Buchführung ist eher eine Kunst als eine Wissenschaft, auch bei den Staatsfinanzen

Kommunizierende Röhren

d'Lëtzebuerger Land du 08.03.2019

Als der liberale Finanzminister Pierre Gramegna am Dienstagmorgen im Kammerplenum stand, in dem schon etwas abgewetzten Nostalgiekitsch von falschen Stucksäulen und falschen Kerzenleuchtern, von der Welt da draußen mit heruntergelassenen Vorhängen abgeschirmt, dachte er sicher an die Gilets jaunes, die soeben dem Traum eines autoritären Liberalismus in Frankreich ein jähes Ende gesetzt haben. Denn er beruhigte die Abgeordneten, die Minister und die an seiner Haushaltsrede interessierten Streaming-Zuschauer: „Wenn es in Luxemburg, anders als in anderen europäischen Ländern, nur wenige soziale Unruhen und Kundgebungen gibt, dann auch, weil die sich abwechselnden Regierungen immer darauf bedacht waren, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu weit auseinandergehen soll und die Schwächsten in unserer Gesellschaft, da wo es nötig ist, vom Staat unter die Arme gegriffen bekommen.“

So als hätten nicht auch die von Unternehmerlobbys an die Macht gedrängten DP, LSAP und Grünen einst als moderne Sparkoalition begonnen und zwecks ökonomischer Disziplinierung und Rationalisierung des Sozialstaats in ihrem Regierungsprogramm abgemacht gehabt, „[d’]atteindre d’ici la fin de la période de législature un solde structurel des finances publiques d’au moins +0,5% du PIB“ (S. 21). Bis eben zum „epistemologischen Bruch“ nach den Europawahlen, dem Referendum und desaströsen Meinungsumfragen, als der im Reformprogramm der UEL vorgezeichnete neoliberale Durchmarsch gestoppt wurde und der ehemalige Handelskammerdirektor Pierre Gramegna im April 2016 vor dem Parlament verkündete, dass „Luxemburg ein neues mittelfristiges Ziel“ für seine öffentlichen Finanzen beschlossen habe, die Europäische Kommission habe „–0,5 Prozent ausgerechnet, und die Regierung hat beschlossen, sich dieser Prognose anzupassen“. Auf diese Weise wusste die liberale Koaltion sich zur allgemeinen Überraschung bei den Wahlen im Oktober die Sympathien der Wähler zurückzukaufen.

Der wegen der Wahlen verspätet, erst diese Woche hinterlegte Entwurf des Staatshaushalts für 2019 ist der letzte, dem ein halbprozentiges Defizit zugestanden wird. Denn das mittelfristige Haushaltsziel wird, so Pierre Gramegna, „von 2020 bis 2022 dann bei +0,5 Prozent liegen. Dies entspricht dem Minimum, das die Kommission gerade ausgerechnet hat. Die Regierung hat vergangenen Freitag beschlossenen, diesen Wert zu übernehmen, so wie das auch in der Vergangenheit der Fall war“.

Vielleicht ist das ein Grund, weshalb die Regierung sich dieses Jahr noch einmal einen größeren Fehlbetrag im Staatshaushalt zu leisten scheint. Zumindest auf dem Papier. Doch selbst auf dem Papier ist dank einer bunten Vielfalt von Buchführungsregeln nicht klar auszumachen, wie groß das Staatsdefizit sein soll: 1 062,80 Millionen Euro laut Haushaltgesetz einschließlich Anleihen; 815,20 Millionen Euro laut Haushaltsgesetz, aber wie bisher ohne Anleihen; 925,8 Millionen Euro nach Annäherung an die EU-Buchführungsregeln SEC 2010 oder 650 Millionen Euro in der Zentralverwaltung, das heißt dem Staat einschließlich Investitionsfonds und öffentlichen Einrichtungen. Ganz zu schweigen von einem Überschuss der öffentlichen Verwaltung, das heißt einschließlich Sozialversicherung und Gemeindefinanzen.

Diese Verwirrung soll nicht bloß jeden Vergleich erschweren, da selbst im Parlament die Wenigsten die politische Aussagekraft der unterschiedlichen Salden beurteilen können. Sie ist auch darauf zurückzuführen, dass laut Haushaltsgesetz die Staatsfinanzen noch immer wie eine Vereinskasse mit Einnahmen und Ausgaben geführt werden, während die Europäische Union an der privatwirtschaftlichen Buchführung orientierte Regeln vorschreibt – jedoch ohne Berücksichtigung der Aktiva, um den Staat möglichst arm aussehen zu lassen. Die Verwirrung ist groß genug, selbst wenn Pierre Gramegna nicht mehr von einer kopernikanischen Wende der Haushaltspolitik spricht und davon, „eine Logik der Mittel durch eine Logik der Resultate“ zu ersetzen nach dem Vorbild der französischen Loi organique relative aux lois de finances (Lolf).

Den Staat möglichst arm aussehen zu lassen, war hierzulande schon lange vor den Maastrichter Austeritätskriterien gängige Praxis, um kein „Anspruchsdenken“ bei den subalternen Klassen aufkommen zu lassen. „Während der letzten Legislaturperiode hatten wir jedes Jahr eine positive Abweichung zwischen den Haushaltsprävisionen und den Konten“, erklärte der Finanzminister am Dienstag. „Das heißt, das Defizit lag immer niedriger als geplant. 2014, 2015, 2016 und 2017 lagen wir stets nahe am Gleichgewicht. Das vergangene Jahr, 2018, werden wir zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder schwarze Zahlen schreiben in der Zentralverwaltung.“

Mit dem für das laufende Jahr angekündigten Defizit sieht es nicht anders aus: „Das Defizit im Zentralstaat erklärt sich in erster Linie durch die Investitionen, die Mindestlohnerhöhung und die Steuersenkungen“, so Pierre Gramegna. „Gerade weil wir eine vorsichtige Haushaltspolitik machen, gehen wir dieses Jahr nicht von einem weiteren spektakulären Anstieg aus, sondern bloß von einer ganz gemäßigten Entwicklung. Dies bringt mit sich, dass wir davon ausgehen, dass 2019 die Ausgaben schneller wachsen als die Einnahmen. Der Schereneffekt, der jahrelang positiv war, verkehrt sich demnach dieses Jahr ins Negative.“

Aber Buchführung ist eher eine Kunst als eine Wissenschaft. „Ich hätte auch einen Haushalt mit einem niedrigeren Defizit vorlegen können, indem wir höhere Einnahmen eingesetzt hätten“, räumte der Finanzminister ein. „Wie in den Vorjahren habe ich aber lieber eine vorsichtigere Herangehensweise zurückbehalten. 2018 haben wir mit einem weit besseren Ergebnis abgeschlossen, als im Haushalt vorgesehen. Das ist auch für 2019 nicht ausgeschlossen.“ Doch selbst das ist eher theoretisch. Das Defizit der Staatsfinanzen entsteht dadurch, dass ein Großteil der Investitionen aus den laufenden Einnahmen finanziert werden soll, statt in Zeiten von Niedrigstzinsen und von einer der niedrigsten Schuldenquoten in Europa durch Anleihen, damit die Kinder nicht auf Kosten der Eltern leben. Wieviel genau, ist schwer auszumachen. Denn die Investitionen werden neuerdings als Kapitalausgaben verbucht, zu denen auch Subsidien gezählt werden, die weder Kapital noch Investitionen sind. Zudem sehen die Staatshaushalte stets mehr Kredite für Investi­tionen vor, als bis zum Ende des Haushaltsjahres überhaupt verbaut werden können (siehe Seite 5 dieser Ausgabe). Das Haushaltsgesetz soll in Artikel 42 der Regierung erlauben, dieses Jahr bis zu einer Milliarde Euro zu leihen, aber bloß als hypothetische „Sicherheitsmarge“, wie es im Artikelkommentar heißt.

Und was heißt schon Staatsdefizit? Was seit Maastricht zählt, ist der Saldo des Gesamtstaats. So wird nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren das Defizit bei den Ministerien und Verwaltungen durch den Überschuss der Sozialversicherung und der Gemeinden mehr als ausgeglichen. Überwiese der Staat keine 353,3 Millionen Euro Steuereinnahmen in den Fonds de dotation globale des communes, wäre das Haushaltsloch bei den Gemeinden, statt beim Staat. Würde er nicht 1 625,0 Millionen Steuereinnahmen in die Rentenversicherung zahlen, auch um die Lohnnebenkosten der Betriebe niedrig zu halten, hätte er einen Milliardenüberschuss und die Pensionskasse ein entsprechendes Loch. „Bei der Sozialversicherung werden wir jedes Jahr bis 2022 einen Überschuss von etwa einer Milliarde Euro oder 1,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sehen. Diese guten Ergebnisse sind von der weiterhin positiven Entwicklung des Arbeitsmarkts getrieben. Im Vergleich zum Haushalt 2018 steigen dadurch die Beiträge dieses Jahr um rund fünf Prozent“, freute sich Pierre Gramegna am Dienstag. Lange scheint es her, dass er beim Gedanken an die Sozialversicherung die Stirn in Falten legte, das Kapitaldeckungsverfahren mit einer Feuerversicherung verwechselte und dann vor der „impliziten Staatsschuld“ warnte.

Nach diesen und den Deflationsängsten scheinen auch die Rezessionsängste der vergangenen Monate schon wieder vergessen. Das Statec rechnet dieses Jahr mit drei Prozent Wirtschaftswachstum und nächstes Jahr mit 3,8 Prozent, doppelt so viel wie im EU-Durchschnitt. Die Inflation soll mit anderthalb Prozent weiterhin unter dem monetaristischen Ideal von zwei Prozent bleiben. Laut Haushaltskommentar könnte Ende dieses Jahres eine Indextranche von 2,5 Prozent fällig werden. Anfang nächsten Jahres soll laut Statec die Preisentwicklung um 0,2 Prozentpunkte zurückgehen, wenn Bus- und Bahnfahrscheine kostenlos und aus dem Indexwarenkorb entfernt werden. Die Auswirkungen der kostenlosen Maisons relais, der niedrigeren Mehrwertsteuer auf Tampons und elektronischen Büchern – wohl als Ausgleich zur zweiprozentigen TVA-Erhöhung 2014 – sowie der Akzisenerhöhung auf Benzin und Diesel wurden noch nicht berechnet.

Dank des nicht überall gerne gesehenen Anzapfens der Steuerbemessungsrundlagen fremder Länder und einer weit über die Landesgrenzen hinausgehenden Reservearmee von Erwerbstätigen rechnet die Regierung auch nächstes Jahr mit ansehnlichen Steuereinnahmen:

Lohnsteuer  4 265,0 Millionen (+9,4%)
Mehrwertsteuer  3 888,5 Millionen (+4,4%)
Körperschaftsteuer  2 050,0 Millionen (-11,0%)
Abonnementtaxe  1027,0 Millionen (+0,0)
Vermögenssteuer  670,0 Millionen (-1,8%)
Kapitalertragssteuer   445,0 Millionen (-12,6%)
Einregistrierungsabgaben   351,0 Millionen (-2,2%)
Erdölakzisen  219,2 Millionen (+10,4%)
Zigarettenakzisen  151,3 Millionen (+5,6%)

Auffallend ist, dass die Einnahmen aus der Besteuerung von Arbeit und Verbrauch steigen, aus der Kapitalverwertung trotz Beps-Panik abnehmen sollen.

So bleibt genug Geld, um einen mehr als karitativen Sozialstaat zu unterhalten und auch Arbeiter, Angestellte und Mittelstand in Maßen am wirtschaftlichen Erfolg teilnehmen zu lassen, sich bei den staatlichen Ausgaben manches „nice to have“ zu leisten, Transport, Schulbücher, Maisons relais und Musikunterricht unter möglichem Ausschluss der Grenzpendler kostenlos anzubietenen. Die Koalitionsverhandlungen waren darauf hinausgelaufen, diese Mittel unter den Wahlklientelen der Regierungsparteien aufzuteilen, und offenbar wollte man nach den überstandenen Wahlen keine Zeit verlieren. Dafür ging diese Woche keine Rede von der großen Reform zur Abschaffung der Einkommensteuerklassen samt Ausgleichszahlungen, damit keine gutbürgerliche Hausfrauenehe mehr zahlen muss.

Die LSAP hatte im Wahlkampf eine Mindestlohnerhöhung um 100 Euro netto versprochen, wie es dann auch im Koalitionsabkommen für den 1. Januar 2019 angekündigt wurde. Um auf die 100 Euro zu kommen, rechnete sich die Regierung, entgegen früherer Versprechen der LSAP, gleich die am 1. Januar erfolgte gesetzliche Anpassung des Bruttomindestlohns an die allgemeine Lohnentwicklung um 1,1 Prozent oder 22,56 Euro an. Vor einer Woche hinterlegte Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) dann einen Gesetzentwurf, um den Bruttomindestlohn zusätzlich um 0,9 Prozent oder 18,65 Euro zu erhöhen. Um von diesen von den Unternehmen gezahlten insgesamt 41,21 Euro brutto auf die versprochenen 100 Euro netto zu kommen, sieht das Haushaltsgesetz mit Artikel 3 für Bezieher von Bruttolöhnen bis zu 2 500 Euro rückwirkend zum 1. Januar 2019 die Einführung eines neuen Steuerkredits von 70 Euro monatlich vor. Für höhere Löhne wird die Differenz zwischen 3 000 und dem Bruttolohn mit 0,14 multipliziert, so dass der sinkende Kredit ab 3 000 Euro Lohn null erreicht. Dadurch soll vermieden werden, dass jemand, der knapp mehr als den qualifizierten Mindestlohn brutto verdient, netto weniger her­ausbekommt, weil ihm der Steuerkredit vorenthalten bliebe. Bei Teilzeitarbeit wird nur der entsprechende Bruchteil der 70 Euro gewährt. Mit diesem Crédit d’impôt salaire social minimum wird eine weitere Umverteilung zwischen Kapital und Arbeit vermieden, denn die Umverteilung findet vor allem zwischen den Steuern zahlenden Lohnbeziehern statt. Der Steuerkredit wird zwar am Monatsende vom Unternehmen mit dem Lohn ausbezahlt, das Unternehmen bekommt ihn aber von seiner Steuerschuld abgerechnet oder zurückerstattet.

Als Ausgleich für die Unternehmen und die DP wartet die Regierung zudem mit der im Koali­tionsabkommen vorgesehenen weiteren Senkung der Körperschaftsteuer nicht bis zur geplanten nächsten Steuerreform, sondern nimmt sie ebenfalls rückwirkend zum 1. Januar 2019 vor. Das soll wiederum bloß ein Ausgleich für die von OECD und EU verlangte Ausweitung der Besteuerungsgrundlage sein, aber für nächstes Jahr sieht der mehrjährige Haushaltsentwurf sogar einen Rückgang der Körperschaftsteuereinnahmen um 50 Millionen Euro vor.

Damit senkt die Regierung nach Januar 2017 und Januar 2018 zum dritten Mal hintereinander den Körperschafssteuersatz, von 21 Prozent vor zwei Jahren auf nunmehr 17 Prozent. Steuerpflichtige Gewinne unter 25 000 Euro werden derzeit mit 15 Prozent besteuert, künftig sollen Gewinne bis zu 175 000 Euro mit 15 Prozent besteuert werden, was für Klein- und Mittelfirmen einer verkappten zusätzlichen Senkung des Körperschafsteuersatzes um zwei Prozentpunkte gleichkommt. Zudem sollen die gesetzlichen Bestimmungen, nach denen die Dach- und Tochterfirmen multinationaler Unternehmen ihre Zinserträge steuergünstig in Luxemburg und ihre Zinszahlungen in Hochsteuerländern verbuchen können, ebenfalls rückwirkend ab dem 1. Januar 2019 neu geschrieben werden (siehe Seite 4 dieser Ausgabe). Die Wetten laufen, ob der ordentliche Körperschaftsteuersatz am Ende der Legislaturperiode doch noch bei 15 Prozent angekommen sein wird, wie es in der 2016 von der Handelskammer verlangten und dann von der CSV versprochene „feuille de route“ stand.

Die grüne Wählerschaft soll ebenfalls nicht leer ausgehen, da im Dienst des Klimaschutzes die Akzisen auf Diesel um zwei Cent und auf Benzin um einen Cent verteuert werden. Dies stellt allerdings keine Kriegserklärung an den Tanktourismus dar, sondern Pierre Gramegna spielte das Ganze als „Symbolwirkung“ herunter (siehe Seite 10 dieser Ausgabe).

Da hat die Opposition es schwer, etwas auszusetzen zu finden, wenn sie sich nicht weiter als Spar­apostel unbeliebt machen will. Denn die Politik der Regierung wird es laut Finanzminister sein, „die nächsten fünf Jahre fortzufahren, das Wachstum finanzpolitisch zu begleiten. Gerade wenn das internationale Umfeld schwieriger wird, so wie es in den nächsten Jahren der Fall sein wird, ist es wichtig, dass der Staat die Weichen stellt, um die Unternehmen dort zu unterstützen, wo es sinnvoll ist“. Das klingt auch anders als die „Wachstumsdebatte“ genannte malthusianistische Wahlkampfhysterie von Schwarz, Grün und Braun.

Romain Hilgert
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