Das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft

Erstausgabe des ersten Bands von Das Kapital, Hamburg, 1867
d'Lëtzebuerger Land du 18.08.2017

Höchst tolles Wetter und Sturm Im Frühjahr 1867 war Karl Marx mit dem Schiff von London nach Hamburg gereist, um eigenhändig den zweiten Teil seines Manuskripts beim Verleger Otto Meißner abzuliefern. In einem Brief vom Samstag, dem 13. April an seinen Mitstreiter Friedrich Engels berichtete er: „Lieber Fred, Gestern 12 Uhr mittag kam ich hier an. Das Schiff verließ London Mittwoch, 8 Uhr morgens. Du siehst darin die ganze Geschichte der Seereise. Höchst tolles Wetter und Sturm. (...) Also abends kam Meißner. Netter Kerl, obgleich etwas sächselnd, wie sein Name andeutelt. Nach kurzem Pourparler all right. Manuskript sofort in sein Verlagshaus gebracht, dort in safe gesteckt, Der Druck wird in a few days beginnen und rasch vonstatten gehen.“

Das Manuskript sollte zu einem der wirkungsmächtigsten Bücher der Geschichte werden, so dass es dem Kapital wie der Bibel, Mein Kampf und neuerdings dem Koran erging: Alle haben eine Meinung dazu, niemand hat es gelesen. Es handelt nicht vom Kommunismus – der Ausdruck fällt auf den 2 248 Seiten der drei Bände gerade elf Mal und viermal in Fußnoten. Der „letzte Endzweck“ von Das Kapital ist vielmehr, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“, wie Marx in der Einleitung verspricht (Band I, S.XI). Der Dramatiker Heiner Müller meinte sogar, dass mit dem Scheitern der Oktoberrevolution Marx gegen Lenin Recht behielt, die Entwicklung der Produktivkräfte gegen den politischen Voluntarismus.

Natürlich ging der Druck nicht so rasch vonstatten. Marx klagte am 24. April aus Hannover: „Meißner, der die Geschichte in 4-5 Wochen fertig haben will, kann nicht in Hamburg drucken lassen, weil weder die Zahl der Drucker noch die Gelehrsamkeit der Korrektoren hinreichend. Er druckt daher bei Otto Wigand (rather dessen Sohn, da der alte renommierende Hund nur noch nominell bei dem Geschäft beteiligt). Heut vor 8 Tagen schickte er das Manuskript nach Leipzig.“

Am 14. September kündigte schließlich ein Inserat im täglich erscheinenden Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige die Neuerscheinung an: „O. Meißner in Hamburg. 7571. Marx, K., das Kapital. Kritik der polit. Oekonomie. 1. Bd. Buch 1.: Der Produktionsprocess d. Kapitals. gr. 8. Geh. 3 1/3“. Angesichts der Inserierungsfristen dürfte der erste Band von Das Kapital am 11. oder 12. September 1867 erschienen sein, vor 150 Jahren. Die Auflage betrug 1 000 Exemplare, das Manuskript ist seit den 20-er Jahren verschollen.

Ein epistemologischer Witz Vielleicht konnte Das Kapital nur erscheinen, weil die Revolution von 1848 scheiterte und Karl Marx ins Londoner Exil gezwungen wurde. Denn so fand er die nötige Zeit und in dem damals höchst entwickelten Industriestaat das geeignete Studienobjekt, um während Jahren die Verhältnisse in einer Gesellschaft zu untersuchen, wo Kapital eingesetzt wird, um Profit zu machen, aus dem zusätzliches Kapital gemacht wird. Am 2. April 1858 hatte er Friedrich Engels geschrieben, dass sein Werk sechs Bücher umfassen sollte: „Folgendes ist short outline of the first part. Die ganze Scheisse soll zerfallen in 6 Bücher. 1) Vom Capital. 2) Grundeigenthum. 3) Lohnarbeit. 4) Staat. 5) Internationaler Handel. 6) Weltmarkt.“ Kaum hatte er seine Beschreibung abgeschlossen, begann er wieder von vorn, 1857 als „Grundrisse“, 1858 als „Kritik der Politischen Oekonomie“, ab 1863 dann als Kapital. Als der erste Band von Das Kapital schließlich erschienen war, begann er, ihn umzuschreiben für die nach der Niederschlagung der Pariser Commune erschienene zweite Auflage von 1872 und für die französische Übersetzung.

Marx’ Gesundheit erlaubte es ihm nicht, sein Lebenswerk abzuschließen. Als er 1883 starb, war nur der erste Band, „Der Produktionsprocess des Kapitals“, erschienen. Im Juli 1885 veröffentlichte Friedrich Engels aus sieben von Marx überlieferten Manuskripten und aus Exzerpten den zweiten Band, „Der Cirkulationsprocess des Kapitals“. Im Dezember 1894 stellte er den aus einem „Hauptmanuskript“ und mehreren kürzeren Manuskripten zusammengestellten dritten Band, „Der Gesammtprocess der kapitalistischen Produktion“, zusammen, acht Monate später starb er. Den geplanten vierten Band über die Geschichte der Mehrwerttheorien gab der führende deutsche Sozialdemokrat Karl Kautsky stark überarbeitet von 1905 bis 1910 heraus. Bis zu Friedrich Engels’ Tod erschienen vier Ausgaben von Das Kapital. Während Jahrzehnten wurde die vierte Ausgabe als endgültige angesehen, auch wenn bald ein Streit ausbrach, ob Engels sich mit seinen editorischen Eingriffen nicht an Marx’ Geist versündigt habe.

Das Kapital bleibt bis heute der radikalste Gegenentwurf zur herrschenden, auf Léon Walras und Joseph Schumpeter zurückgehenden und jährlich mit dem Nobelpreis geadelten Standardtheorie der Wirtschaftswissenschaft, deren Stärke mehr apologetisch als empirisch ist. Sie idealisiert den Kapitalismus mit einigen neueren Abstrichen als perfekten Wettbewerb, der zu einem allgemeinen, geschichtslosen Gleichgewicht führt.

Für einen metaphysischen Markt mit einer unsichtbaren Hand hatte Marx aber nur Spott übrig und beschrieb stattdessen unter Berufung auf David Ricardos Arbeitswerttheorie ein Machtverhältnis zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen, das sich historisch entwickelt. Er machte den Unterschied zwischen Wert und Preis, der neuklassisch mit subjektivistischen Grenznutzen weggezaubert wird, und wies darauf hin, dass Krisen keine Pannen, sondern unvermeidlich sind.

All dies wird als störend empfunden, weil sich heute weniger denn je herumsprechen soll, dass die Weisheit jener Spezialisten von der Frankfurter Zentralbank bis zum Haut Conseil des finances publiques, die die Senkung der Lohnquote als wissenschaftliche Notwendigkeit besingen, auf einem epistemologischen Witz beruht: auf einer vollkommenen Theorie, die die unvollkommene Wirklichkeit verantwortlich macht, wenn Theorie und Praxis nicht übereinstimmen.

Volksausgaben Der Theoretiker und Politiker Karl Korsch, der 1932 eine Kapital-Ausgabe ganz ohne Engels und Lenin versuchte, war der erste, der den Marxismus auf den Marxismus anwenden wollte. Und tatsächlich erklärt das Buch Das Kapital implizit, wie sich seit 150 Jahren die Geschichte aller Länder des Erdballs in seiner Editionsgeschichte widerspiegelt: Die Spaltung der Arbeiterbewegung in Revolutionäre und Revisionisten, dann in Sozialisten und Kommunisten führte zum Streit um die Erbschaft von Karl Marx. Als 1913 die Urheberrechte auf dem ersten Band von Das Kapital abliefen, begann die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, eine „Volksausgabe“ herauszugeben, um anderen Verlagen zuvorzukommen und einen parteiinternen Richtungsstreit um das Werk zu verhindern. Der erste Band erschien 1914 in einer luxuriösen Halblederausgabe, als die Arbeiterklasse gerade in den Ersten Weltkrieg marschierte.

Nach der Oktoberrevolution und der Gründung der Kommunistischen Internationale setzte das Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut zum 50. Todestag von Karl Marx der als revisionistisch kritisierten Volksausgabe eine eigene entgegen. Um die neue Sowjetideologie des Marxismus-­Leninismus zu legitimieren, wurden allen Bänden Texte von Lenin beigefügt. Kurz vor der Machtübernahme der Nazis 1933 hatte das inzwischen einer stalinistischen „Säuberung“ zum Opfer gefallene Marx-Engels-Lenin-Institut die Urheberrechte nach Österreich ausgelagert. Ein Teil der Auflage von Band zwei konnte nicht mehr in Deutschland gedruckt werden, der Satz musste in eine sowjetische Druckerei gebracht werden. Der dritte Band erschien schließlich in einem Schweizer Verlag und musste in Oslo gedruckt werden.

Konzentrische Kreise Von Anfang hatte sich Karl Marx darum bemüht, dass sein Werk übersetzt würde, um in anderen Ländern bekannt zu werden. Meist dauerte es Jahre, bis er einen Übersetzer und Verleger gefunden hatte, denen er den Text anvertrauen wollte. Überraschenderweise erschien die erste Übersetzung nicht in einem hochindustrialisierten Land Westeuropas, sondern 1872 im zaristischen Russland, aus der Feder von Herman Lopatin und, nach dessen Verbannung, von Nikolai Danielson. Im Juni 1872 schrieb Karl Marx dem amerikanischen Kommunisten Friedrich Adolphe Sorge, dass das Buch in einer Auflage von 3 000 Exemplaren erscheinen konnte, weil laut Zensurkomitee, „die Darstellung durchaus nicht für jeden zugänglich genannt werden kann“, also keine Gefahr bestand, dass die Theorie die Massen ergriff.

Fast zeitgleich mit der russischen Übersetzung erschien 1872 das erste Heft der französischen Übersetzung, die aber erst 1875 abgeschlossen war. Karl Marx wollte so den Einfluss des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon in Frankreich zurückdrängen. Er hatte den Text stark überarbeitet und bescheinigte ihm deshalb im Nachwort „une valeur scientifique indépendante de l’original et doit être consultée même par les lecteurs familiers avec la langue allemande“ (p. 348). Der sozialistische Verleger Maurice Lachâtre versprach sich von dem Buch auch einen geschäftlichen Erfolg und illustrierte es mit Stichen aus seinen anderen Publikationen, wie seiner großen Geschichte des Papsttums. So landete ein Bild des manchmal für einen Börsentempel gehaltenen Pantheon in Rom auf der Titelseite von Le Capital. Der zweite und dritte Band wurde später in dem von dem Industriellen Ernest Solvay finanzierten Institut des ­sciences sociales in Brüssel übersetzt.

Schon 1884 begann eine polnische Übersetzung zu erscheinen, die von der revolutionären polnischen Jugendbewegung besorgt wurde. Angesichts der politischen Repression musste sie in Leipzig gedruckt und ins Land geschmuggelt werden. 1890 und 1894 begannen die Übersetzer die Arbeit am zweiten Band, doch die Manuskripte wurden zweimal von der Polizei beschlagnahmt.

In der Arbeiterbewegung wurde anfänglich die Hoffnung gehegt, dass Marx’ Abhandlung in kompliziertem Akademikerdeutsch zur Arbeiterlektüre würde. Die 1885 erschienene dänische Übersetzung des Journalisten und Sprachwissenschaftlers Hans Vilhelm Lund ist die erste Ausgabe durch eine Arbeiterorganisation. Sie ist auf billigem Papier gedruckt, so dass ihr Preis dem Tageslohn eines qualifizierten Arbeiters ­entsprach. Anders als sämtliche deutschen Ausgaben ist sie in Frakturschrift gesetzt. Da das Dänische auch in Norwegen verstanden werden konnte, erschien die erste norwegische Übersetzung erst 1930.

Die erste italienische Übersetzung richtete sich dagegen an Wirtschaftswissenschaftler und erschien in der 71 Bände umfassenden Biblioteca dell’economista. Sie war die erste von vielen Übersetzungen, die nicht vom Originaltext ausgingen, sondern sich der französischen, russischen oder englischen Übersetzung bedienten, was oft die Bedeutung der von Marx benutzten Fachbegriffe verzerrte. In manchen Ländern erschienen mehrere Übersetzungen, im spanischen Sprachraum und in Griechenland wurde jahrzehntelang darüber gestritten, welche Übersetzung die richtige ist.

In Marx’ kapitalistischem Musterland England erschien erst 1887 eine Übersetzung der dritten deutschen Ausgabe in einer bescheidenen Auflage von 500 Exemplaren, von der ein Teil in die USA geliefert wurde. Sie war das Werk des sozia­listischen Anwalts und Geschäftsmanns Samuel Moore sowie von Marx’ Schwiegersohn Edward Aveling. 1891 erschien in den USA ein Raubdruck in Form von vier Heften der linken Zeitschrift Humboldt Library, die Bankangestellten als Berufslektüre empfohlen wurde. Die Veröffentlichung als Zeitschrift erlaubte, von den günstigeren Versandtarifen der Post zu profitieren. Eine eigene amerikanische Übersetzung aller drei Bände und damit die erste englische Übersetzung des zweiten und dritten Bands überhaupt, fertigte der Journalist Ernest Unterman auf seiner Hühnerfarm in Florida für den sozialistischen Verleger Charles Kerr in Chicago an. Der anarchistische Arzt Y. A. Merison aus Litauen übersetzte 1917 in New York den ersten Band von Das Kapital ins Jiddische.

Die erste spanische Übersetzung des ersten Bandes von Das Kapital hatte Pablo Correa y Zafrilla 1886 begonnen, 1898 versuchte es Juan B. Justo noch einmal, weitere Übersetzungen erschienen in Argentinien, Mexiko und Spanien. Der Vater der niederländischen Sozialdemokratie, Franc van der Goes, begann 1892 mit der Übersetzung von Das Kapital, deren Veröffentlichung nach dem achten Kapitel 1901 für ein Jahrzehnt unterbrochen wurde. In Bulgarien erschienen 1909 und 1910 zwei unabhängige Übersetzungen aus dem Russischen von Dimitar Blagoev, dem Vater des bulgarischen Marxismus, in Sofia und dem Journalisten Georgi Bakalov in Stara Sagora. In Böhmen, dem höchstindustrialisierten Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, kam 1913 der erste Teil einer tschechischen Übersetzung des sozialdemokratischen Rechtsanwalts Theodor Šmeral heraus. Sie war laut Vorwort nötig geworden, weil die jüngere Generation kein Deutsch mehr lesen konnte und theoretisch wenig interessiert war.

Damit war bis zum Ersten Weltkrieg Das Kapital in konzentrischen Kreisen in fast allen Ländern West- und Mitteleuropas sowie in Russland und den USA verbreitet wurden. In Luxemburg, Österreich und der Schweiz erschienen keine Ausgaben, da dort der deutsche Originaltext verstanden wurde. Bis zum Zweiten Weltkrieg folgten nord- und osteuropäische Staaten und die ersten außereuropäischen Länder, wie Argentinien, China und Japan. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der Gründung der osteuropäischen Volksrepubliken und der Entkolonisierung im Süden verdoppelte sich die Zahl der Übersetzungen. Die erste portugiesische Übersetzung erschien in Brasilien, in Portugal kam Das Kapital erst im Jahr der Nelkenrevolution heraus.

Je nach Sprache mussten die Übersetzer neue Begriffe erfinden, um in agrarisch gebliebenen Gesellschaften „organische Zusammensetzung des Kapitals“, „erweiterte Reproduktion“ und „Mehrwertrate“ zu übersetzen und an die jeweilige Leserschaft anzupassen. Der Professor für Wirtschaftsgeschichte Rais al-Barawi begann sein Vorwort zur 1947 in Kairo erschienenen ersten arabischen Übersetzung von Das Kapital mit der Basmala: „Im Namen Gottes des Barmherzigen und Allerbarmers...“

Alle Abbildungen Privatsammlung, weitere Einzelheiten bei www.karlmarx.lu. – Das Museum der Arbeit in Hamburg zeigt vom 6. September 2017 bis 4. März 2018 eine Ausstellung über Das Kapital. – In Trier findet vom 5. Mai bis 21. Oktober 2018 eine Ausstellung zum 200. Geburtstag von Karl Marx statt.

Romain Hilgert
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