der Verkehrsverband Transport and Environment (T&E) begrüßte die jüngste Einigung und legte gleichzeitig den Finger in die Wunde: „Wir gratulieren Kommissarin Elzbieta Bienkowska und ihrem Team dazu, dem Druck einiger Mitgliedsstaaten und der Autoindustrie standgehalten zu haben. Dies ist ein Sieg für Fahrerinnen und Fahrer, die realistischere Informationen über Kraftstoffqualität erhalten und somit bessere Autos wählen können“, sagte Greg Archer von T&E. Allerdings müssen noch das Europäische Parlament und der Europäische Rat ihre Zustimmung geben, bevor die neue Regelung in Kraft treten kann. Viel Raum und Zeit für Einflussnahme.
Genau hier liegt die Crux: In Mitgliedstaaten mit einer starken Automobilindustrie zeigen sich die zuständigen Ministerien mit der Bewältigung des Abgasskandals mehr als überfordert. Allen voran der deutsche Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). In der Aufarbeitung um den VW-Abgas-Skandal hat unter anderem die Deutsche Umwelthilfe (DUH) bereits mehrere Gerichtsverfahren gewonnen und wirft dem Verkehrsminister Kontrollversagen und Kumpanei mit der Autoindustrie vor. Die DUH hatte schon im Herbst 2007 auf Betrügereien bei Abgastests hingewiesen. Damals reagierte die EU mit der Verordnung EG-715/2007 über die Typengenehmigung für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge der Abgasstufe „Euro 5“ und „Euro 6“. Mit ihr wurden Abschalteinrichtungen für unzulässig erklärt und bei Verstößen „wirksame, verhältnismäßige und abschreckende“ Sanktionen angekündigt. Stattdessen entwickelte VW – wie auch andere Autobauer – eine Software, die erkennt, ob sich das Auto auf einem Prüfstand oder im Straßenverkehr befindet, dabei während des Tests die Einhaltung der jeweils geltenden Emissionsvorschriften erwirkt.
Zunächst flog VW auf, dann folgten weitere Automobilkonzerne. Doch die Aufarbeitung dauert: So lässt sich etwa das Dobrindt-Ministerium gerne düpieren. Jüngst ließ beispielsweise Fiat Chrysler einen Termin in Berlin platzen, zu dem der Turiner Konzern einbestellt war. Es ging um Software im Fiat 500, die das Abgasreinigungsmodul nach 1 300 Sekunden, knapp 22 Minuten, abschaltet. Prüfverfahren nach dem NEFZ dauern etwa 20 Minuten. Fiat wälzt derzeit die Verantwortung auf den Zulieferer Bosch ab und gibt sich eine reine Weste.
Auch in Belgien macht eine Verbraucherschutz-Organisation mobil: Test-Achats hat eine Sammelklage gegen VW angekündigt. Mit dieser Klage soll der Wolfsburger Konzern gezwungen werden, Entschädigungszahlungen zu leisten, teilte die Organisation mit. Bis heute weigert sich Volkswagen, Forderungen belgischer Kunden zu entsprechen. Obwohl belgische VW-Fahrer ebenfalls Opfer der „Machenschaften bei VW“ geworden seien, wurden bislang nur Kunden in den Vereinigten Staaten finanziell von Volkswagen entschädigt, so Test-Achats: „Diese Ungleichbehandlung ist nicht zu akzeptieren“, begründete ein Sprecher der Organisation das Vorgehen. Vom Abgasskandal sind in Belgien etwa 400 000 Fahrzeuge betroffen. Der Konzern hat eine kostenlose Umrüstung dieser Fahrzeuge angeboten, um sie mit einem richtig funktionierenden Abgas-Reinigungssystem auszustatten.