Ehe der Gemeinderat der Hauptstadt am Montag nach fünfstündiger Debatte über den neuen Flächennutzungsplan abstimmte, wunderte Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP) sich, dass die Opposition aus CSV, LSAP, ADR und déi Lénk ankündigte, sich zu enthalten: Das Votum sei doch gar nicht so entscheidend, damit schicke man den Entwurf des Plan d’aménagement général, des PAG, doch bloß „in die Prozedur“. Die kann fast 14 Monate dauern.
Aber Lydie Polfer wusste natürlich, dass sie damit nur technisch gesehen Recht hatte. Denn wenn der PAG das wichtigste Strategiedokument einer jeden Gemeinde ist, dann hat der der Hauptstadt seine Bedeutung weit über deren Grenzen hinaus – und wie eine Partei sich politisch dazu stellt, auch. Die Stater LSAP war sich am Tag danach vor lauter Aufregung nicht einmal sicher, ob sie sich enthalten oder gegen den Start der Prozedur gestimmt hatte.
Dabei sollen in den neuen Flächennutzungsplan, der erst kommenden Montag öffentlich gemacht wird, anscheinend viele Bestimmungen aufgenommen werden, die jeder gut finden kann. Und obwohl er, wie sein Name sagt, in erster Linie Flächen einer Nutzung zuweist, stecken dahinter so manche konkrete Ideen, gegen die sich ebenfalls nicht einfach Opposition machen lässt. Bebaut werden soll Luxemburg-Stadt künftig konsequenter als bisher von innen nach außen und von einer Achse Kirchberg – Oberstadt/Bahnhofsviertel – Hollerich aus. Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkaufen, die oft erwähnten „urbanen Funktionen“, sollen innerhalb der Stadtviertel stärker „durchmischt“ werden, damit sich „kürzere Wege“ ergeben.
Zum Beispiel sollen auch in der Oberstadt Wohnungen entstehen und „mit Priorität“ besonders viele zwischen der Escher Straße und Cessingen. Das ehemalige Fabrikgelände von Villeroy & Boch im Rollingergrund, auf dem die Gemeinde Grundstücke erworben hat, soll zu einem „lebendigen Viertel“ mit Wohnungen, Geschäften und Gärten werden. Ähnliches ist auch auf dem Werksgelände Paul Wurth/Heintz van Landewyck vorgesehen, sobald es frei ist. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Und dann das viele Grün: Obwohl durch die „Innenraumverdichtung“ allein das Wohnraumangebot um 30 Prozent zunehmen soll, werden 51 Prozent der Hauptstadtfläche weiterhin grün bleiben; auch, weil noch Grünflächen hinzukommen sollen. Die Alzette-Ufer in Beggen sollen renaturiert werden. Der Petruss-Park soll Richtung Merl verlängert werden und einen Anschluss zu den Grünflächen Cessingens erhalten. Unter Schutz gestellt werden sollen durch den neuen Plan 500 zusätzliche Gebäude. Die Zahl der geschützten Bauten im Stadtgebiet stiege damit auf 7 100 oder mehr als ein Drittel aller Bauten. Das finden sämtliche Gemeinderäte eine tolle Sache.
Doch weil ein PAG das wichtigste Strategiedokument einer Gemeinde ist, kann die Opposition nicht einfach so dafür sein. Das fällt umso leichter, wenn die regierende Mehrheit den Entwurf lieber fertig ausarbeitet und erst dann die Opposition einweiht. Das ist hierzulande üblich: Als vor drei Jahren in Mamer der PAG neu gefasst wurde, beschwerten die lokalen Grünen sich, der CSV-LSAP-Schöffenrat habe den Entwurf erst in letzter Minute herausgerückt. In Luxemburg-Stadt habe der DP-Grünen-Schöffenrat das „fünf vor zwölf“ getan, klagte LSAP-Rat Marc Angel und sieht „die Demokratie mit Füßen getreten“, während CSV-Rätin Isabelle Wiseler sich fragt, wie sie ihren Wählern, falls die fragen, erklären soll, „was mit ihrem Grundstück geschieht“, wenn doch der Schöffenrat in den vergangenen vier Wochen die Gemeinderäte mit so vielen Informationen „zugeschüttet“ habe, „dass wir noch gar nicht alles überblicken“ von dem insgesamt über 3 000 Seiten langen PAG-Entwurf.
Dass ein kommunaler Flächennutzungsplan mit der Opposition ausgearbeitet werden könnte, ist ein interessanter Gedanke. Vielleicht sogar gemeinsam mit den Bürgern: Déi Gréng hatten vor zwei Jahren eine Konferenz mit einem Tübinger Kommunalpolitiker organisiert, der dort darlegte, wie das in seiner Heimatstadt gemacht wurde. Das Video von dieser Veranstaltung ist noch heute auf der Webseite von Déi Gréng zu finden, und der grüne Rat François Benoy und die Erste Schöffin Sam Tanson freuen sich nach wie vor, wenn jemand sagt, welch innovativer Ansatz das sei.
Allerdings ist Luxemburg-Stadt politisch wichtiger als eine Stadt wie Tübingen. Die Hauptstadt ist nun mal die Hauptstadt, obendrein die mit Abstand größte Gemeinde und der wirtschaftliche Dreh- und Angelpunkt des Lanes. Deshalb ist ihr PAG, der strategisch ins Jahr 2030 reicht, auch national bedeutsam. Und er ist so etwas wie ein Angebot eines von zwei Regierungsparteien dominierten Schöffenrats zu jenem „Zukunftstisch“, den auf Landesebene CSV und ADR von der Regierung vergeblich einfordern, seitdem diese ihr Ziel eines mittelfristigen Haushaltsüberschusses von 0,5 BIP-Prozent in ein 0,5 BIP-Prozent-Defizitziel verwandelt hat und meint, das sei durch das voraussichtliche Wachstum der nächsten Jahre problemlos tragbar.
Darum hütete sich die LSAP auch, dem Schöffenrat am Montag vorzuwerfen, der PAG baue auf zu hohen Wachstumserwartungen auf, und der Grüne François Benoy klang wie Landesplanungsminister François Bausch, als er meinte, „Wachstum macht Sinn“, nötig sei lediglich eine „gute Planung“, um es einzuhegen. Dagegen finden CSV, ADR und déi Lénk die Wachstumsideen des Schöffenrats „exorbitant“, „exzessiv“, „nicht nachhaltig“, und die CSV berief am Dienstag gleich noch eine Pressekonferenz ein, um es zu wiederholen. Die LSAP beklagte drei Stunden vorher ebenfalls auf einer Pressekonferenz erneut die „total undemokratische Prozedur“ und kündigte einen „alternativen PAG“ an – allerdings „wahrscheinlich“ erst für den Gemeindewahlkampf, wenn der richtige PAG schon unter Dach und Fach sein wird.
Leider scheint der Unmut der Opposition nicht unberechtigt. Das liegt nicht daran, dass der PAG dafür sorgen soll, dass Luxemburg-Stadt 2030 um die 150 000 Einwohner zählen könnte und später vielleicht 180 000. Schon der aktuelle PAG, der ein Vierteljahrhundert alt ist, enthält das Flächenpotenzial für eine 150 000-Einwohnerstadt. Künftig könnten weitere 30 000 Bürger durch „verdichteteres Bauen“ untergebracht werden. Den Bauperimeter gegenüber dem derzeitigen PAG ausweiten will der Schöffenrat nicht.
Bemerkenswerter ist, dass die Möglichkeit geschaffen werden soll, dass 2030 bis zu 250 000 Arbeitsplätze in der Hauptstadt angesiedelt sein könnten. Das ist ein Maximum. Ein „Mobilitätskonzept“ zum PAG hält 230 000 für ziemlich realistisch. LSAP-Rat Marc Angel hatte schon Recht als er klagte, „die Schere zwischen Einwohner- und Arbeitsplatzzahl“ solle sich offenbar nicht schließen. Heute kommen auf 110 000 Einwohner möglicherweise 180 000 Jobs, aber das weiß niemand genau. Am Montag hieß es, bei 230 000 Arbeitsplätzen könne die Zahl der in- und ausländischen Berufspendler in die Stadt von vielleicht 125 000 heute bis 2030 auf 160 000 zunehmen.
Das müsse alles nicht so kommen, rief Lydie Polfer in den Ratssaal hinein, nachdem sie gebeten hatte, „seien wir doch froh über Wachstum“, und sie die LSAP präventiv daran erinnerte, es sei ihr Vizepremier und Wirtschaftsminister, der „durch die Welt fährt, um Firmen hierher zu holen“. Und immerhin: „Wir haben es zurzeit in der EU mit politischen Tendenzen zu tun, die gar nicht in Richtung einer freien Entwicklung zeigen.“ Würden die „sich bewahrheiten“, dann träfe das „vor allem die kleinen Mitgliedstaaten“, und insbesondere die, „auf die aus purem Neid gern mit dem Finger gezeigt wird“. Dann würde es „schwer für uns“.
Die Frage ist nur, ob das Land sich harmonisch entwickeln würde, falls es doch nicht schwer wird und die Hauptstadt wirtschaftlich tatsächlich wächst, wie angenommen. Man sollte es meinen. Denn Landesplanungsminister François Bausch (Déi Gréng) erzählt allen, die nach dem „Zukunftstisch“ fragen, die Gespräche, die seine Beamten mit den Gemeinden führen, damit im Herbst die vier Plans sectoriels wieder aufgelegt werden können, seien der Zukunftstisch in Permanenz. Doch d’Land erhielt auf Nachfrage beim Nachhaltigkeits- und Infrastrukturministerium die überraschende Auskunft, der PAG der Hauptstadt sei mit keinem Plan sectoriel abgestimmt, und die Arbeitsplatzzahlen des Stater Schöffenrats seien ebenso „neu“ wie das Mobilitätskonzept zum PAG. Darin werden offenbar 150 000 Einwohner und 160 000 Berufspendler im Jahr 2030 für beherrschbar gehalten – sofern das Angebot im öffentlichen Transport sich bis dahin „verdreifacht“ hätte.
Was das bedeuten könnte, wusste am Montag auch Mobilitätsschöffin Sam Tanson nicht zu sagen. Sie kündigte nur an, der PAG sehe vor, die Tram um eine zweite Linie nach Hollerich und um eine dritte entlang der Arloner Straße zu erweitern. Und Lydie Polfer meinte tapfer, „jeder, der in der Stadt arbeitet, hat die Möglichkeit, ein Auto weniger auf die Straße zu bringen“, als brächten Bus und Bahn schon heute auch den letzten Pendler aus dem In- und Ausland zügig von der Haustür an den Arbeitsplatz.
Damit hat der PAG-Entwurf von Luxemburg-Stadt nicht nur das Zeug dazu, in den nächsten Monaten die lokale Politik zu beschäftigen. Wofür sich vor allem die CSV schon warmläuft und auf ihrer Pressekonferenz am Dienstag auch den früheren Chef-Landesplaner Romain Diederich aufbot, der den Journalisten berichtete, die Arbeitsplatzdaten der Stadt Luxemburg seien bisher stets „unterschätzt“ gewesen.
Die Aussicht auf die 230 000-Jobs-Stadt könnte auch an einen echten „Zukunftstisch“ führen. Denn wenn die Hauptstadt derart viele Büroflächen auf den Markt bringt und durch ihren politisch absichtlich niedrig gehaltenen kommunalen Gewerbesteuer-Hebesatz weiterhin besonders attraktiv bleibt zur Ansiedlung von Firmen, dann müsste schon die Landespolitik eingreifen, um das Wachstum in Richtung anderer Gemeinden zu dezentralisieren, die ebenfalls wachsen sollen. Oder zu sagen, welche ganz neuen Verkehrsmittel her müssen, damit in 15 Jahren die 230 000-Jobs-Stadt im 800 000-Einwohnerstaat nicht endgültig ins Chaos steuert.