Wahlkampfthema Arbeitslosigkeit

Jeder Einzelne zählt - ab drei Prozent

d'Lëtzebuerger Land du 29.04.2004

Die politische Auseinandersetzung ist immer auch ein Kampf um Bilder. Das Datum der Kundgebung in Düdelingen zur Rettung des Kaltwalzwerks, wo Gewerkschafter und LSAP-Kandidaten schwer unterscheidbar in der ersten und zweiten Reihe marschierten, war deshalb nicht unschuldig gewählt. Premier Jean-Claude Juncker sollte am Dienstagabend in den Fernsehnachrichten das Monopol der politischen  Botschaft streitig gemacht bekommen. Vielleicht sollte er sogar Lügen gestraft werden: Während er sich selbst im pompösen Zierrat des Parlaments eine zufrieden stellende Lage der Nation bescheinigte, sollten die dazu gelieferten Bilder der besorgten Stahlarbeiter vor dem Düdelinger Rathaus beweisen, dass die soziale Wirklichkeit in dem mythischen  "Land draußen" ganz anders ist.

Die Hiobsbotschaften über Arbeitsplatzabbau bei der Arcelor, Villeroy [&] Boch, Cepal, Sankt Paulus Gruppe... und die Rekordarbeitslosigkeit haben laut Meinungsumfragen die Arbeitslosigkeit und ihren Hintergrund, die wirtschaftliche Lage, zu dem Wahlkampfthema gemacht. Das bestätigte nicht nur Junckers Erklärung zur Lage der Nation, die zu zwei Drittel von der Arbeitslosigkeit und Wirtschaft handelte. Auch die anschließende Parlamentsdebatte gestern und vorgestern sowie die Fernsehdebatte der Fraktionssprecher am Dienstagabend drehten sich fast nur um diese Themen.

Das Problem der Koalition ist bekanntlich, dass sie auf dem Höhepunkt eines Konjunkturzyklus ins Amt kam und gleich eine großzügige Runde Steuersenkungen und Rentenerhöhungen spendierte. Dann kam der Konjunktureinbruch, den sie zuerst ein Jahr verschlafen hatte, die Arbeitslosigkeit stieg und stieg, und zu den Wahlen ist der Tiefpunkt des Konjunkturzyklus knapp überschritten, so dass die Staatskassen ziemlich leer sind. Zwei Jahr lang beteten CSV und DP, dass der Aufschwung rechtzeitig vor den Wahlen kommt, aber sie wurden, bis auf einen ersten Lichtschimmer,  nicht erhöht: "Es geht langsamer, und wir haben Probleme" (S. 15). "Die Probleme bleiben groß. Wir sind nicht am Ende unserer Not angelangt. Wir stecken mittendrin" (S. 32).

Gemeint war vielleicht auch die politische Not der Regierung, die sich in den letzten Wochen zunehmend in die Ecke gedrückt fühlt. Deshalb fiel Junckers Erklärung zur Lage der Nation defensiv und apologetisch aus. Zukunft, wie noch vor zwei Jahren, fand darin nicht mehr statt, sie war schon letztes Jahr einem regressiven Gesellschaftsbild geopfert werden, das mangels ökonomischer Sicherheit öffentliche Sicherheit anbot.

Die Erklärung zur heutigen Lage der Nation war eine Bilanz der letzten fünf Jahre, die immer wieder auf die Feststellung hinauslief, dass alles nicht so schlimm kam, wie die vereinte Opposition von LSAP und Zentralbank behauptete. Oder zumindest, dass es ohne CSV noch viel schlimmer kommen würde, weshalb dringend der "sichere Weg" zu empfehlen sei.

In der Not werden sogar aufgeklärte Christlichsoziale, wie der Premier zweifelsfrei einer ist, wieder nationalkonservativ: Moralisierend  beschwor er das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl eines kleinen Volkes (S. 2, 3) und seiner Regierung von Zwangsrekrutiertenkindern (S. 5). Gar nicht zu reden von seinen jährlichen Oktavpredigten über Gotteszeichen wie Flugzeugunglücke und Gewaltverbrechen. In der Not werden sie auch poetisch, um zu verwischen, statt zu verdichten: Breit walzte er Essensmetaphern (S. 8), Orchestermetaphern (S. 13) und Schulmetaphern (S. 30) aus.

Beim Thema Konjunktur tröstete Juncker sich und seine Zuhörer halt, dass in den Nachbarstaaten die Wirtschaft noch langsamer wächst. Auch erinnerte er daran, dass die Volkswirtschaft 1995 nur  um 1,4 Prozent gewachsen sei (S. 16) - damals unter der Verantwortung eines LSAP-Wirtschaftsministers. Und er giftete gegen die Zentralbank, die doch nur ihre Rolle als einseitige Geldwerthüterin spielt, die ihr als Bundesbankkopie von den Staats- und Regierungschefs im Maastrichter Vertrag zuerteilt wurde.

Beim Thema Staatsfinanzen legte Juncker stolz die jüngsten Zahlen vor, laut denen der Staatshaushalt von 2003 doch noch mit einem leichten Überschuss von 76 Millionen Euro ab-schloss. Und vergaß all die kleinen Buchhaltertricks, mit denen die Regierung ihr Budget für das laufende Jahr aufstellte.

Am erstaunlichsten aber war die Verzweiflung, mit der der Premier versuchte, die Arbeitslosigkeit wegzuzaubern: Er addierte 1 563 im Monat April neu geschaffene Arbeitsplätze zu 938 offenen Arbeitsplätzen und fand, dass "die Arbeitslosigkeit letzten Monat um 1 563 plus 938 gleich 2 501 Einheiten hätte zurückgehen und auf 6 411 Leute fallen können. Das heißt auf einen Arbeitslosensatz von drei Prozent" (S. 23). Und diese drei Prozent rechnete er dann auch noch weg: "Vollbeschäftigung bleibt unser Ziel: sie liegt in einer modernen Transformationsökonomie wie unserer unter drei Prozent, nicht viel niedriger, da man die friktionelle Arbeitslosigkeit, die durch die notwendigen Anpassungsprozesse entsteht, nicht dauerhaft beseitigen kann." (S. 23)

Vom ökonomischen Sinn oder Unsinn solcher Rechnungen kann man halten, was man will. Aber sie stammen nicht aus dem Mund eines Ökonomen, sondern eines zum linken Flügel der Christlichsozialen zählenden Premiers, der bisher immer behauptete, dass jeder Arbeitslose einer zu viel sei, und der es zynisch nannte, drei Prozent Arbeitslosigkeit "Vollbeschäftigung" zu nennen. Schließlich wollte sich seine Partei unter dem Motto "jeder Einzelne zählt" von den Liberalen mit dem Versprechen unterscheiden, dass der Sozialstaat keinen zurücklässt.

Der offizielle Abschied, nicht vom ökonomischen, sondern vom politischen Ziel der Vollbeschäftigung als Nullarbeitslosigkeit ist auch das Eingeständnis des Bankrotts verschiedener Beschäftigungstripartites und nationaler Beschäftigungspläne samt Dutzender von Zuschüssen und Betreuungsmaßnahmen. Und hatte nicht der liberale Staatsminister Gaston E. Thorn während der Stahlkrise in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre allen Ernstes befürchtet, dass das Land in Aufruhr und Chaos versinken würde, falls die Arbeitslosenzahl einmal 2 500, damals nicht einmal zwei Prozent, erreichen sollte? Weshalb das erste Tripatite-Abkommen diese Zahl als Auslöser für die Ausrufung einer "crise manifeste" auf dem Arbeitsmarkt mit den entsprechenden wirtschafts- und sozialpolitischen Ausnahmemaßnahmen festgelegt hatte.

Ebenso überraschend ist eine Erklärung für die Arbeitslosigkeit: "65 Prozent aller Arbeitslosen sind Ausländer, die in Luxemburg wohnen und in Luxemburg gearbeitet haben. Die meisten Ausländer ohne Arbeit sind Portugiesen. 80 Prozent der arbeitslosen Portugiesen haben keine Qualifikation." Dass sie auch kein Wahlrecht haben, hatten alle im Parlament gehört, obwohl Juncker es nicht gesagt hatte.

Weil aber niemand weiß, wie zu verhindern ist, dass die Arbeitslosenrate langsam, aber sicher auf einen internationalen Durchschnitt steigt, handelten die Debatten über die Erklärung zur Lage der Nation vor allem von der Suche nach den Schuldigen. Nachdem in der Vergangenheit schon fast alles in dieser Hinsicht versucht worden war - von den Grenzpendlern über den "atypischen Arbeitsmarkt" bis zum Arbeitsamt - waren diese Woche zwei Theorien im Angebot: die wirtschaftliche Diversifizierung und vor allem die Schule.

CSV-Fraktionssprecher Lucien Weiler verwandte den größten Teil seiner Redezeit auf den Versuch, der LSAP vorzurechnen, dass sie das Ansteigen der Arbeitslosigkeit noch mehr verschlafen habe als die Regierung. Alle warfen sich gegenseitig Zitate an den Kopf, laut denen sie noch vor zwei Jahren fanden, dass man bei der Ansiedlung neuer Betriebe wählerisch sein und kapitalintensive statt arbeitsintensive ins Land locken sollte, um den 700 000-Einwohnerstaat zu verhindern. Das gaben Premier Jean-Claude Juncker wie LSAP-Präsident Jean Asselborn schulterzuckend zu. Aber irgendwie bestätigten sie sich auch gegenseitig in dem Eindruck, wie schon mit den Kioto-Zielen wieder einmal auf die Umweltschützer und deren Nachhaltigkeit beziehungsweise auf die eigene Panikmär vom 700 000-Einwohner-Staat hereingefallen zu sein.

Der grüne Fraktionssprecher Fran-çois Bausch fühlte sich jedenfalls nicht angesprochen. Er versicherte den um ihre Arbeitsplätze bangenden Industriearbeitern hastig sein Mitgefühl, aber seine Wählerschaft ist das ohnehin nicht. Deshalb warb er für ökologische Hightech und lobte den schwarzen Premier nach bestem Können. Zumindest die Meinungsumfragen geben CSV und Grüne als die beiden Wahlsieger vom 13. Juni aus, und solche Aussichten vereinen eben.

Noch lieber machten LSAP und Grüne aber das Bildungswesen für die Arbeitslosigkeit verantwortlich, weil die Luxemburger Arbeitsuchenden schlechter qualifiziert seien als die lothringischen. Eine Theorie, die um so angenehmer daherkommt, als sie das Fiasko der liberalen Bildungsoffensive zu bescheinigen scheint. Doch der liberale Fraktionssprecher Jean-Paul Rippinger bat um Nachsicht, weil seine Partei das Ressort nur fünf Jahre verwaltet habe und in so kurzer Zeit auch keine Wunder bewirken konnte. Womit er die Verantwortung auf den lieben Koalitionspartner CSV abschob, der seit Jahrzehnten die Bildung und Bildungsmisere verwaltet. Bei den Hennicot, Fischbach, Boden [&] Co. wird es dankend angekommen sein.

Am meisten über das derzeitige gesellschaftliche Kräfteverhältnis im Land sagt aber vielleicht aus, dass der Handelsverband in Juncker Erklärung die Visionen und Reformen vermisste, während die Gewerkschaften sich mit dem Gesagten sehr zufrieden gaben.

Romain Hilgert
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