Europäisches Semester

Das erste Mal

d'Lëtzebuerger Land du 03.02.2011

Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV) soll ziemlich schnell zugestimmt haben, als ihm die Beamten vorschlugen, er solle seine Rede zur Lage der Nation künftig schon Anfang April vortragen. Dadurch soll den kalendarischen Anforderungen des Europäischen Semesters Rechnung getragen werden, dessen Einführung Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende der Eurogruppe, vorangetrieben hat. Obwohl das erste Europäische Semester Neujahr angefangen hat, ist diese, vergangenen Freitag von Juncker angekündigte Terminänderung die bislang einzig sichtbare Folge der neuen EU-Prozedur zur Abstimmung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene. Gesetzesänderungen, heißt es aus dem Finanzministerium, werden nicht nötig sein.

Hinter den Kulissen laufen die Arbeiten bereits auf Hochtouren, denn viel Zeit bleibt nicht. Zum 1. April, also in knapp zwei Monaten, muss die Defi-zitnotifizierung für 2010 in Brüssel eingereicht werden. Und wenn Juncker am 5. April vor das Parlament tritt, soll er dort bereits die großen Leitlinien für den Haushalt 2012 vorstellen. Das soll den Abgeordneten der Parteien die Möglichkeit geben, sich während der anschließenden Debatten zur geplanten Haushaltspolitik zu äußern, bevor die Regierung Ende April der EU-Kommission sowohl ihr Stabilitätsprogramm (SP) als auch eine definitive Fassung des nationalen Reformprogramms (NRP) vorlegen1 muss. Darin wird die Umsetzung der EU2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum (d’Land, 12.03.2010) auf nationaler Ebene dokumentiert. Spätestens im Juli schickt der EU-Finanzministerrat die von der EU-Kommission vorbereiteten Empfehlungen zurück, die dann im Haushaltsentwurf 2012 berücksichtigt werden sollen. Der wird, wie gewohnt, Anfang Oktober im Parlament hinterlegt, wenn die normale Haushaltsprozedur ihren Lauf nimmt.

Das Prozedere, so sieht man es im Finanzministerium, habe große Vorteile. Auch jetzt schon legten die Mitgliedstaaten zwar regelmäßig ihre Stabilitätsprogramme in Brüssel vor und erhielten Empfehlungen vom Finanzministerkollektiv. Doch weil beispielsweise im Herbst 2008 das Programm für die Periode 2008 bis 2011 vorgelegt wurde, als der Haushalt für 2009 schon beschlossene Sache war, konnten im Brüsseler Gutachten gemachte Vorgaben frühestens im Haushalt 2010 umgesetzt werden, also ein Jahr später. Das im kommenden April einzureichende Programm wird hingegen vorausschauend sein und im Hinblick auf 2012 aufgestellt. Und eventuelle Empfehlungen, die der Finanzministerrat diesbezüglich macht, könnten bereits im Haushalt 2012, also ohne Verzögerung, berücksichtigt werden.

Diese Beschleunigung sehen noch lange nicht alle positiv. Gewerkschaften und Arbeitnehmerkammer (CSL) stehen der Verschärfung des Stabilitätspakts und der Einführung des Europäischen Semesters von Anfang an kritisch gegenüber (d’Land 12.11.2010). Sie meinen, die Aufstellung des Stabilitätsprogramms sei ein undemokratischer Prozess, in den weder die gewählten Vertreter des Volkes, noch die Sozialpartner Einblick hätten. Ein Defizit, das durch das Europäische Semester verschärft würde. „Wir haben den Hauhaltsminister angeschrieben, um uns zu erkundigen, wie das Parlament und die Berufskammern in diesen Prozess eingebunden werden sollen“, sagt Sylvain Hoffmann, CSL. Die Antwort steht bislang aus. Die Vorverlegung der Rede zur Lage der Nation als einzige Änderung, hält die CSL nicht für ausreichend. Zwar könnte sich dann das Parlament zu den Vorhaben der Regierung äußern, bevor das Programm nach Brüssel geschickt wird, die Berufskammern hingegen nicht. Die müssten bis zum Herbst warten, um den fertigen Haushaltsentwurf zu begutachten.

Und auch im Parlament gibt es ­Skeptiker. Der Budget-Rapporteur für den Haushalt 2011, Alex Bodry (LSAP), findet, die Abgeordneten sollten frühstmöglich informiert werden. „Wenn wir am 5. April zum ersten Mal aus den Worten des Staatsministers erfahren, was die Regierung plant, können wir nicht schon tagsdarauf, wenn die Debatten beginnen, Stellung beziehen. Wir müssen die Daten schon ein paar Wochen vorher haben, sonst halten doch wieder nur die Fraktionsvorsitzenden ihre klassischen Reden“, sagt er.

Doch auch was den Inhalt der Programme betrifft, gehen die Meinungen darüber, ob das Europäische Semester mehr Vor- als Nachteile bringt, auseinander. Im Finanzministerium, wie bei dem fürs NRP zuständige Statistikamt Statec, findet man positiv, dass Abgabe und Bewertung der Stabilitäts- und der Nationalen Reformprogramme terminlich zusammengelegt werden. Aus deren Aufstellung versuchen Ministerium und Statec, einen einzigen integrierten Prozess zu machen. Das heißt, die Ministerien sollen sich ihre Ziele im Rahmen der EU2020-Strategie setzen, die dorthin führenden Maßnahmen festlegen und ausrechnen, was sie dafür an Budget brauchen. So werden NRP und SP miteinander verzahnt und die Kohärenz zwischen beiden werde gesteigert, erklären die Zuständigen. „Man kann nicht mehr einfach festlegen, ‚ich investiere so viel in Forschung und Entwicklung‘“, sagt Statec-Direktor Serge Allegrezza. Nicht ohne zu sagen, wofür genau und ohne zu zeigen, wohin das führt. Auch nicht, ohne dass die verschiedenen Reformziele der Ministerien und die Umsetzungskosten, deren Auswirkung auf die Staatsfinanzen insgesamt abgewogen werden. Nicht alle Ziele könnten unbedingt gleichzeitig verfolgt werden, heißt es aus dem Finanzministerium. „Das wird viel anspruchsvoller als vorher, und der Druck, seriös an die Sache heranzugehen, ist enorm“, ergänzt Allegrezza.

Dass die Reformpläne grundsätzlich den Haushaltszwängen untergeordnet werden, sieht Hoffmann von der CSL mehr als skeptisch. Ebenso wie die Tauglichkeit des Zahlenmaterials, mit dem zur Aufstellung der Programme hantiert wird. „Stellen Sie sich nur einmal vor, vergangenen Frühling wären auf Basis des damaligen Informationsstandes über die Einnahmen Vorgaben für den Haushalt 2011 gemacht worden.“ Beim Finanzministerium wird beschwichtigt. Anfang April sei jeweils das vergangene Jahr abgeschlossen, und eine gute Einschätzung der Entwicklung der Einnahmen im laufenden Jahr bereits möglich. Das Statec, so Allegrezza, arbeite an einer Reihe neuer Instrumente, die eine möglichst genaue Simulation der Auswirkungen von Strukturreformen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ermöglichen sollen.

Dabei ist die Tauglichkeit beziehungsweise Untauglichkeit des Datenmaterials noch fast der harmloseste der strittigen inhaltlichen Aspekte. „Unter Anleitung des Europäischen Rates sollen die Mitgliedstaaten bis Mitte April im Rahmen ihrer Stabilitäts- und Konvergenzprogramme ihre mittelfristige Haushaltsstrategie verbindlich darlegen(...)“, heißt es im ersten Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission. Spätestens bis Ende April also muss sich die CSV-LSAP-Regierung outen, ob es 2012 weitergeht mit der Austeritätspoli-tik.Bleibt es beim mittelfristigen Haushaltsziel von 0,5 BIP-Prozent Überschuss? Wie bis zum April ein durchführbares Programm mit Strukturreformen aufgestellt werden soll, ist außerdem fraglich. Die werden in Luxemburg eigentlich von der Regierung und den Sozialpartnern zusammen ausgearbeitet. Doch wann sich wieder eine Tripartite zusammenfindet, bleibt anzuwarten, und der Wirtschafts- und Sozialausschuss ist nach wie vor en panne. Dabei klärt das Index-Abkommen vom Herbst 2010 nicht, ob gegebenenfalls 2012 eine Indextranche ausgezahlt wird. Das ist problematisch, weil bei der Erstellung des Stabilitätsprogrammes, allerspätestens aber für den Haushaltsentwurf 2012, Prognosen über die Entwicklung der Inflation und der öffentlichen Gehälter gemacht werden müssen. Da wäre es nützlich zu wissen, wie es 2012 um den Index steht.

Hinzu kommt: Zur Aufstellung des NRP müssen sich die Mitgliedstaaten auf die Prioritätenliste stützen, welche die Kommission in dem im Januar vorgestellten Jahreswachstumsbericht vorgibt. In dem Dokument, das erst noch die EU-Finanzminister und dann die Staats- und Regierungschefs beim Frühlingsgipfel in März absegnen müssen, schreibt die EU-Kommission unter anderem die Reform des Rentensystems und die Anpassung der Arbeitszeit an die Lebenserwartung vor. „Damit mischt sich die Kommission in Bereiche ein, in der sie keine Kompetenz hat. Das ist Sache der Mitgliedstaaten“, kritisiert Alex Bodry. Dass die EU-Finanzminister Luxemburg im Juli empfehlen, sein Rentensystem zu reformieren, ist ­ohnehin sehr wahrscheinlich, da die unzureichende langfristige finanzielle Absicherung des Pensionssystems in der Vergangenheit wiederholt kritisiert wurde. Sehr unwahrscheinlich ist es hingegen, dass besagte Pensionsreform ohne Verzögerung für ein Inkrafttreten im Haushaltsjahr 2012, also noch vor den Gemeindewahlen im diesen Herbst, vorbereitet wird. „Diese Empfehlungen wurden in der Vergangenheit, nie beachtet“, sagt Bodry. Wird das jetzt anders? „Durch die wiederholte Auswertung der Programme und der Haushalte entsteht ein gewisser Druck“, meint Allegrezza. „Keine Regierung will sich auf Dauer vorhalten lassen, sie würde nichts unternehmen.“

Noch spannender dürfte es werden, sollte sich die deutsche Regierung mit ihren Vorschlägen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone durchsetzen. Agenturberichten zufolge würde Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Gipfel in Brüssel am heutigen Freitag eigene Vorschläge zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone vorlegen. Darin fordert sie die Abschaffung von Lohnindexierungssystemen als Teil der gemeinsamen Antikrisenmaßnahmen. Da droht dem Vorsitzenden der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, der gegen Wettbewerbsverluste- und -diskrepanzen in der Eurozone kämpft, bald ein ernsthaftes Gespräch mit dem Staatsminister Jean-Claude Juncker, der versprochen hat, den Index nicht abzuschaffen.

1 Eine vorläufige Fassung liegt seit vergangenem Herbst vor.
Michèle Sinner
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