Öffentliche Bibliotheken erhalten nur Zuschüsse, wenn sie die richtigen Bücher haben

Freie Bibliotheken

d'Lëtzebuerger Land du 29.03.2013

Es gab einmal eine Zeit, da besaßen öffentliche Bibliotheken ein wahres Meinungsbildungsmonopol. Bedeutende gesellschaftliche Akteure stritten darum, ihre jeweilige weltanschauliche Sicht in möglichst breiten Bevölkerungskreisen durch diese Institutionen durchzusetzen. Doch dann vervielfältigte sich ab den 1950/60-er Jahren die Medienlandschaft. Heute ist ein Radio- und Fernsehimperium, mit einer IT-Abteilung versehen, ein modernes, einflussreiches und gesellschaftliches Durchdringungsmittel. So gesehen, sind Bibliotheken nur noch ein Element von vielen, welche die öffentliche Meinung entsprechend „bearbeiten“ könnte.

Beim 2010-er Bibliotheksgesetz war die Legislative (Abgeordneten) vermutlich im Vorfeld, das heißt beim Gesetzesprojekt, davon ausgegangen, dass sich die Exekutive (Kulturministerium) an der fortschrittlichsten Bibliotheksgesetzgebung orientieren würde. Aus zeitsparender, sprich übersetzungsvermeidender Sicht, geschieht dies oft anhand der Gesetzgebung französischsprachiger Länder/Regionen. Das Vertrauen in die Fachkompetenz der Ministe­rial­bürokratie war und ist in Luxemburg fast grenzenlos. Dies kann manchmal ein fataler Fehler sein. In diesem Falle war es einer.

Unsere Parlamentarier waren voll edler Absichten, die Kulturministerin vermutlich auch. Der Sinn des Gesetzes sollte, laut Kulturkommissionsbericht vom 12. April 2010, ein „développement quantitatif et qualitatif“ sein, also auch die Gründung vieler öffentlicher Bibliotheken mitbringen. Der Vorwurf des „Bibliotheksentwicklungslandes Luxemburg“, wie im d’Land seit 2001 oft beschrieben, wollte kein auf sein Land stolzer Abgeordneter auf sich sitzen lassen. Es wurde ein interessantes Lehrstück eines parlamentarischen Prozesses. Die Abstimmung in der Abgeordnetenkammer fand am 22. April 2010 statt. Interessanterweise erwähnte Marc Angel (LSAP) dabei so viele Schwachstellen des Gesetzesprojektes Nummer 6026, dass es eigentlich logischerweise nochmal hätte überarbeitet werden müssen. Dennoch rief er zur Abstimmung auf. Das Gesetzesprojekt war schnell durchzunicken. Bibliotheken sind heutzutage unwichtig. So scheint es, so geschah es.

Was ist an diesem Gesetz so verfehlt? Vor allem die falsche Epoche: Luxemburg benötigt eindeutig ein Bibliotheksgründungsgesetz, welches jungen Bibliotheken viel Entfaltungsspielraum lässt. Dank unüberlegtem Copy/Paste, ohne Mitwirkung eines einzigen qualifizierten Bibliothekars, wurde bei einem seit 1921 (!) entwickelten und extrem durchstrukturiertem Land wie Belgien abgekupfert.

Indem das Rad wie so oft wieder einmal neu erfunden werden sollte, geschah etwas Unglaubliches: Nicht „unerwünschtes“, sondern erwünschtes Schrifttum, beziehungsweise erwünschte Medien und Webseitenverbindungen müssen fortan in öffentlichen Bibliotheken Luxemburgs angeboten werden, wenn sie jemals wieder staatliche Subventionen beanspruchen möchten. Dies stellt einen klaren staatlichen Eingriff in die Zusammensetzung von Bibliotheksbeständen dar. Wie konnte dies passieren? Artikel 5 des 2010-er Bibliotheksgesetzes sieht vor: „Les critères définissant les thèmes, le nombre des ouvrages et collections ainsi que les supports sont précisés par voie de règlement grand-ducal.“ Die Ermächtigung zum Missbrauch durch die Exekutive wurde durch die Legislative einstimmig abgesegnet. Artikel 3 der zum Bibliotheksgesetz gehörigen Ausführungsbestimmung des 4. Juli 2010 gibt einen Vorgeschmack: „une offre équilibrée d’ouvrages au moins dans les trois langues officielles du pays; des méthodes audiovisuelles et autres d’apprentissage de ces langues; une riche documentation notamment sur l’histoire, la société, la culture, la littérature, l’économie et les institutions du Grand-Duché de Luxembourg, ainsi que sur l’histoire de la construction et le fonctionnement de l’Union européenne, dont l’accès aux bases de données en ligne du Centre virtuel de la connaissance de l’Europe“.

Die Tür ist offen. Was wird wohl demnächst verordnet? Nato-Verherrlichungsliteratur? Politisch Korrektes, wie Anti-Raucher-Bücher oder Grünen-Strom-Ratgeber? Oder alles, was das Empfinden bestimmter Kreise fördern würde, was die sittlichen und religiösen Grundlagen Luxemburgs festigen würde? Etwa staatskonforme Luxemburgensia? Keine europäische Demokratie verlangt in ihrer Bibliotheksgesetzgebung derartige Vorgaben!

Die Abhängigkeit von Subventionen des Kulturministeriums stellt die öffentlichen Bibliotheken Luxemburgs vor folgenden Zwiespalt: Entweder werden die Bestimmungen von Gesetz und Verordnung erfüllt oder es fließen nicht nur keine, sondern nie wieder staatliche Zuschüsse. Dürfen zum Beispiel deswegen in Luxemburg „fremdsprachige“ Bibliotheken wie eine Biblioteca Italiana oder Nederlandstalige Jeugdbibliotheek, welche dieselbe Aufgabe wie ihre kommunalen „Kollegen“ erfüllen, nämlich die der Leseförderung, womit die Beteiligung an gesellschaftlichen Entwicklungen ermöglicht wird, im multikulturellen Luxemburg von jeder staatlichen Bezuschussung ausgegrenzt werden, nur weil sie den Sprachanforderungen des Kulturministeriums nicht entsprechen?

Um begriffliche Missverständnisse zu vermeiden: Beim Großherzoglichen Règlement vom 4. Juli 2010 handelt es sich nicht um eine Kann-, sondern Muss-Vorschrift, eine Verordnung! Diese Schandtat ist im Memorial für alle Zeiten verewigt. Aber vielleicht spiegelt diese Verordnung auch nur dasselbe fragwürdige Verständnis von Demokratie des Staates wider, welches hierzulande die Pflichtexemplarverordnung (dépôt légal - d'Land 2/2009) seit 1960 prägt?

Von wahrscheinlich überforderten Lokalpolitikern verlassen gefühlt, lehnen sich insbesondere Bibliotheksträgervereine auf. Der vereinzelt auftretende lokale Widerstand führte seit 2010 zu einem neuen Typus in der luxemburgischen Bibliothekslandschaft: die freien Bibliotheken. Ihre wichtigsten Charakteristika:

– sie erfüllen die Bedingungen des Bibliotheksgesetzes nicht, sei es aus Drang nach eigener Gestaltung oder weil sie einfach nicht über die nötige räumliche Entfaltung verfügen können.

– sie verstehen nicht, warum ihr Personal mehr Fortbildungskurse besuchen müsste, als qualifizierte Bibliothekare verschiedener staatlicher Institutionen.

– sie investieren mehr Zeit in die Animation als in die Bestandserschließung und konzentrieren sich auf die Leseförderung (consommation). Sie möchten partout keine Bücherfriedhöfe (conservation) werden.

– sie dürfen ihre Öffnungszeiten flexibel gestalten und eigenständig festsetzen. Sie wissen, dass zwischen Stadt und Land ein Unterschied existiert.

– sie können manchmal nicht Werke in allen drei offiziellen Sprachen anbieten und leisten trotzdem dieselben guten und richtigen Dienste im Bereich der Förderung von Lese- und Schreibfähigkeit (literacy) und Integration in diesem Lande.

– sie dürfen neben der üblichen Belletristik auch thematische Spezialsammlungen aufbauen und können ihre Medienanzahl und die Datenträger selbst bestimmen.

– sie können sich für einen eigenen Katalog oder einen anderen als den gesetzlich suggerierten Verbundkatalog entscheiden und haben das Recht, nicht Mitglied des von der Nationalbibliothek koordinierten nationalen bibnet.lu, mit einer bestimmten Software einer bestimmten Firma, zu werden.

– sie müssen in Ortschaften über 10 000 Einwohner nicht unbedingt bestimmt ausgebildetes Personal vorweisen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass wissenschaftliche staatliche Bibliotheken einen solchen Mindeststandard nicht erfüllen können.

– sie dürfen autonom weiter existieren und für die Hebung der lokalen und nationalen Geisteskultur arbeiten, selbst wenn bereits in der Ortschaft selbst oder in Nachbargemeinden ebenfalls eine öffentliche Bibliothek vorhanden ist. Denn die Einheitsbibliothek gab und gibt es in demokratischen Ländern nicht. Bibliotheken von Pfarreien, Gewerkschaften, Vereinen, Gemeinden undsoweiter besaßen niemals komplett identische Bestände.

Wir fassen zusammen: Die Einmischung des luxemburgischen Staates ist sehr ausgeprägt und erinnert an faschistisch oder kommunistisch orientierte Bibliothekssysteme. Französische Bibliothekare zum Beispiel staunen über luxemburgische Verhältnisse. Vom Staat subventioniertes Personal wird als staatliches angesehen und kann, je nach politischer Konstellation, andere weltanschauliche Einflüsse einbringen, welche nicht zum Beispiel einer kommunal gewählten Mehrheit entsprechen. Personalzuschusskosten in öffentlichen Bibliotheken sind dort tabu.

Wohl als Trotzreaktion nennen sich freie Bibliotheken weiterhin „öffentliche Bibliothek“, weil sie sich Artikel 2 des 2010-er Bibliotheksgesetzes („Au sens de la présente loi, on entend par « bibliothèque publique », une bibliothèque […] qui a reçu l’agrément du ministre ayant dans ses attributions la Culture.“) nicht verpflichtet fühlen. Denn sie tun als Frequenzbringer, als Aufwertungsinstitutionen von Kommunen oder in Gemeindevierteln, als Orte des geistigen Austauschs und der Fortbildung der Bürger, eine wundervolle Arbeit. Dies auch ohne „Anerkennung“ durch eine kulturelle Zentralmacht.

Wir stellen fest: Es besteht wahrlich ein konkreter Verbesserungsbedarf. Bibliotheksgründungen, wahre Pionierleistungen, gehören entsprechend gewürdigt und nicht bestraft. War der Entzug jeglicher staatlicher Förderung für Nicht-Konformisten doch wie vermutet das eigentliche Ziel des Bibliotheksgesetzes (d’Land, 18/2009)?

Wir präzisieren: Idealisten haben in diesem Lande den Freiraum zur Gründung einer Bibliothek. Allerdings hört dann beim Spielraum zur Gestaltung ihrer Bibliothek die Freiheit auf. Dann, wenn eine oft dringend benötigte staatliche Förderung in Aussicht stehen sollte. Eine staatlich unabhängige, doch geförderte Organisation/Institution dürfte allen Interessen dienlich sein: einem nach Mindestanforderungen lüsternen Staat und einem nach Hilfe dürstenden unterentwickelten öffentlichen Bibliothekswesen.

Bis zur allgemein gesellschaftlichen Einsicht, dass diese durch das 2010-er Bibliotheksgesetz samt Verordnung im Bibliotheksbereich erzeugte internationale Schmach schnellstens zu tilgen ist, gilt: Es lebe die Demokratie, es lebe die freie Bibliothek!

Jean-Marie Reding
© 2024 d’Lëtzebuerger Land